Der Mann mit zwei Namen
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„Ist es besser, ein schlechter Mensch zu sein und Großes zu erreichen, oder ein großer Mensch zu sein und nichts zu erreichen?“
Quintus Sertorius hat die ersten 20 Jahre seines Lebens damit verbracht, auf dem Hof seiner Familie Pferde zu trainieren, doch damit ist Schluss, als sein Vater stirbt und die politischen Verbindungen seines Dorfes zu Rom gekappt werden. Seiner Familie zuliebe muss Quintus sein Dorf verlassen und in die Ewige Stadt ziehen.
Wenn er Erfolg hat, wird sein Volk ernährt werden. Wenn er scheitert, wird sein Volk verhungern.
Er beginnt seine politische Karriere unter den einflussreichsten Männern Roms, muss aber bald feststellen, dass die Mitglieder des Senats weniger geneigt sind, ihm zu helfen, als er gehofft hatte. Seine Reise führt ihn vom korrupten und verräterischen Forum in die tödlichen Wälder Galliens, wo er sich mächtige Freunde und Feinde macht.
Aber es braucht mehr als nur Verbündete, um erfolgreich zu sein. Er wird entscheiden müssen, welche Kompromisse und Risiken er einzugehen bereit ist, wenn er sich und seinem Volk eine Zukunft sichern will.
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Der Mann mit zwei Namen - Vincent B. Davis II
TEIL I
Teil Eins: Tirocinium Fori, 647–648 ab urbe condita
„Wenn Geschichte der Wahrheit beraubt wird, bleibt uns nichts als eine unnütze, zwecklose Erzählung." – Polybius
1
Schriftrolle I
628–648 ab urbe condita.
Nach meiner Schätzung wurde ich 628 Jahre nach der Gründung Roms geboren – 384 Jahre nach Etablierung der Republik. Die Götter segneten mich mit einem starken Vater und einer liebevollen Mutter. Mein Bruder Titus war sechs Jahre älter, und obwohl wir kaum beste Freunde waren, machten wir uns gegenseitig stärker und konnten unsere Probleme immer bewältigen.
Die Götter zeigten ihre Güte ebenfalls, indem sie meine Geburt in eine gute Heimat bewilligten.
Habt Ihr je von Nursia gehört, Leser? Die meisten haben es nicht. Es kommen keine bemerkenswerten Neuigkeiten von dort, sodass die Wenigsten von den harten Wintern, den dicken Schneedecken des Apennins oder unseren hochqualitativen Speiserüben (den einzigen Nutzpflanzen, die auf unserem harten, gefrorenen Boden wachsen) wissen. Nursia, so öde es auch war, ist meine Wiege und mein Heim, und ich habe es schon immer in Ehren gehalten.
Meine erste Erinnerung handelt davon, wie ich fünf Jahre nach meiner Geburt beinahe ertrunken wäre.
Wenn ich meine Augen schließe, spüre ich die tödliche Umarmung des eiskalten Wassers, den Sog, der mich immer weiter vom Licht der Oberfläche wegzog. Manchmal raubt es mir den Atem, wenn ich mich an meinen tauben Körper und den Verlust meiner Sinne erinnere.
Es geschah in einem kleinen Fluss etwas außerhalb von Nursia. Ich ging oft zum Baden dorthin, aber es war mir nicht ohne die Aufsicht meiner Mutter oder meines Vaters erlaubt. Dennoch – nachlässig wie ich war – entschloss ich mich zu einem erfrischenden Bad, nachdem ich mit meinem Freund Lucius gespielt hatte. Nur einen kurzen Moment später versanken meine Füße im Schlamm und ich wurde von der Strömung weggetrieben.
Meine Gedanken waren damals sehr klar. Ich erinnere mich gut daran. Ich dachte nicht an Leben oder Tod, nur an die Enttäuschung meines Vaters. Falls ich überlebe, wird er mich umbringen, dachte ich. Es stellte sich jedoch heraus, dass ihm bei meinem Rettungsversuch fast das eigene Leben entrissen wurde. Lucius war zu meinem Vater zurückgerannt, um nach Hilfe zu rufen, und dieser eilte schneller als der Gott des Windes Zephyr zu meiner Rettung. Die Stromschnellen erwischten ihn beinahe selbst, doch er kämpfte wie ein Krieger, bis ich zurück auf trockenem Boden war und das Wasser aus meinen Lungen gepresst wurde.
Die Ereignisse hatten eine starke Auswirkung auf mich. Ich entwickelte danach ein Stottern, weswegen die Erinnerung stets gedanklich im Vordergrund steht. Obwohl ich seitdem eine große Furch vor Wasser hege, formte sich aufgrund der Nahtoderfahrung auch eine tiefe Dankbarkeit für mein Leben und die Fähigkeit zu atmen, wie ich es damals nicht konnte. Mein Vater erwähnte den Vorfall nie wieder. Er hätte mich bestrafen können, wusste aber, dass meine Scham eine größere Strafe als die härteste Peitsche war.
Vater erzog mich des Öfteren durch Lektionen, statt Bestrafungen. Er war ein Mann von großer Charakterstärke, oftmals ruhig und nachdenklich sowie sehr direkt im Umgang mit anderen. In Nursia gab es keine wirkliche Regierung, aber die Einwohner betrachteten Vater als eine Art Oberhaupt unseres kleinen Dorfes. In all meinen Jahren konnte ich nicht ein einziges Mal bezeugen, dass er ein Gesuch ablehnte. Er opferte unzählige Stunden, um die anderen Dorfbewohner zu unterstützen – häufig in Form eines warmen Bettes oder einer stärkenden Mahlzeit.
Sein Engagement für Nursia und die Armen beeinträchtigte jedoch keinesfalls seine Hingabe, Titus und mich großzuziehen. Er widmete sich hingebungsvoll unserer Bildung und besorgte uns einen griechischen Lehrer. Wann immer es möglich war, lehrte er uns auch im Alltag stets neue Dinge über Geschichte, Sprachen und vor allem Charakterstärke – woran es seiner Meinung nach in unserer Welt stark mangelte.
Es fasziniert mich häufig, wie viel er uns ohne große Worte beibringen konnte. Manchmal lernten wir bei einem einzigen Jagdausflug mehr, als uns unser Privatlehrer je lehren würde.
Alle Einwohner Nursias waren Jäger – sowohl zur Eigenversorgung als auch zu Handelszwecken. Die Gebirgszüge um die Ortschaft wimmelten vor Rehen und Wildschweinen. Sooft er konnte, nahm uns Vater ins Gebirge mit und unterrichtete uns in der Verwendung des Bogens und der Selbstverteidigung gegen Wölfe oder den berüchtigten Marsischen Braunbär. Am wichtigsten aber war, dass er uns Tugendhaftigkeit vermittelte.
An eine dieser Lektionen erinnere ich mich ganz besonders. Die Sonne war gerade am Untergehen und die Wolken begannen den Himmel zu beherrschen. Alles schien grau. In der Ferne entdeckte ich ein Reh, zusammengekauert an einem Felshang. Ich pirschte mich so schnell wie möglich an der Seite der Felswand entlang heran und ließ Vater und Titus hinter mir – ich wollte sie mit meinem Wagemut beeindrucken. Als ich in Reichweite des Tieres war, legte ich einen Pfeil ein und spannte den Bogen. Als ich das Reh ins Visier nahm, konnte ich sehen, dass es sich um eine Mutter handelte, die ihr Kitz fütterte. Ich zögerte für einen Moment, doch stellte mir dann die Bewunderung der anderen vor, und spannte den Bogen weiter.
Bevor ich den Pfeil abschießen konnte, spürte ich die Hand meines Vaters auf meiner Schulter. Ich drehte mich bestürzt um, doch er schüttelte nur seinen Kopf.
„Ich dachte, du würdest mich für meinen Mut loben!", rief ich ihm nach, als er sich umdrehte und den Hang hinunterging.
„Du warst mutig, die Klippe zu erklimmen, aber du warst nicht heldenhaft, Sohn."
„Ist das nicht dasselbe?" Ich war frustriert, gelinde gesagt.
„Nein. Es benötigt keines Heldentums, um in dieser Welt grausam zu sein, Quintus. Dieses Reh wird noch zahlreiche weitere Junge gebären, die deine Kinder und die Kinder deiner Kinder füttern werden. Manchmal muss ein Gewinn im Hier und Jetzt zum Wohle von anderen aufgegeben werden." Plötzlich wurde mir klar, dass es dabei um viel mehr als nur die Jagd ging. Ich sagte nichts weiter, obwohl wir mit leeren Händen von unserem Abenteuer zurückkehrten.
Es ist mir bewusst, dass ich zahlreiche widersprüchliche Charakterzüge besitze. Mein Vater führte mich in die Lehren Zenos und anderer stoischer Philosophen ein – und seither versuche ich, nach ihren Überzeugungen zu leben. Trotzdem habe ich natürlich viele Mängel. Ich schätze Abstinenz, war jedoch auch bekannt dafür, etwas mehr als ein paar Gläser Wein zu trinken – besonders in meinen jüngeren Jahren. Ich schätze Zurückhaltung, hatte jedoch schon immer eine Schwäche für Frauen. Ich schätze Selbstbeherrschung, kann meinen Zorn jedoch nicht immer bändigen. Meine guten Qualitäten schreibe ich voll und ganz meinen wundervollen Eltern zu.
Meine Familie züchtete Pferde von Beruf – wie auch schon sämtliche unserer bekannten Vorfahren. Als Kind war es für mich die größte Ehre überhaupt, auf dem Gehöft mit den Pferden arbeiten zu dürfen. Mein Vater, meine Mutter, mein Bruder und ich arbeiteten das ganze Jahr über mit. Wenn wir nicht gerade neue Hengste ausbildeten, suchten wir die Hügel nach Gruppen von Wildpferden ab. Ich erinnere mich noch genau an die aufsteigende Freude, wenn Vater das Seil aus seiner Umhängetasche nahm, seine Aufregung kaum verbergen konnte und uns Anweisungen zum Einfangen des Tiers gab. Danach kehrten wir oftmals mit einem schnaubenden, sich aufbäumenden Hengst zum Gehöft zurück, der schon bald ein neues Mitglied unserer Familie sein würde.
Vielleicht sind dies nicht die Anfänge, die Ihr euch für den berüchtigten Verräter Quintus Sertorius vorgestellt habt. Doch ich kann mir keine andere Kindheit vorstellen. Wir jagten unsere Mahlzeiten, stellten unsere eigene Kleidung aus Reh- und Otterfellen her und handelten mit den anderen Dorfbewohnern. Das Leben war simpel.
Einzig Vaters politische Verbindungen verliehen meiner Erziehung etwas Einzigartiges. Die Sertorii sind eine uralte Familie, und Hunderte von Jahren vor meiner Geburt – als unser Volk zum Teil des Römischen Reiches wurde – entwickelten meine Vorfahren Beziehungen zu den einflussreichsten Familien Roms. Diese Beziehungen wurden an meinen Vater weitergegeben – eine Verantwortung, die er sehr ernst nahm. Seine Schutzherren in Rom versorgten Nursia mit Getreide, Oliven und Trauben. Zu meiner Zeit kam ein Großteil des Getreides aus Ägypten oder Spanien, aber fand seinen Weg stets über Rom zu einer Provinz wie Nursia. Ohne die Gunst einer wichtigen Persönlichkeit in der Hauptstadt würden Nursias Bewohner verhungern.
Als Gegenleistung für ihre Gunst fungierte mein Vater als Sprecher für die römischen Familien im Austausch mit den Sabinern. Er wurde als Ältester des Stellatina-Tribus betrachtet und hatte daher einen beachtlichen Einfluss auf unsere Wahlentscheidung. Meinen ersten Eindruck von Rom – samt all der Macht und Pracht der Stadt – erhielt ich, als ich Vater und Titus zur Wahl begleitete.
Es war so viel beeindruckender, als ich es mir je hätte erträumen können.
Die Tempel und Staatsgebäude um das Forum Romanum waren so groß wie alte Buchen und schienen für mein siebenjähriges Selbst bis zum Himmel zu reichen.
Es gab unzählige neue Geräusche und Eindrücke zu verarbeiten: Lautenspieler und Tänzer, wichtige Männer in Togas so weiß wie der Schnee in Nursia und antike Säulen, die fast noch heller erstrahlten. Zudem war die Stadt voller Menschen, sicherlich mehr als in tausend Dörfern wie Nursia.
An jeder Ecke boten Händler frisches, saftiges Obst und Gemüse an. Die Straßen waren breit genug für Streitwagen und die Reichsten wurden in Sänften durch die Straßen getragen. Ich verrenkte mir den Nacken, um zu erspähen, ob sich ein berühmter General oder Senator darin befand.
Außerdem stieß ich hier auf eine Fremdartigkeit, wie ich sie noch nie zuvor erlebt hatte. Es gab Menschen zahlreicher verschiedener Nationalitäten, die in rhythmischen, fremden Zungen beteten oder ihren Begleitern zuriefen. Rote Rosenblüten zierten die Steinstraßen, um die Ankunft eines neuen Jahres zu feiern.
Rom war Leben pur. Alles war ständig in Bewegung, fließend. Die Ereignisse schienen schneller vonstatten zu gehen, als es in Nursia je der Fall wäre.
Doch eine Sache beeindruckte mich mehr als alles andere: die Aquädukte.
„Schau, Vater!", rief ich aus und zeigte auf die Aquädukte, wobei ich ihn gleichzeitig von einer Unterhaltung mit einem alten Freund wegzog.
„Was ist damit?, lachte Titus. „So funktioniert die Versorgung mit frischem Wasser. Wir haben Brunnen.
Aber der Komfort von Wasser in solcher Reichweite, ohne es vom Brunnen transportieren zu müssen, war nicht der Kern meiner Faszination.
„Ja, Quintus. Sie bringen das Wasser direkt vom Tiber hierher. So haben die Menschen immer genügend Wasser." Mein Vater widmete sich wieder seiner Unterhaltung, aber lächelte mir zuvor kurz zu, um mir zu bedeuten, dass er mich verstand. Die Römer hatten es geschafft, meine größte Angst zu kontrollieren: Wasser. Sie hatten es bezwungen, gezähmt und ihrem Willen gebeugt. Ich war von Roms Größe und Macht bereits zuvor eingeschüchtert gewesen, aber nun hatte ich das Gefühl, dass die Stadt allmächtig war. Rom konnte Dinge tun, die Nursia niemals erreichen würde. Ein Teil von mir vermutete, dass mich Vater aus diesem Grund hierhergebracht hatte.
Dies war meine Jugend, meine kleine Welt – alles, was ich je erlebt, gekannt und geliebt hatte. Es war ein hartes, aber friedliches Leben. Ein raues, aber reiches Leben. Draußen kalt und drinnen warm. Und so verblieb es, bis mein Vater krank wurde.
Kurz vor meinem 17. Geburtstag wurde er krank. Er war so zäh und hart, voller Stärke und Ausdauer. Doch etwas Gewaltsames nahm von ihm Begriff und innerhalb von wenigen Tagen hatte er die Kontrolle über den Großteil seiner Körperfunktionen verloren. Er war an sein Bett gefesselt, seine Hände so schwach, dass er kaum eine wärmende Decke über sich ziehen konnte.
Es schockierte uns zutiefst. Vater schien mir immer stärker als tausend Bullen, härter als ein Gladiator. Ihn so zu sehen, war nicht nur besorgniserregend, sondern die Vorstellung seines Todes war absolut absurd. Ich war überzeugt davon, dass er sich erholen würde.
Mutter und Titus hatten dasselbe Gefühl. Auch wenn sie die Situation vielleicht etwas besser begriffen als ich, saß der Schock tief.
Einzig Vater selbst schien nicht überrascht. Als hätten ihm die Götter zugeflüstert, sich auf seinen Tod vorzubereiten. Er schien sich seinem Schicksal zu ergeben.
Ich erkannte die Schwere der Situation, als mich meine Mutter beiseite nahm und sagte: „Quintus, Vater möchte mit dir sprechen. Privat." Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Allein die starke Liebe zu meinem Vater ermöglichte es mir, den Raum zu betreten. Der Rest meines Wesens flehte mich an, davonzulaufen.
„Komm näher, mein Sohn." Vaters Stimme klang strapaziert und schwach. Er war dünn geworden und seine Wangen waren hager.
„Papa", sagte ich und griff nach seiner Hand.
„Ich habe eine Frage, mein Junge."
„Frage mich, was du möchtest."
„Wo ist ein Schiff am sichersten?", fragte er.
Ich dachte einen Moment darüber nach. „Im Mittelmeer? Nein, im Tyrrhenischen Meer." Meine Antworten überraschten ihn und er mühte sich ein angestrengtes Lachen ab.
„Nein, nein. Das Schiff ist im Hafen am sichersten. Nun, das schien ziemlich offensichtlich zu sein, dachte ich. „Das Schiff ist zwar an der Küste am sichersten, aber vergiss nie, mein Sohn, dass es für die See bestimmt ist. Um zu erforschen, zu entdecken, zu beschützen, zu versorgen. Jedes Schiff muss manchmal die Sicherheit des Hafens verlassen, um seinen Zweck in der Welt zu erfüllen, wie es seiner Natur entspricht.
„Ja, Vater." Er wartete einen Moment und nickte dann mit dem Kopf.
„Komm her. Er zog mich zu sich herunter, und ich lehnte meine Stirn an seine. „Kümmere dich zuerst um deine Mutter – immer. Und wenn du heiratest, sorge für deine Frau und beschütze sie um jeden Preis. Wenn du kleine Kinder hast, erziehe sie zu ehrenhaften, aufopferungsvollen, widerstandsfähigen Menschen. Sei ein besserer Vater, als ich und mein Vater es waren.
„Ich könnte niemals ..."
„Doch, das kannst du. Es ist so viel Gutes in dir. Er ließ mich los und tätschelte meine Wange. Dann lächelte er einen Moment lang, bevor er sehr ernst wurde. „Wenn ich nicht mehr bin, werde ich dieses Dorf deiner Obhut überlassen. Das weißt du doch, oder?
Mir versagte die Stimme. Ich fühlte eine so tiefe Trauer, dass sie als körperlicher Schmerz mitschwang. Wie konnte er davon sprechen, mich zu verlassen?
„Was ist mit Titus?" fragte ich.
„Titus hat eine Rolle zu erfüllen, und er wird sie gut erledigen. Aber er ist nicht du. Und du bist nicht er. Du hast dein eigenes Leben zu leben, und ich hoffe, es wird ein gutes sein. Er legte den Kopf in den Nacken und atmete schwer. „Du musst dich stets um dieses Dorf kümmern. Gib seinen Bewohnern Kraft und diene ihnen. Darin, so glaube ich, wirst du tatsächlich besser sein als ich.
Ich sah zu Boden und zitterte leicht. Ich fühlte mich wieder wie ein kleines Kind. „Du weißt doch gar nicht, dass du sterben wirst, Papa." Als ich aufblickte, hatte er ein trauriges Lächeln auf den Lippen und winkte mich zu sich, um ihn zu küssen.
„Ich liebe dich, mein Sohn. Solche Zärtlichkeiten waren in unserem Haus selten und ich verstand, wie unerbittlich seine Krankheit war. „Rufst du bitte deinen Bruder herbei? Ich möchte auch mit ihm gerne sprechen.
Ich nickte ihm ein letztes Mal zu, als ich das Zimmer verließ, und tat wie mir geheißen.
Noch in derselben Nacht verstarb Vater im Schlaf. Die Götter nahmen ihn zu sich, während er noch seine Würde und Ehre hatte. Darüber wäre er sehr glücklich gewesen.
Wenn ich allein in der Natur bin, denke ich manchmal an ihn. Er sagte mir damals, ich hätte eine Rolle zu spielen. Und manchmal frage ich mich, ob er mich sehen kann und findet, dass ich dies erfolgreich getan habe. Ich hoffe es von ganzem Herzen.
Alles hat sich verändert.
Noch bevor ich meinen Trauerbart rasieren konnte, hatte unser Hof zu kämpfen. Der Erfolg bei der Ausbildung unserer Pferde ließ nach. Wir waren alle harte Arbeiter und wussten, wie wir mit unseren Rössern umzugehen hatten, aber Vater hatte eine ganz besondere Art mit ihnen.
In den Monaten nach Vaters Beerdigung war Gaia offensichtlich der Meinung, dass sie Nursia mit bitterlich kaltem Wetter bestrafen müsse. Das Dorf hatte aus diesem Grund große Schwierigkeiten bei der Herstellung von Waren für den Handel.
Titus heiratete die Tochter eines erfolgreichen Viehtreibers. Ihr Name war Volesa, und dank ihrer Mitgift konnten wir die schlimmen Verluste eine Zeit lang überbrücken. Aber schon bald darauf zehrten die Strapazen wieder stark an uns.
Ehe ich wahrhaft begreifen konnte, was geschah, mussten wir einige unserer Möbel und Militärmedaillen aus der Jugend meines Vaters verkaufen. Das Haus wirkte kahl und kalt – aber genau das war es seit seinem Tode auch.
Es dauerte nicht lange, bis wir auch mit anderen Konsequenzen konfrontiert wurden. Plötzlich begannen unsere Getreideimporte zu sinken, und schließlich verschwanden sie ganz. Denn die Gönner meines Vaters in Rom hatten seit einiger Zeit nichts mehr von ihm gehört, und so waren die Importe ausgeblieben. Infolgedessen hatte die Wirtschaft von Nursia zu kämpfen. Auf den Märkten gab es wenig zu handeln und sie blieben an den meisten Tagen geschlossen.
Immer mehr Menschen lebten auf den Straßen, Familien kauerten unter Wolldecken und baten um kleine Arbeiten im Tausch gegen Geld für Essen. Meine Mutter, Titus und ich sahen es als unsere Verantwortung an, der Gemeinschaft zu dienen – wie Vater es uns aufgetragen hatte – und so waren unser Atrium und die Gästezimmer oft mit mittellosen Nachbarn gefüllt. Wenn wir jemals etwas übrig hatten, brachten Mutter und Volesa es zu den anderen Dorfbewohnern, die dringend Lebensmittel benötigten. Wir gingen oft durch die stillen Straßen und sprachen den Verarmten unser Beileid aus. Mehr als einmal fanden wir Bewohner auf, die an Kälte oder Krankheiten verstorben waren. Es war schwer, diese Bilder, diesen Anblick und diese elenden Gefühle zu vergessen.
Zu dieser bitterlichen Zeit wurde beschlossen, dass Titus nach Rom reisen sollte, um ein politisches Lehrjahr namens Tirocinium fori unter der Vormundschaft eines römischen Gönners zu verbringen. Dabei sollen die Abläufe des Forums gelehrt und so die Karrieren von jungen Männern in Gang gesetzt werden. Titus gab vor, dass dies auch sein Wunsch war, doch ich vermute, er wollte durch die Gönnerschaft Hilfe für das Dorf erreichen.
Kurz nachdem seine Frau ihr erstes Kind zur Welt gebracht hatte – einen Sohn namens Gavius – packte Titus seine Habseligkeiten und reiste nach Rom. Er reichte mir zum Abschied die Hand und trug mir auf, mich während seiner Abwesenheit um das Gehöft zu kümmern.
Nach sechs Monaten erhielten wir den ersten Brief von Titus.
Geliebte Familie,
ich schreibe in Eile, mit Neuigkeiten, die ihr sicher nicht erwartet habt. Ich habe die Betreuung unserer Gönner in Rom verlassen. Leider erwies ich mich als unfähig, diesen Weg fortzusetzen. Ich habe euch enttäuscht, und das tut mir Leid. Ich bin für dieses Leben nicht geeignet. Stattdessen habe ich beschlossen, eine Karriere bei der Legion einzuschlagen. Ich habe mit meiner Ausbildung begonnen und meinen Eid abgelegt. Durch die Ränge werde ich mir Respekt verschaffen und eine politische Karriere mit dem Rückhalt meiner Männer beginnen. Bruder Quintus, ich überlasse dir die Sorge für meine Frau und mein Kind. Bitte kümmere dich um sie. Unternimm alles in deiner Macht stehende, um ihre Sicherheit und Versorgung zu gewährleisten. Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann. Wenn alles gut geht, werde ich sie während des Winterquartiers meiner Legion Anfang des Jahres besuchen.
Euer ergebener Sohn, Bruder, Ehemann und Vater.
Wir waren am Boden zerstört und konnten es nicht verstehen. Zwar wollten wir seine Entscheidung unterstützen, seinen Wunsch, Rom zu dienen – wie es auch Vater getan hatte. Doch da Nursia dem Untergang geweiht schien, überwog unsere Angst den Stolz.
Zuerst war ich so erschrocken, dass ich die Tragweite seines Briefes nicht verstand. Meine Mutter musste mir den Ernst der Lage näher bringen.
Zu meiner Überraschung sagte sie: „Ich glaube, du musst nach Rom gehen, mein Junge."
„Was? Ich kann dich nicht verlassen. Was ist mit Gavius? Wie soll er aufwachsen, wenn weder sein Vater noch Onkel hier sind?"
„Uns wird es gut gehen, Quintus. Die Götter werden für uns sorgen, wie sie es immer getan haben."
„Und was ist mit Nursia? Ich gestikulierte zum Tor und darüber hinaus, wo so viele Menschen hungerten. „Diese Menschen brauchen mich.
„Und genau deshalb musst du gehen." Noch während sie sprach, sah ich vor meinen Augen, wie sich die Vorstellung meines Lebens verflüchtigte: das Leben eines Bauern auf dem Land, Pferde züchten, jagen, eine Familie gründen und meinem Dorf dienen.
„Aber ... wenn es Titus nicht geschafft hat, wie kommst du darauf, dass ich das kann?" Ich suchte nach anderen Ausreden. Titus’ Weg ist nicht der meinige. Ich erinnerte mich an die Worte meines Vaters, und ein Schauer lief mir über den Rücken.
„Du bist ein Anführer, Quintus, sagte meine Mutter. „Du inspirierst andere. Du liebst Nursia. Das ist mir bewusst. Aber wenn du hier bleibst, würdest du die Gaben opfern, die dir die Götter geschenkt haben. Zu bleiben, würde Nursia mehr schaden als nutzen. Du wurdest für etwas Größeres geschaffen.
Sie nahm meine Hände zwischen ihre. „Ich bin mir sicher!"
„I… i… ich will wie Vater sein. Ich möchte ein ruhiges Leben!" Ich flehte, sowohl mit mir selbst als auch mit ihr. So sehr ein junger Mann auch davon träumt, für große Dinge auserkoren zu sein – ein hohes Amt zu belegen oder in der Armee aufzusteigen – die dafür notwendigen Opfer wollte ich nicht erbringen müssen.
„Ich weiß, dass du das willst. Aber manchmal müssen wir unseren eigenen Seelenfrieden opfern, um den anderer zu sichern. Und wenn du hier bleibst, wirst du dann nicht unzufrieden sein? Wissend, dass du von den Göttern zu etwas Größerem bestimmt wurdest und dich dennoch weigerst, dem Ruf des Schicksals zu folgen?" Sie begann zu weinen.
Ich wusste, dass sie in einem noch größeren Zwiespalt lag als ich; dass es ihr das Herz brach, mir die Wichtigkeit meiner Reise nach Rom verständlich zu machen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie sie ohne einen ihrer Söhne auf dem Hof zurechtkommen würde. Doch wusste ich auch, dass sie Recht hatte und weiterer Protest zwecklos wäre. Mutter hatte immer Recht.
„Dann soll es so sein", sagte ich mit einer Stimme, die so schwach war wie ein Flüstern.
„Bedenke, mein Sohn: Es reicht nicht aus, lediglich den Import von Getreide erneut zu gewährleisten. Denn eines Tages wirst auch du versterben, deine Gönner versterben, und wir werden uns in der jetzigen Situation wiederfinden. Du musst alles ändern, Quintus. Du musst das Schwert in deine eigenen Hände nehmen." Sie küsste mich auf die Stirn und ich hielt sie fest, während sie weinte.
Zwei Wochen später packte ich meine Habseligkeiten. Ich hatte mich von Nachbarn und Freunden verabschiedet und ihnen ans Herz gelegt, nicht die Hoffnung aufzugeben – schon bald würde Hilfe nahen. Als ich meine Runden drehte, vollzog sich in mir langsam eine Veränderung. Ich fühlte, dass ich tatsächlich dazu in der Lage wäre, Nursia zu retten.
Ich umarmte Volesa und trug ihr auf, stark zu bleiben. Dann wiegte ich Gavius zärtlich in meinen Armen und weinte, weil es mir so ungerecht erschien, dass dieser kleine Junge ohne die Führung eines Vaters oder Onkels groß werden müsse.
Mein letzter Abschied galt meiner Mutter. Vielleicht war dies einer der schwersten Momente meines Lebens, und ohne sie wäre ich niemals dazu in der Lage gewesen, die zukünftigen Herausforderungen in meinem Leben zu meistern.
„Ich liebe dich so sehr, mein Sohn. Du bist so tapfer." Sie weinte, und ich verstand, dass der Abschied für sie genauso schwierig war wie für mich – besonders, da ich auch auf ihren Wunsch hin ging. Doch sie brachte ein ebenso großes Opfer wie ich. Ich nahm ihre Hände in die meinen. Sie waren weich wie Seide, aber gleichzeitig zäh wie Leder; schwielig vom Mahlen des Getreides; kraftvoll und geschickt genug, um bei der Geburt unserer Cousins zu helfen.
Ich war 19 Jahre alt – ein erwachsener Mann –, aber vor meiner Mutter fühlte ich mich wie ein hilfloses Kind.
„Auf Wiedersehen, Mutter." Ich küsste sie auf den Kopf und schritt zur Tür hinaus.
2
Schriftrolle II
So schwer es auch war, Mutter ganz allein zu lassen, hatte ich doch einen Trost: Mein lieber Freund Lucius Hirtuleius begleitete mich nach Rom. Er war ein fester Bestandteil meines Lebens, solange ich mich erinnern konnte. Zusammen mit seinen Cousins Spurius und Aulus Insteius – die Zwillinge waren – hatten wir unseren Anteil an Obstgärten geplündert und genug Wein für ganz Nursia geleert. Jetzt war Lucius’ Gesellschaft das Einzige, was meine Nerven verhältnismäßig ruhig hielt.
Als wir unsere dreitägige Reise antraten, versammelte sich zum Abschied eine Menschenmenge vor unseren Häusern. Zum ersten Mal nannten mich die Leute bei meinem Familiennamen, Sertorius, anstelle meines Vornamens Quintus. Auch Lucius war von nun an für immer als Hirtuleius bekannt, außer bei einigen seiner engsten Freunde.
Wir nahmen die Via Salaria, die üblicherweise für den Salzhandel genutzt wurde, auf direktem Wege nach Rom. Keiner von uns wagte einen Blick zurück. Es war derselbe Weg, den mein Vater und ich vor Jahren zurückgelegt hatten, aber diese Reise fühlte sich so ganz anders an. Die Luft erwärmte sich während unseres Weges und auch unsere niedergeschlagenen Geister blühten etwas auf. So lagen unsere Schicksale nun einmal vor uns, und es konnte keine bessere Zukunft geben, als unserem Land zu dienen.
Jede Nacht suchten wir uns einen sicheren Platz am Straßenrand und schlugen unser Lager auf. Ich brachte Lucius ein paar nützliche Dinge bei, zum Beispiel, wie man ein Feuer macht.
„Ich wünschte, mein Vater wäre da gewesen, um mir solche Dinge beizubringen", murmelte er vor sich hin. Sein Vater hatte sein Leben für Rom in einer Schlacht gegen nördliche Invasoren geopfert. Lucius war damals zu jung gewesen, um jegliche Erinnerungen an ihn zu behalten.
„Wenigstens hast du einen Freund, der sie dir zeigen kann." Ich klopfte ihm auf die Schulter.
„Und ich danke den Göttern dafür."
In den letzten Jahren waren wir uns durch unsere gemeinsamen Nöte noch näher gekommen. Wir hatten beide unsere Väter verloren, und diese gemeinsame Wunde verband uns miteinander. Im Gegensatz zu mir hatte Lucius jedoch auch seine Mutter verloren, als er noch ein Kleinkind war; sie war bei der Geburt seines Bruders Aius gestorben. Als sein Vater verstarb, wurden sowohl Lucius als auch Aius in den Haushalt ihres alten Großvaters Manius aufgenommen.
Sein Schmerz, den er mit der Stärke der goldenen Mauern Trojas ertrug, ließ mich vorwärts gehen, wenn ich schwankte. Obwohl ich der Ältere und somit der Anführer unserer fröhlichen kleinen Gruppe war, schaute ich aufgrund seiner großen Tapferkeit zu ihm auf.
An diesem Abend am Lagerfeuer fragte er gefühlt zum hundertsten Mal: „Bist du aufgeregt, in Rom anzukommen?"
„In gewisser Weise schon. Aber ich bin auch nervös." Ich teilte ein paar Grashalme und warf sie gedankenverloren ins Feuer.
„Ich wollte schon immer Soldat sein. Weißt du noch, als wir als Kinder Legionäre spielten? Du wolltest immer General spielen, und ich wollte die Infanterie sein – wie mein Vater."
„Ich erinnere mich genau. Wir lachten leise. „Ich glaube, bei all der Erfahrung, die wir mit Holzschwertern gesammelt haben, sollten sie dich sofort befördern.
Lucius lächelte und schaute zu den Sternen auf. „Ich werde meinen Bruder allerdings vermissen, und zwar sehr." Er nahm einen großen Schluck