Herzbergs Experiment: Novelle
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Rüdiger Schneider
Der Autor hat zahlreiche Romane und Erzählungen veröffentlicht. 1996 Förderpreis zum Literaturpreis Ruhrgebiet.
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Book preview
Herzbergs Experiment - Rüdiger Schneider
1
Niko Herzberg betrachtete aus beruflichen Gründen das Herz wissenschaftlich. Es war ein Muskel, der an jeder Stelle operabel war. Es war, wenn auch kompliziert, schlicht eine Pumpe, die den Körper versorgte, am Leben, am Laufen hielt so wie der Motor das Auto. Es war austauschbar, so wie jede Maschine mit einem neuen Betriebssystem versehen werden konnte. Eingriffe aller Art, egal ob Bypässe oder der Ersatz von Klappen waren dank modernster vom Computer unterstützter Systeme möglich und für ihn zu einem raffinierten Spiel der Technik geworden, das er als Chirurg nach vielen Jahren der Erfahrung beherrschte. Das Herz verfügte nicht über eine eigene, selbstständige Wahrnehmung, sondern war schlicht ein reaktives Organ, das auf Sinneswahrnehmungen reagierte. Es reagierte auf das, was man sah, hörte, dachte, fühlte und reagierte dem entsprechend, indem es schneller oder langsamer schlug. Es konnte sich in freudiger Erregung melden, bei einem Schrecken in den Galopp verfallen oder bei einer mental gesteuerten Meditation sich beruhigen und in einen ruhigeren Takt kommen. Bei körperlicher Anstrengung, etwa beim Sport, war der Fall sowieso klar. Dann mussten Beine oder Arme stärker versorgt werden, die Pumpe also schneller arbeiten genau so wie bei einem Auto, wenn man Gas gab und der Motor aufheulte.
Was der Volksmund über das Herz verbreitete, tat Herzberg als esoterischen Humbug ab. Wenn Liebeskummer einem das Herz brach, war es nicht das Herz, das den Kummer als erstes spürte, sondern man erkannte die Verlassenheit und das Herz reagierte als Versorgungsmotor des Körpers. Ebenso, wenn einem das Herz in der ersten Verliebtheit brannte. Es brannte nicht, sondern reagierte schlicht auf den Ausstoß von Hormonen, so wie bei einem Druck auf das Gaspedal der Motor mit mehr Benzin oder Strom versorgt wurde. Ebenso konnte man nicht aus dem Herzen sprechen. Es war der Kopf, der die Gedanken formulierte, der Mund, der sie aussprach. Ein Herz, das sich verschließt, atmet nicht, hieß es auch. Unsinn. Die Lunge war da das zentrale Organ. Und Saint-Exupery’s Spruch aus der ‚Kleine Prinz‘ – „Man sieht nur mit dem Herzen gut! – war Gefühlsduselei. Das Herz selbst konnte nicht sehen. Es lag verschlossen im Brustkorb, war blind, der Reaktion auf Licht unfähig. Es war von den Gedanken gesteuert, von mentaler Empathie, wenn man etwas gesehen oder gehört hatte. Wahrscheinlich hatten all diese Geistesgrößen, egal ob Dichter oder Philosoph, das mit ihrer Hymne auf das Herz auch so gemeint. Egal, ob sie Shakespeare oder Goethe hießen oder wie Nietzsche behaupteten: „Mancher findet sein Herz nicht eher, als bis er seinen Kopf verliert.
Ähnlich hatte sich auch der stets flüchtende Casanova geäußert: „Die Vernunft ist des Herzens größte Feindin!"
„Was für ein Blödsinn! dachte Herzberg. „Ohne Vernunft, Nachdenken, Können, Kunstfertigkeit geht gar nichts. Man stelle sich vor, ich verliere bei einer Operation am offenen Herzen meinen Verstand! Oder ein Pilot vernachlässigt bei einem nächtlichen Flug die Instrumente, weil er sich dem Liebestaumel mit der Stewardess hingegeben hat! Eine Katastrophe, wenn man so denkt wie Nietzsche oder Casanova!
Etwas nüchterner hatte es Napoleon gesehen. „Eine schöne Frau gefällt den Augen, eine gute dem Herzen." Ob der Franzose danach gehandelt hatte? Wohl kaum. Der ließ sich doch eher von der eigenen Lust und der Freude an der Schönheit leiten. Eine Schöne und zugleich Gute wäre das Optimale. Da hätte das Herz gehüpft, während es bei einer Hässlichen, egal zu welchen Wohltaten sie fähig war, geschwiegen hätte. Schön reden konnten sie. Dichter, Denker, eroberungswillige Tyrannen. Aber die Welt des Herzens war eben anders. Sie gehörte dem Skalpell, dem Computer, der HLM, der Herz-Lungen-Maschine, den Röntgenstrahlen und dem Bildschirm, dem Können, der Kunstfertigkeit des Chirurgen. Alles andere war nach Herzbergs Überzeugung sentimentaler Unsinn, eine Irreführung der Wissenschaft. Man sah nicht mit dem Herzen gut, sondern mit den Augen und dem Skalpell in der Hand. Ganz so radikal, einseitig war Herzbergs Einstellung natürlich nicht. Herzfehler hatten Ursachen. Operativ waren sie zunächst zu beheben. Für die tiefer liegenden Ursachen waren indes andere zuständig. Psychologen, Psychotherapeuten, Heilpraktikerinnen, Ernährungsberaterinnen, vielleicht auch der Pfarrer von nebenan. Er, Herzberg, war dazu berufen einen Muskel zu reparieren oder auszutauschen, Leben zu retten. Dass das Herz nicht über eigene Wahrnehmungen verfügte wie etwa die Augen, sondern nur reagierte, schien ihm sonnenklar. Der Grund für den Aberglauben des Volksmunds lag auf der Hand. Das Herz war das einzige sich bewegende Organ im Körper, schien ein eigenständiges Leben zu haben.
2
Mit vollem Vornamen hieß Herzberg ‚Nikolai‘. Diesen Namen hatte er seiner Mutter zu verdanken. Die war Pianistin im Kölner Symphonieorchester gewesen und verehrte den russischen Komponisten Nikolai Rimsky-Korsakoff. Sein berühmtestes Stück ‚Scheherazade‘ hörte man im Hause Herzberg bis zum Überdruss. Daran und wohl auch an dem ewigen Pianogeklimper mochte es gelegen haben, dass Nikos Vater oft abwesend war und sich lieber anderswo aufhielt. Dieser andere Ort war das Kölner Kulturkino ‚Lupe‘ in der Zülpicher Straße, wo er als Filmvorführer arbeitete und nach der Spätvorstellung immer zur