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Bedarfsorientierte Mittelzuweisung?: Eine qualitative Studie zum Umgang mit sozialer Ungleichheit in der Grundschule
Bedarfsorientierte Mittelzuweisung?: Eine qualitative Studie zum Umgang mit sozialer Ungleichheit in der Grundschule
Bedarfsorientierte Mittelzuweisung?: Eine qualitative Studie zum Umgang mit sozialer Ungleichheit in der Grundschule
Ebook502 pages5 hours

Bedarfsorientierte Mittelzuweisung?: Eine qualitative Studie zum Umgang mit sozialer Ungleichheit in der Grundschule

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Die Studie beschäftigt sich mit der bildungspolitischen Strategie der bedarfsorientierten Mittelzuweisung in der Grundschule und im Besonderen mit der Frage, wie Grundschulleitungen diese in ihrer eigenen Schule erfahren und mit ihr umgehen. Hierfür werden sowohl die Ressourcenzuweisungsverfahren der einzelnen Bundesländer mithilfe einer qualitativen Dokumentenanalyse untersucht als auch der innerschulische Umgang mit den Ressourcen anhand von Expert*inneninterviews mit Grundschulleitungen rekonstruiert. Auf diese Weise werden unterschiedliche Dimensionen und Typen von Schulleitungshandeln in der Auseinandersetzung mit Ressourcen herausgearbeitet und zugleich auf Grenzen von (bildungspolitischer) Steuerung verwiesen.


LanguageDeutsch
PublisherSpringer VS
Release dateApr 19, 2021
ISBN9783658325060
Bedarfsorientierte Mittelzuweisung?: Eine qualitative Studie zum Umgang mit sozialer Ungleichheit in der Grundschule

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    Bedarfsorientierte Mittelzuweisung? - Caroline Gröschner

    © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021

    C. GröschnerBedarfsorientierte Mittelzuweisung?Schule und Gesellschaft64https://doi.org/10.1007/978-3-658-32506-0_1

    1. Einleitung

    Caroline Gröschner¹  

    (1)

    Braunschweig, Deutschland

    Caroline Gröschner

    Email: c.groeschner@tu-bs.de

    Der Begriff „PISA-Schock wurde 2006 in den Duden aufgenommen und wie folgt definiert: „[A]llgemeine Bestürzung nach dem schlechten Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler bei der PISA-Studie (Dudenredaktion, PISA-Schock).

    Dieses Beispiel steht stellvertretend für die öffentlichen (Aus-)Wirkungen von (internationalen) Vergleichsstudien im Schulsystem, insbesondere der PISA¹-Studie. Aber nicht nur im öffentlichen, sondern auch im wissenschaftlichen und vor allem im bildungspolitischen Diskurs zeigt diese Studie ihre Wirkung(en) und ruft Handlungsdruck hervor: Als unmittelbare Reaktion auf die ersten Ergebnisse im Jahr 2001 stellte die Kultusministerkonferenz (KMK) öffentlich Maßnahmen vor, die die „aufgedeckten" Mängel des deutschen Schulsystems verringern soll(t)en (vgl. Kultusministerkonferenz 2001).

    Mit diesen Maßnahmen ist unter anderem die Hoffnung verbunden, soziale Ungleichheit in Bezug auf Bildungschancen reduzieren zu können. Ein Weg, um dies zu erreichen, ist die Etablierung einer Strategie und somit eines Steuerungsmoments in Form einer „bedarfsgerechten" bzw. bedarfsorientierten Ressourcenzuweisung, welche die jeweiligen Bedingungen und Bedürfnisse der Einzelschule stärker als zuvor berücksichtigen soll (vgl. dazu beispielsweise Aktionsrat Bildung 2011, S. 200; Bos, Pietsch, Gröhlich und Janke 2006, S. 149).

    So ist es etwa in Hamburg erklärtes Ziel, mithilfe einer solchen Zuweisung „Verteilungsgerechtigkeit bei der Vergabe und Zuweisung der schulischen Ressourcen zu erlangen. Der spezifische Bedarf der Einzelschule wird dort auf Grundlage der jeweiligen Schüler*innenschaft ermittelt. Aus der Herkunft der Schülerinnen und Schüler resultiert dabei die „soziale Belastung der einzelnen Schule (vgl. Freie und Hansestadt Hamburg).

    Eine weitere Hoffnung, die mit Reformen im Schulsystem einhergeht, ist der Glaube an ein „leistungsfähigeres" System:

    Von Bildungseinrichtungen wird eine erweiterte Eigenverantwortlichkeit gefordert; damit geht eine Rechenschaftspflicht und der Abbau von Systemen der externen Evaluation (Monitoring und Inspektion) einher. Soll Autonomisierung die Leistungsfähigkeit von Bildungseinrichtungen erhöhen, so wird von Evaluation erwartet, dass sie „Steuerungswissen" erzeugt, das bisherige Beeinflussung (Steuerung) in rationale Beeinflussung transformiert – und gleichzeitig den politischen Legitimationsbedarf durch den Nachweis bedient, ein leistungsfähiges Bildungssystem organisieren, bewahren und sogar ausbauen zu können (Kussau und Brüsemeister 2007, S. 17, Hervorheb. im Original).

    Aus der durch Reformen gesteigerten Schulautonomie folgt ebenso, dass den einzelnen Schulen und damit vor allem den Schulleitungen eine entscheidende Rolle und auch Verantwortung bezüglich der Hoffnungen auf ein leistungsfähigeres Bildungssystem zugesprochen wird: Sie sind für den Erfolg der eigenen Schule verantwortlich und werden dadurch auch „haftbar" für ausbleibende Resultate gemacht.

    Welche Schülerinnen und Schüler bei der Ressourcenzuweisung als zusätzlich förderbedürftig und als sozial benachteiligend angesehen werden, welche Handlungsspielräume sich für die einzelnen Schulleitungen aus den jeweiligen Zuweisungspraxen ergeben und vor allem wie die Schulleitungen mit diesem Handlungsspielraum im Rahmen des innerschulischen Umgangs mit ihren Ressourcen verfahren, waren bisher keine Gegenstände von empirischen Untersuchungen (vgl. dazu beispielsweise Nikolai und Helbig 2013, S. 397; Weishaupt 2016, S. 22). An diese Desiderate wird mit der vorliegenden Arbeit angeknüpft, indem die Ebene der bildungspolitischen und der einzelschulischen Verwaltung sowohl differenziert als auch in ihrer Verbindung zueinander betrachtet werden.

    Wie die einzelnen Bundesländer im Rahmen ihrer Zuweisung von Ressourcen (vor allem in Form von Lehrer*innenwochenstunden) versuchen, sozialer Ungleichheit in Bezug auf Bildungschancen entgegenzuwirken, und welche Handlungsspielräume sich durch die Vergabesysteme für die Schulleitungen ergeben, wird in der ersten empirischen Untersuchung im Rahmen dieser Arbeit mithilfe einer Dokumentenanalyse der bildungspolitischen Richtlinien aufgezeigt. Daran anschließend widmet sich der zweite Teil der empirischen Analyse unter Zuhilfenahme von Expert*inneninterviews den Fragen, wie Grundschulleitungen den eigenen Handlungsspielraum im Umgang mit den Ressourcen wahrnehmen und ihren Möglichkeitsraum (vgl. Hummrich, Hebenstreit und Hinrichsen 2017) ausgestalten.

    Die Fokussierung auf Grundschulleitungen begründet sich aus einer ersten Dokumentenanalyse, die alle Schulformen berücksichtigte. Im Rahmen dieser Analyse wurde sichtbar, dass vor allem Grundschulen zusätzliche Ressourcen aufgrund ihrer Schülerinnen und Schüler erhalten. Darüber hinaus ist die Schüler*innenschaft der Grundschule „leistungsheterogener" als die der Sekundarschulen, da noch keine schulformspezifische Selektion erfolgte (vgl. dazu beispielsweise Baumert und Schümer 2001; Bourdieu 2001a; Tillmann 2017), was sich wiederum in der Ressourcenzuweisung widerspiegelt.

    Im Mittelpunkt der Dokumentenanalyse stehen die Zuweisungsverfahren der einzelnen Bundesländer, innerhalb derer die jeweiligen Erlasse und Vorgaben, die die Zuweisung von Ressourcen für die einzelnen Schulen regeln, in den analytischen Blick genommen werden.² Nach einem Überblick über die jeweiligen Zuweisungsverfahren und die sich daraus ergebenden Handlungsspielräume für die Schulleitungen, wurden basierend auf den Ergebnissen der Dokumentenanalyse drei Bundesländer (Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt) aufgrund ihres Zuweisungsverfahrens für die anknüpfende Interviewstudie ausgewählt. Die Zuweisungspraxen in diesen drei Ländern sind jeweils unterschiedlich, weshalb dem Versuch der Reduktion von sozialer Ungleichheit auf differente Weise begegnet wird. Um mehr über die konkrete Ausgestaltung der Ressourcen in der Einzelschule zu erfahren, wurden in diesen Ländern Expert*inneninterviews mit Grundschulleitungen geführt.

    Die Auswahl der einzelnen Grundschulen begründet sich wiederum durch die Schüler*innenschaft: So wurden Schulen ausgewählt, die aufgrund ihrer Schülerinnen und Schüler gemäß der Zuweisungsverfahren über die Grundzuweisung hinausgehende Ressourcen erhalten (müssten).

    Mit Schulleitung wird innerhalb dieser Arbeit die Schulleiterin bzw. der Schulleiter oder in Einzelfällen auch ihre/seine Stellvertretung verbunden.

    Im Fokus der Interviewstudie mit Grundschulleitungen stehen die Wahrnehmung und Ausgestaltung des eigenen Handlungsspielraums im Umgang mit den Ressourcen. Die zugrunde liegende Forschungsfrage lautet dabei: Wie nehmen die Grundschulleitungen ihren eigenen Handlungsspielraum im Rahmen des innerschulischen Umgangs mit Ressourcen wahr und auf welche Weise gestalten sie diesen aus?

    Die vorliegende Arbeit ist thematisch in der Educational-Governance-Forschung zu verorten, da sie den Umgang mit und die (Re-)Produktion von sozialer Ungleichheit bei der Zuweisung bzw. dem Einsatz von Ressourcen auf bildungspolitscher sowie schulischer Ebene fokussiert und dadurch unterschiedliche (schulische) Akteurinnen und Akteure in den untersuchenden Blickpunkt rückt. Sie knüpft dabei an die Frage nach der spezifischen „Rekontextualisierung (Fend 2008, S. 27) oder „Kopplung (Rolff 2009, S. 262 f.) von offiziellen bzw. bildungspolitischen Programmen auf Einzelschulebene an und zeigt damit auch Grenzen von Steuerung sowie die Bedeutung der einzelnen schulischen Akteurinnen und Akteure, insbesondere der Schulleitungen, auf.

    Den aktuellen Forschungsstand zu den Themengebieten „soziale Herkunft und Bildungschancen, „Steuerung im Bildungssystem sowie „Schulleitung und Schulleitungshandeln" beinhaltet das zweite Kapitel, welches ebenso die theoretische Verortung dieser Arbeit darstellt. Im Rahmen dieses Kapitels wird weiterhin auf die bildungspolitischen Entwicklungen seit den ersten Ergebnissen der PISA-Studie eingegangen. Auch die (veränderten) politischen Erwartungen an Schulleitungen und damit einhergehend die Schulleitungsaufgaben werden in diesem Rahmen diskutiert. Abschließend werden Forschungsdesiderate, an denen diese Arbeit anknüpfen soll, aufgezeigt und die Forschungsfragen sowie das empirische Vorgehen abgeleitet.

    Das dritte Kapitel stellt das Vorgehen und die Ergebnisse der Dokumentenanalyse der Zuweisungsverfahren der einzelnen Bundesländer dar. Dazu wurden die Erlasse und Vorgaben mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2002; 2010) analysiert. In einem ersten Schritt wurden dabei unter Anwendung der induktiven Kategorienbildung diejenigen Aspekte herausgearbeitet, die bei der Vergabe der Ressourcenzuweisung benannt und mit zusätzlichen Ressourcen bedacht werden. Im zweiten Schritt wurden diese Aspekte bzw. Textstellen mithilfe der strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse drei unterschiedlichen Kategorien, die sich auf die Präzision und Transparenz der Formulierungen beziehen, zugeordnet. Auf diese Weise konnten zum einen Schülerinnen und Schüler, die aus der Perspektive der Bildungsverwaltung als (zusätzlich) förderbedürftig angesehen werden, identifiziert und zum anderen mithilfe der jeweiligen Formulierung der Handlungsspielraum für die einzelne Schulleitung herausgearbeitet werden.

    Der Dokumentenanalyse schließt sich die Interviewstudie an: Dazu wird im vierten Kapitel das methodische Vorgehen, welches sich am integrativen Basisverfahren nach Kruse (2015) orientiert, erläutert sowie methodologisch eingeordnet. In diesem Rahmen wird auch der eigene methodische Umgang mit dem vorliegenden Material aufgezeigt und diskutiert.

    Das fünfte Kapitel beinhaltet die Ergebnisdarstellung und -diskussion der Interviewanalyse. Dabei wird zunächst ein Überblick über diejenigen Aspekte gegeben, die für die Wahrnehmung des eigenen Handlungsspielraums sowie den innerschulischen Umgang mit Ressourcen entscheidend sind und aus dem Interviewmaterial entwickelt wurden. Anschließend werden minimal und maximal kontrastierende Fälle dargestellt und zueinander in Beziehung gesetzt. Den Abschluss der Ergebnispräsentation bilden eine Fallkontrastierung sowie Typenbildung und damit die Ablösung vom Einzelfall. Auf diese Weise lassen sich die zentralen Motive und Thematisierungsregeln für den kontextspezifischen Umgang mit den Ressourcen aufzeigen.

    Eine Diskussion der Ergebnisse sowie der Rolle der Schulleitung in Bezug auf schulische Ressourcen runden das fünfte Kapitel ab.

    Die Rückbindung der empirischen Ergebnisse dieser Arbeit an andere Studien, das Aufzeigen von Anschlussmöglichkeiten zukünftiger Forschungsvorhaben und -desiderate sowie eine Diskussion der vorliegenden Ergebnisse in Bezug auf die bildungspolitische Hoffnung der Reduktion des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Bildungserfolg mithilfe von Ressourcensteuerung erfolgen im letzten Kapitel.

    Fußnoten

    1

    Programme for International Student Assessment.

    2

    Für alle Bundesländer – mit Ausnahme von Hessen – liegen Dokumente, die die Ressourcenzuweisungen regeln, vor.

    © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021

    C. GröschnerBedarfsorientierte Mittelzuweisung?Schule und Gesellschaft64https://doi.org/10.1007/978-3-658-32506-0_2

    2. Theoretische Verortung und Grundannahmen

    Caroline Gröschner¹  

    (1)

    Braunschweig, Deutschland

    Caroline Gröschner

    Email: c.groeschner@tu-bs.de

    Soziale Ungleichheit im Bildungssystem und ihre Folgen für den Bildungserfolg sind ein viel diskutiertes Thema, nicht nur im wissenschaftlichen Diskurs, sondern auch in der (Bildungs-)Politik und Öffentlichkeit. Bereits Picht (1965) und Dahrendorf (1968) griffen diese Thematik in den 1960er Jahren auf und machten darauf aufmerksam, wie soziale Ungleichheit im deutschen Bildungssystem (re-)produziert wird. Die Kunstfigur des „katholischen Arbeitermädchen vom Lande (vgl. z. B. Peisert 1967; Dahrendorf 1968) wurde inzwischen jedoch vom „Migrantensohn aus bildungsschwachen Familien (Geißler 2005, S. 95) abgelöst. Wenzel (2010) weist zudem darauf hin, dass auch regionale Ungleichheiten weiterhin bestehen (vgl. ebd., S. 63 f.).

    Vor allem die PISA-Studie 2000 hat dieses Phänomen (wieder) ins Gedächtnis der breiten Öffentlichkeit gerufen (vgl. Tillmann, Dedering, Kneuper, Kuhlmann und Nessel 2008, S. 11 ff.). So zeigen die Ergebnisse von 2000, neben den beispielsweise im internationalen Vergleich unter dem OECD-Mittelwert liegenden Leseleistungen deutscher Schülerinnen und Schüler (vgl. Artel, Stanat, Schneider und Schiefele 2001, S. 106 f.) sowohl eine Benachteiligung der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund (vgl. Baumert, Artel, Klieme, Neubrand, Prenzel, Schiefele, Schneider, Tillmann und Weiß 2002, S. 56 ff.) als auch, dass im internationalen Vergleich in Deutschland die erreichten Leseleistungen am stärksten durch die soziale Herkunft der Schülerinnen und Schüler bedingt werden (vgl. Baumert und Schümer 2001, S. 381 ff.). Auch 2015 erreichten Schülerinnen und Schüler ohne Migrationshintergrund höhere Kompetenzwerte als Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund (vgl. Rauch, Mang, Härtig und Haag 2016, S. 332 ff.). Die Stärke des Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft und erreichten (naturwissenschaftlichen) Leistungen konnte zwar reduziert werden, fällt jedoch im internationalen Vergleich noch immer mit am höchsten aus (vgl. Müller und Ehmke 2016, S. 298 ff.).

    Dies wirkt sich auch auf den Besuch der weiterführenden Schulform aus: Mehr als 50 Prozent der Kinder aus der „oberen Dienstklasse"¹ besuchen ein Gymnasium und sind an diesem folglich überrepräsentiert. Dem gegenüber besuchen Kinder von „un- und angelernten Arbeitern" (nur) zu 20 Prozent ein Gymnasium und sind an anderen weiterführenden Schulformen unverhältnismäßig stark vertreten (vgl. ebd., S. 307).

    Die (Bildungs-)Politik reagierte auf diese Ergebnisse, indem sie im Anschluss an die Veröffentlichung der ersten PISA-Ergebnisse unter anderem einen Maßnahmenkatalog präsentierte, mit dessen Hilfe diesen Defiziten entgegengesteuert werden soll(te) (vgl. Kultusministerkonferenz 2002). Dass jedoch nicht erst die Ergebnisse der Vergleichsarbeiten Maßnahmen und Handlungen seitens der (Bildungs-)Politik hervorgerufen haben, sondern zum Beispiel unterschiedliche „Steuerungsreformen" im Schul- und Bildungssystem schon zuvor zu rekonstruieren sind, machten unter anderem Tillmann et al. (2008) deutlich.

    Mit Umstrukturierungen im Bildungssystem sind auch ein verändertes Bild der Institution Schule sowie der Position Schulleitung verbunden: Letztere entwickelte sich, wie beispielsweise die Rollenbeschreibung des Landes Nordrhein-Westfalens aufzeigt, vom „Primus inter Pares zur „Managerin oder „Führungskraft" der Einzelschule (vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2008, S. 3).

    Die (Re-)Produktion von sozialer Ungleichheit im Schulsystem sowie (bildungs-)politische Maßnahmen, die versuchen dieser entgegenzuwirken und die „Qualität von Schule „zu verbessern, werden innerhalb dieses Kapitels verhandelt. Dabei werden zunächst unterschiedliche Merkmale und Faktoren, die soziale Ungleichheit im Schulsystem (re-)produzieren, diskutiert. Auf welche Art und Weise das Schulsystem auf diese Faktoren reagiert und welche (bildungspolitische) Entwicklung sich in Bezug auf die Rolle der Schulleitung sowie des Autonomiegrades der Einzelschule vollzogen hat, wird anschließend dargestellt. Abgerundet werden diese Ausführungen durch ein Zwischenfazit, welches die Thematik dieser Forschungsarbeit noch einmal zusammenfasst und das sich daraus entwickelnde Forschungsvorhaben skizziert.

    2.1 Soziale Ungleichheit im Schulsystem

    Neben Vergleichsstudien, wie TIMSS², IGLU³ und PISA, die vor allem die schulischen Leistungen und Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern messen, zeigen andere Studien auch die Rolle der Lehrkräfte sowie der Institution Schule im Kontext der (Re-)Produktion von sozialer Ungleichheit auf (vgl. dazu beispielsweise Ditton 2010, 2017; Gomolla und Radtke 2009; Hollstein 2008; Schumacher 2002).

    Dass sich die Bildungsbeteiligung und die Schüler*innenschaft verändert haben bzw. weiterhin verändern, lässt sich anhand unterschiedlicher Studien und Schüler*innenmerkmale aufzeigen. So ist die Bildungsbeteiligung an Gymnasien etwa zwischen 2000 und 2012 von 28 Prozent auf 37 Prozent angestiegen. Mit diesem Anstieg ist gleichzeitig auch ein Rückgang von Hauptschülerinnen und -schülern verbunden (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016, S. 77 f.). Zudem ist in einigen Ländern die Hauptschule als eigene Schulform aufgehoben (vgl. ebd., S. 73) und der Ausbau von integrierten Schulformen vorangetrieben worden (vgl. ebd., S. 78 f.). Darüber hinaus zeigt ein Vergleich der Ergebnisse der PISA-Studien 2000 und 2015, dass der Anteil an 15-jährigen Schülerinnen und Schülern aus Familen von „un- und angelernten Arbeitern, Landarbeitern (11 % im Jahr 2000 und 20,1 % im Jahr 2015) sowie von „Facharbeitern und Arbeitern mit Leitungsfunktion (15,6 % im Jahr 2000 und 24,4 % im Jahr 2015) an Gymnasien signifikant gestiegen ist (vgl. Müller und Ehmke 2016, S. 307). Ein Blick auf die Zusammensetzung der Gesamtschüler*innenschaft zeigt weiterhin, dass der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungshintergrund in Deutschland insgesamt von 20 Prozent (2006) auf 28 Prozent (2015) signifikant angestiegen ist (vgl. Rauch et al. 2016, S. 333). Damit einher geht auch der Anstieg dieser Schüler*innenschaft bezüglich eines gymnasialen Schulbesuchs: Lag der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit „Migrations-" bzw. „Zuwanderungshintergrund⁴" im Jahr 2000 noch bei 20 Prozent (vgl. Baumert und Schümer 2002, S. 195), stagniert dieser seit 2006 bei knapp 27 Prozent (vgl. Rauch et al. 2016, S. 336).

    Eine Veränderung der Schüler*innenschaft an den allgemeinbildenden Schulen zeigt ebenfalls der Blick auf die Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf: Betrug der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die einen solchen Förderbedarf aufweisen und nicht in Förderschulen, sondern an sonstigen allgemeinbildenden Schulen unterrichtet werden, im Schuljahr 2013/2014 knapp 2 Prozent, stieg dieser ein Schuljahr später auf 2,5 Prozent. Anzumerken ist diesbezüglich, dass sich auch ihr Anteil an der Gesamtschüler*innenzahl von 6,6 Prozent (Schuljahr 2013/2014) auf 7 Prozent (Schuljahr 2014/2015) erhöhte und innerhalb der einzelnen Bundesländer erheblich variiert (zwischen 5,6 % in Rheinland-Pfalz und 10,6 % in Mecklenburg-Vorpommern) ebenso wie ihre Beschulung in sonstigen allgemeinbildenden Schulen (zwischen 1,3 % in Hessen und 5 % Bremen) (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016, S. 80 f.).

    Mit einer unterschiedlichen (sozialen Zusammensetzung der) Schüler*innenschaft sind auch verschiedene (pädagogische) Voraussetzungen von Schule verbunden: Den Umstand, dass Schulen unterschiedliche Rahmenbedingungen haben, die Einfluss auf die schulische und pädagogische Arbeit nehmen, konnte nicht nur für die weiterführenden Schulen (vgl. Sälzer, Prenzel, Schiepe-Tiska und Hammann 2016), sondern anhand der IGLU- und TIMMS-Daten auch für die Grundschulen aufgezeigt werden. So weisen segregierte Grundschulen⁵ im Vergleich zu Grundschulen mit einem geringeren Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund deutliche Unterschiede im Schulalltag auf. Die Analysen zeigen in Bezug auf die Aspekte „Engagement der Eltern, „Lehrer*innenhandeln, „Ganztagsangebot sowie „materielle Ausstattung, dass die Lernmöglichkeiten und Entwicklungschancen der Schülerinnen und Schüler an segregierten Grundschulen eingeschränkt(er) sind. Darüber hinaus sind nur wenige dieser Grundschulen mit dem Unterrichtsmaterial ausgestattet, das sie zur Bewältigung ihres Schulalltages benötigen. Zwar weisen auch nicht segregierte Grundschulen ähnliche Mängel auf, jedoch ist die Anzahl der betroffenen Schulen geringer (vgl. Morris-Lange, Wendt und Wohlfarth 2013, S. 7 f.). Segregierte Grundschulen müssen sich demnach mit anderen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für die Gestaltung ihres Schulalltages arrangieren als Schulen mit einem geringeren Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund. Dass jedoch nicht nur die Schüler*innenschaft unterschiedlich ist bzw. zwischen den Einzugsgebieten differiert, sondern damit auch die Einstellungen der Lehrkräfte sowie das pädagogische Selbstverständnis verbunden sind, zeigten bereits Peukert und von Prondczynsky (1983) auf. Sie verweisen im Rahmen einer Begleitstudie darauf, dass mit der Implementierung einer (pädagogischen) Innovation „einsetzende Konstitutionsprozesse des Zusammenspiels von Schülerkultur, Schulkultur und pädagogischen Orientierungen der Lehrer in die Analyse sozialräumlicher Bedingungen einzubeziehen" (ebd., S. 223) sind.

    Mit der sozialräumlichen Lage einer Schule gehen also nicht nur Unterschiede in Bezug auf die Schüler*innenschaft einher, sondern auch differierende Einstellungen der Lehrkräfte und pädagogische (Leit-)Vorstellungen.

    2.1.1 Soziale Ungleichheit

    Die Unterschiedlichkeit von Kindern in (Lern-)Gruppen und damit einhergehend soziale Ungleichheit in Bezug auf Bildungschancen ist keine Thematik, die erst seit jüngster Zeit den erziehungswissenschaftlichen Diskurs beschäftigt. So setzte sich Trapp bereits 1780 mit Fragen auseinander, „wie der rohe Geist der Jugend am besten bearbeitet werden kann, „welches die natürliche Folge der Ideen, Kenntnisse und Beschäftigungen ist und auf welche Weise am besten „vom Leichteren zum Schwereren (Trapp 1913/1780, S. 10) fortgegangen wird. Mit diesen Fragen ist auch die zentrale Fragestellung der Erziehung, „wie hast du dies alles anzufangen bei einem Haufen Kinder, deren Anlagen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Bestimmungen verschieden sind, die aber doch in einer und eben derselben Stunde von dir erzogen werden sollen? (ebd., S. 10), verbunden.

    Auch Tillmann (2017) macht anhand der folgenden Aussage deutlich, dass das Thema bzw. die Thematisierung von Heterogenität kein ausschließlich aktuelles Phänomen ist:

    Um 1920 hatte das deutsche Schulsystem eine Vielzahl von Maßnahmen ausgebildet, die alle an der Zielvorstellung einer homogenen Lerngruppe orientiert waren. Dabei wurden Formen der sozialen Selektion mit Maßnahmen zum Ausschluss der jeweils Leistungsschwächeren verknüpft. Produziert wurden auf diese Weise bei vielen Heranwachsenden Erfahrungen des Versagens, des Nichtkönnens, des Ausgeschlossen-Werdens. Für unsere Analyse ist es bedeutsam, dass sich diese institutionelle Struktur bis hinein in das 21. Jahrhundert gehalten hat. […] Die alltäglichen Selektionsmechanismen unserer Schule sind auch im 21. Jahrhundert darauf ausgerichtet, eine fiktive Leistungshomogenität herzustellen oder zu verteidigen (ebd., S. 73 f.).

    Bestrebungen, die „Homogenität einer Lerngruppe zu erreichen und zu bewahren sind somit auch heute noch mithilfe von Selektionsmechanismen vorhanden. Dies auch, obwohl es seit den 1960er Jahren, so Tillmann in Anlehnung an Prengel (2006), vier pädagogische Bewegungen in Deutschland gab, die sich mit diesem Phänomen kritisch auseinandersetzten und diesem entgegenwirken wollten: (1) Die Gesamtschulbewegung, die sich bereits in den 1960er Jahren für die Chancengleichheit aller Kinder, vor allem der Arbeiterkinder eingesetzt hat, (2) die feministische Bewegung, die sich für die Gleichheit der Geschlechter starkmacht, (3) die Interkulturelle Pädagogik, die die Diskriminierung der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund in den Fokus stellt sowie (4) die Integrative Pädagogik, die die „Exklusion von Menschen mit Behinderung bekämpft (vgl. ebd., S. 75; Prengel 2006, S. 11 ff.).

    Schüler*innenmerkmale, die den Lernprozess beeinflussen sind vielfältig, so das resümierende Fazit Tillmanns. Beispiele dafür können Vorkenntnisse, Motivation und Interessen sein. Diese nicht vollständige Aufzählung soll darauf verweisen, dass jede (Lern-)Gruppe unterschiedlich bzw. heterogen und vor allem ein hoch komplexes Konstrukt darstellt (vgl. Tillmann 2017, S. 71 f.). Damit gehen Konsequenzen für die Diskussion um die Heterogenität von Schülerinnen und Schülern einher:

    Die Heterogenitäts-Diskussion wird meist jedoch nicht so komplex, sondern deutlich vereinfacht geführt, indem lediglich die Zugehörigkeit der Schülerinnen und Schüler zu bestimmten sozialen Gruppen in den Blick genommen wird. […] Dabei wird auch unterstellt, dass mit der jeweiligen Gruppenzugehörigkeit auch die Wahrscheinlichkeit verbunden ist, bestimmte schulische Lernprozesse besser, schlechter oder auch nur anders zu bewältigen (ebd., S. 72).

    Heterogenität in Bezug auf Bildungschancen wird demnach (eher) mit sozialer Ungleichheit gleichgesetzt. Dies ist insofern ungenau, als Heterogenität zunächst einmal auf eine „Verschiedenheit, unabhängig davon, ob diese Vor- bzw. Nachteile im Bildungssystem mit sich bringt, aufmerksam macht. Innerhalb dieser Auseinandersetzung oder Diskussion um Heterogenität sind vor allem zwei Perspektiven, so Tillmann, vorherrschend: Entweder werden heterogene Lerngruppen als besonders effektiv angesehen, weshalb aus einer solchen Perspektive heraus Organisationstrukturen bevorzugt werden, in denen alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam lernen und unterrichtet werden (wie beispielsweise jahrgangsübergreifendes Lernen oder Gemeinschaftsschulen). Oder aber homogene Lerngruppen werden als effektiv(er) wahrgenommen und dadurch auch Jahrgangsklassen oder die Separation der Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher „Niveaustufen präferiert (vgl. ebd., S. 72).

    Aus der erstgenannten Perspektive wird Heterogenität nicht (mehr nur) als „Problem, sondern (auch) als Chance angesehen, was nach Budde (2017) unter anderem auch an der „Verankerung dieser in den Schulgesetzen der Bundesländer und der damit verbundenen bildungspolitischen Wertschätzung von Heterogenität und damit einhergehend auch von Vielfalt und Unterschiedlichkeit deutlich wird (vgl. ebd., S. 17).

    Zudem macht Budde (2017) aber auch darauf aufmerksam, dass Heterogenität als ein „unbestimmter Containerbegriff (ebd., S. 24) verwendet wird. Bezogen werden Konzepte von Heterogenität zum einen auf überindividuelle Differenzen zumeist in Form von soziokulturellen Differenzkategorien, wie Geschlecht, Ethnizität oder Behinderung. Zum anderen werden aber auch fähigkeitsbezogene Dimensionen zwischen Schülerinnen und Schülern eingebunden, vor allem unter dem Fokus individueller Fähigkeiten (vgl. ebd., S. 14). So kann die Institution Schule als eine „horizontal wie vertikal differenzierte Organisation, die Unterschiede macht (ebd., S. 15), angesehen werden. Daraus folgt auch, dass die Schule Heterogenität aktiv (re-)produziert und Heterogenität dabei als etymologischer Gegensatz von Homogenität anzusehen ist, weshalb diese „nur relational im Verhältnis zu Homogenität existieren" (ebd., S. 20, Hervorheb. im Original) kann.

    Diese Konstruktion und Produktion von Heterogenität beispielsweise durch die Schule führen zu sozialen Positionierungen der Schülerinnen und Schüler; es ist folglich ein Prozess und Ergebnis von Macht. So kommt Budde (2017) zu folgendem Fazit:

    Ignoriert man die Bezüge zum Feld der Macht, besteht die Gefahr, Heterogenität simplifizierend mit Buntheit gleichzusetzen und damit Unterschiedliches rein additiv nebeneinander zu stellen. Diese Gefahr droht besonders dort, wo der Umgang mit Heterogenität extrem positiv konnotiert und normativ unterlegt ist (ebd., S. 21).

    Die begriffliche Verwendung von Heterogenität ist folglich stets (auch) aus einer machttheoretischen Perspektive zu betrachten, da diese zumeist mit einer (sozialen) Bewertung von „besser und schlechter" verbunden ist (vgl. ebd., S. 21).

    Diese Ausführungen zeigen, dass im Rahmen von Heterogenitätskonstruktionen vor allem die Herstellung von (pauschalisierten) „sozialen Gruppen fokussiert wird, was mit einer gesellschaftlichen „Besser- bzw. Schlechterstellung verbunden ist.

    Daran anschließend wird aus der Perspektive der Intersektionalität davon ausgegangen, dass es „nicht die Migranten oder die Schüler mit sogenanntem sonderpädagogischen Förderbedarf gibt (Walgenbach und Pfahl 2017, S. 141, Hervorheb. im Original). Vielmehr wird die Sichtweise eingenommen, dass beispielsweise „Behinderung alleine, ohne die Einbeziehung weiterer Ungleichheitsdimensionen wie Migration und/oder Geschlecht, nicht adäquat erfasst werden kann. Zudem wird sich nicht nur von eindimensionalen Perspektive abgewendet, sondern auch von einer „Addition von Ungleichheitsdimensionen. Wenn zwei Diskriminierungsaspekte zusammentreffen, wird demnach nicht von einer „Doppelbenachteiligung, sondern von einer anderen Form der Diskriminierung ausgegangen. „Das heißt: Man wird nicht als Mädchen plus als Behinderte diskriminiert, sondern als behindertes Mädchen" (ebd., S. 143, Hervorheb. im Original).

    Daraus resultiert und begründet sich die primäre Fokussierung auf soziale Ungleichheiten und/bzw. Diskriminierungen im Kontext von Intersektionalität: „Differenz, Vielfalt oder Heterogenität werden […] stets machtkritisch diskutiert" (ebd., S. 142).

    Das impliziert wiederum auch, dass diese (sozialen) Ungleichheits- und Machtverhältnisse durch Gesellschaft (aktiv) (re-)produziert werden. So wird soziale Ungleichheit im Sinne Hradils (2008) als: „bestimmte vorteilhafte und nachhaltige Lebensbedingungen von Menschen, die ihnen aufgrund ihrer Position in gesellschaftlichen Beziehungsgefügen zukommen" (ebd., S. 212) verstanden. Damit Lebensbedingungen als sozial ungleich angesehen werden, müssen nach Hradil drei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens muss es innerhalb einer Gesellschaft bestimmte Güter geben, die als wertvoll angesehen werden, da diese knapp und begehrenswert sind (wie z. B. Einkommen und Bildungsabschlüsse). Zweitens müssen diese Güter ungleich verteilt sein und drittens ist zu berücksichtigen, dass Ungleichheiten, die auf natürliche (wie eine [geerbte] Krankheit), individuelle, temporäre oder zufällige (wie z. B. ein Lottogewinn) Ungleichheiten zurückzuführen sind, keine sozialen Ungleichheiten darstellen, da diese nicht direkt von der Gesellschaft produziert werden (vgl. ebd., S. 212; Hradil 2001, S. 28 f.).

    Zusammenfassend liegt soziale Ungleichheit folglich dann vor, „wenn Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefügen von den ,wertvollen Gütern‘ der Gesellschaft regelmäßig mehr als andere erhalten" (Hradil 2001, S. 30, Hervorheb. im Original).

    Determinanten sozialer Ungleichheit sind Kriterien oder (soziale) Positionen und „Wege, wie beispielsweise Beruf, Geschlecht, Alter, Wohngegend oder ethnische Zugehörigkeit, die für sich weder eine „Besser- noch „Schlechterstellung" mit sich führen, diese jedoch nach sich ziehen können.

    Als Dimensionen bzw. Erscheinungsformen von sozialer Ungleichheit werden Aspekte wie materieller Wohlstand, Macht, Prestige, Arbeits-, Wohn-, Umwelt- und Freizeitbedingungen sowie Bildung angesehen. Die „Besser- oder „Schlechterstellung eines Menschen im Oben oder Unten einer Dimension von sozialer Ungleichheit wird dabei als Status bezeichnet. Die unterschiedliche Verteilung des Status innerhalb einer Dimension (Einstufung) wird als Statusverteilung angesehen und diejenigen, die einen ähnlich hohen Status einnehmen, bilden eine Statusgruppe (vgl. ebd., S. 31 ff.; Hradil 2008, S. 213 ff.). Diese Darstellung beinhaltet nicht nur eine vertikale Ungleichheit (wie Beruf), sondern nimmt auch „horizontale bzw. „neue Dimensionen (beispielsweise Freizeit- und Arbeitsverhältnisse) in den definitorischen Fokus (vgl. Hradil 2008, S. 227 f.).

    Brake und Büchner (2012) verweisen in Bezug auf Bildungsungleichheiten darauf, dass Menschen hinsichtlich bildungsrelevanter Fragen jeweils nach ihren sozialen Dimensionen (wie soziale und/oder ethnische Herkunft und/oder Geschlecht) verschieden sind, was jedoch nicht zwangsläufig als ungerecht anzusehen ist. Der Aspekt der Gerechtigkeit wird dann relevant, wenn eine oder mehrere dieser Dimensionen zu Benachteiligung im Bildungssystem führt bzw. führen. Aus diesem Grund misst sich die Frage nach Bildungsgerechtigkeit daran, „inwieweit es durch institutionelle Maßnahmen gelingt, die unterschiedlichen sozialen und kulturellen Ausgangsbedingungen, mit denen Kinder in das Bildungssystem eintreten, in geeigneter Weise kompensierend so auszugleichen, dass die jeweiligen Startbedingungen Chancengleichheit zumindest annähernd ermöglichen (Brake und Büchner 2012, S. 40). Damit orientiert sich Bildungsgerechtigkeit nicht an formeller Chancengleichheit, also nicht daran, dass alle das Gleiche erhalten, sondern an „Bedarfsgerechtigkeit, was beinhaltet, dass jede und jeder das erhält, was sie oder er benötigt (vgl. ebd., S. 40). So gibt erst die „[u]nterscheidende Gerechtigkeit […] allen im höheren Sinne das gleiche [sic], nämlich etwas gleich Wichtiges, Hilfreiches. Unterschieden werden muß in der Schule nach Alter und Lebenslage, nach Begabung und Interessen, nach Kräften und Fähigkeiten, nach Vorbildung und Lernschicksal, nach körperlicher und seelischer Verfassung" (Flitner 1985, S. 2).

    Das Proporzmodell dagegen sieht Chancengleichheit im Bildungssystem dann als gegeben an, wenn die Anteile von gesellschaftlichen Gruppen auf den verschiedenen hierarchischen Ebenen des Bildungssystems mit ihren Anteilen an der Gesamtgesellschaft vertreten sind (vgl. Geißler 2005, S. 72). An dieser Stelle ist jedoch kritisch anzumerken, dass eine solche Verteilung nicht als „gerecht angesehen werden kann, da dadurch wiederum andere Gruppen(mitglieder) vom Zugang zu höherer Bildung ausgeschlossen werden, was dem Prinzip der Chancengleichheit bzw. Chancengerechtigkeit wiederum entgegenwirkt (vgl. ebd., S. 72 f.; Brake und Büchner 2012, S. 41 f.). Die aus dieser Perspektive nicht berücksichtigten bzw. eher vernachlässigten individuellen Fähigkeiten stehen im Rahmen des meritokratischen Modells von Chancengleichheit im Fokus: So wäre nach Hradil (2001) Chancengleichheit in Bezug auf Bildungschancen dann gegeben, „wenn allen unabhängig von leistungsfremden Merkmalen (wie z. B. von Bildung, Prestige und Geld der Eltern, von Geschlecht, Wohnort, Beziehungen, Religion, Hautfarbe, politischer Einstellung, persönlichen Bekanntschaften oder Familienzugehörigkeit) die gleiche Chance zur Leistungsentfaltung und Leistungsbestätigung eingeräumt wird (ebd., S. 153).

    Dass ein solches Modell Chancengleichheit und damit Gerechtigkeit produziert, ist ebenfalls ein Mythos, da „Ungleichheiten in der ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcenausstattung von Kindern (d. h. in ihrer sozialen und ethnischen Herkunft) […] in der Schule sozial bedeutsam (Solga 2005, S. 19) werden. So sind die zertifizierten Bildungsleistungen sowie die unterschiedlichen institutionellen Bildungslaufbahnen der Schülerinnen und Schüler notwendigerweise mit Herkunftsunterschieden verbunden (vgl. ebd., S. 20). Zudem macht Heinrich (2010) darauf aufmerksam, dass auf diese Weise den Schülerinnen und Schülern die Verantwortung für ihren Bildungsprozess und somit den damit zusammenhängenden (späteren) Chancen übertragen wird. Sie werden demnach als „autonome oder „mündige" Personen angesehen, obgleich sie erst zu solchen (auch) durch die Schule werden (sollen) (vgl. ebd., S. 127 f.).

    Rawls (1975) versteht Bildungsgerechtigkeit dagegen als (materielle) „Verteilungsgerechtigkeit". Damit verbunden ist die Perspektive, dass Ungleichheiten nicht selbstverschuldet sind, weshalb der Staat bzw. das Bildungssystem dafür zu sorgen hat, dass die einzelnen Schulen aufgrund ihrer individuellen Bedürfnisse mit Mitteln bzw. Ressourcen ausgestattet werden (vgl. ebd., S. 121).

    Daran anknüpfend verweist Stojanov (2013) auf folgenden Aspekt: „Die Gewährleistung einer ausreichenden materiellen Basis ist zwar eine notwendige Vorbedingung, jedoch an sich noch kein eigentliches Merkmal von Bildungsgerechtigkeit" (ebd., S. 63). Vielmehr sind die Qualität der pädagogischen Interaktionen sowie die individuellen Bedürfnisse innerhalb der Bildungsinstitutionen von Bedeutung. Im Rahmen dieses anerkennungstheoretischen Ansatzes werden die Schülerinnen und Schüler als Subjekte sowie ihre Autonomieentwicklung in den Fokus der Betrachtung gerückt (vgl. ebd., S. 63 ff.).

    Dem […] anerkennungstheoretischen Ansatz zufolge, zeichnet sich ein gerechtes Bildungssystem dadurch aus, dass in ihm die […] Anerkennungsformen der Empathie, des Respekts und der sozialen Wertschätzung institutionalisiert werden und als verbindliche Orientierungsmaßstäbe für pädagogisches Handeln dienen. Vor dem Hintergrund dieser Normen erscheinen nicht die vermeintlichen Ungleichheiten in der materiellen Ausstattung der verschiedenen Bildungseinrichtungen als primäre Form von Ungerechtigkeit im Bildungswesen, sondern die Vernachlässigung der Bedürfnisse und Erlebnisse der Educanden, deren statische Zuordnung zu essentialistisch verstandenen „Begabungen und „kognitiven Fähigkeiten sowie die Ignorierung ihrer besonderen Kompetenzpotenziale (ebd., S. 64).

    Anerkennung, und damit verbunden die Normen Empathie, Respekt sowie soziale Wertschätzung, ist demnach der entscheidende Aspekt, der ein gerechtes von einem ungerechten Bildungssystem unterscheidet.

    Diese Ausführungen zeigen, dass Chancengleichheit und damit verbunden auch ein „gerechtes Bildungssystem (fast) unmöglich erscheint. Oder anders formuliert: Chancengleichheit (im Bildungssystem) wird immer eine Illusion bleiben (vgl. Bourdieu und Passeron 1971), da Bildung als ein persönliches Attribut anzusehen ist, weshalb „Bildung sicher das Ungerechteste [ist, CG] was es gibt. Nicht nur ist sie total ungleich, sie verschafft auch unverdient Vorteile und sie ist nicht sozial (Oelkers 2008, S. 23). So sind nicht nur die Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler bei Schulbeginn ungleich, sondern auch

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