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Die Länder des Islam: Geschichte, Traditionen und der Einbruch der Moderne
Die Länder des Islam: Geschichte, Traditionen und der Einbruch der Moderne
Die Länder des Islam: Geschichte, Traditionen und der Einbruch der Moderne
Ebook482 pages6 hours

Die Länder des Islam: Geschichte, Traditionen und der Einbruch der Moderne

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Der Nahost- und Islam-Experte Arnold Hottinger – ein engagierter Vermittler zwischen Orient und Okzident – analysiert in einem faszinierenden Überblick die islamischen Länder von Ägypten bis zur Türkei, von Nordafrika bis zum Irak, vom Iran bis Afghanistan.

Arnold Hottinger
Die Länder des Islam
Geschichte, Traditionen und der Einbruch der Moderne
Format E-Book: EPUB.
2013. Karten & Pläne.
sFr. 19.90 / € (D) 19.90 / € (A) 20.50
ISBN 978-3-03823-985-7
LanguageDeutsch
PublisherNZZ Libro
Release dateFeb 22, 2013
ISBN9783038239857
Die Länder des Islam: Geschichte, Traditionen und der Einbruch der Moderne
Author

Arnold Hottinger

Arnold Hottinger is a Swiss journalist.

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    Book preview

    Die Länder des Islam - Arnold Hottinger

    Schmuckseite

    Arnold Hottinger

    Die Länder des Islam

    Geschichte, Traditionen

    und der Einbruch der Moderne

    Verlag Neue Zürcher Zeitung

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

    in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

    sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    © 2013 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich

    Der Text des E-Books folgt der gedruckten 2. Auflage 2008 (ISBN 978-3-03823-478-4).

    Titelgestaltung: GYSIN [Konzept+Gestaltung], Chur,

    Titelbild: Alhambra © Madeleine Freudemann, ImagePoint.biz

    Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

    Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf andern Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

    ISBN E-Book 978-3-03823-985-7

    www.nzz-libro.ch

    NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung

    Einführung

    Die Vielfalt der Welt des Islam

    Dieses Buch ging ursprünglich von der Frage aus: Ist es wirklich nur «der Islam», der Geschichte und Gegenwart der islamischen Völker und ihrer Kulturen bestimmt? – Viele Aussenstehende, Nichtmuslime in Europa und in Amerika, scheinen dies anzunehmen. Der Umstand, dass die muslimischen Völker «dem Islam» angehören, wird immer wieder als Erklärung dafür herangezogen, dass im islamischen Raum dieses oder jenes geschieht oder dass dieser Raum «anders» sei als der europäisch-amerikanische.

    Bei genauerem Hinsehen jedoch gibt es gute Gründe für die Skepsis gegenüber solchen Erklärungsversuchen. Monsieur islam n’existe pas lautet der Titel des Buches einer französischen Autorin mit algerischen Wurzeln, Dounia Bouzar, der es darum ging, klärend in Fragen der Einwanderungsproblematik zu wirken.¹ Sie hat recht: «Der Islam» schlechthin ist eine Abstraktion, die es im konkreten Leben nicht gibt. Der Islam mag für den gläubigen Muslim in Gott ruhen, er ist aber auf Erden immer in Menschen, und zwar in sehr unterschiedlichen Menschen verkörpert. Jeder Muslim wird zustimmen: Gott hat den Islam über Koran und Propheten an die Menschen gesandt.

    Man kann auch ganz einfach auf die Geschichte schauen: Wenn es nur einen unveränderlichen Islam gäbe und dieser alleine die Geschichte und Kultur der Muslime bestimmte, würde die Geschichte aller Muslime stillstehen.

    Auch die Geografie macht deutlich: Es gibt viele Arten von Muslimen in sehr verschiedenen Ländern, was bedeuten muss, dass es noch andere Einflüsse gibt, die auf ihre Vergangenheit und ihre Gegenwart einwirken, als nur ein immer gleicher «Islam».

    Im Verlauf vieler Reisen, die der Verfasser mit Mitreisenden unternahm, denen er die muslimischen Länder nahezubringen suchte, wurde ihm deutlich: Viel von der Eigenart und Besonderheit der besuchten Orte und Stätten lässt sich fassen und verdeutlichen, wenn man auf die besondere Natur des Landes schaut, in dem man sich befindet. Die besonderen Charakteristiken einer Landschaft und eines ganzen Landes bedingen und prägen das Leben seiner Bevölkerung über die Jahrhunderte hin. Diesen prägenden Charakteristiken entspricht eine Geschichte «auf lange Sicht», die sich mit bestimmten Konstanten abwickelt. Allein der Nahe Osten kennt viele Variationen von sehr verschiedenen geografischen und natürlichen Rahmen, in denen sich über viele Generationen hinweg Menschenleben abgespielt hat. Markant sind die grossen Bewässerungstäler des Nils und des Zweistromlandes. Im Gegensatz dazu stehen die reinen Wüsten mit ihren Beduinen als der einzigen Art von Menschen, die dort zu leben vermögen. Wieder andere Gegebenheiten prägen die Menschen und formen ihr Leben in Ländern, die weitgehend aus Wüste bestehen, aber auch bewässerte Nischen und Flecken kennen, deren grösste sogar Städte ernähren. Es gibt Bergländer, grosse Ebenen und Übergangsregionen.

    Derartige Grundtypen finden sich wieder, modifiziert, aber doch erkennbar, in der weiteren Umgebung des nahöstlichen Kerns, die auch zur weiten islamischen Welt gehört. Grosse Flusstäler gibt es in Zentralasien, in Indien und bis zum Wadi al-Kebir, den einst die hispanischen Muslime bevölkerten, dem heutigen Guadalquivir-Tal. Wüsten gibt es von der Sahara bis zur Takla Maqam. Man kann eine weitere Gruppe von Ländern hinzufügen, indem man auf Nordafrika schaut: Korridor oder Brückenländer, die bevölkerte Übergangsstrassen bilden, welche die Völker durchwandern. Anatolien ist sogar ein Übergangskontinent. Afghanistan lässt sich als eine doppelte Landbrücke beschreiben, auf der sich die West-Ost- und die Nord-Süd-Wege nach Indien kreuzen.

    Die Geschichte, langfristig gesehen, ist jeweils in den unterschiedlichen Naturen der Länder und Grossregionen verankert. Geografie sei Schicksal, sagte Napoleon. Die Menschen lebten während der zwei-, drei- oder viertausend Jahre, über die sich ihre Geschichte in den meisten Ländern dieser Regionen zurückverfolgen lässt, in erster Linie vom Land und dessen Ertrag. Ihre Lebensumstände waren weitgehend durch die Natur ihres Landes bedingt. Das Land in seiner Vielfältigkeit hat die Menschen in ihren Variationen geformt: Beduinen, Bewässerungsbauern, Oasenbewohner. Und natürlich haben die Menschen auch das Land geformt: Bewässerung mit Dämmen und Kanälen, über der Erde und unterirdisch; Wege und Strassen; Siedlungen aller Art, Kulturpflanzen und Gärten – für Baumaterial war man auch auf das Land angewiesen, bis – im Westen – der Zement erfunden wurde.

    Auch was man den kulturellen Oberbau nennen kann, war eng mit dem Land verbunden: die Tempel mit Stadtgöttern und Naturgottheiten sowie später der Dienst an dem Einen, dem Schöpfergott. Sein Kultgebäude erhebt sich über den alten Tempeln am gleichen heiligen Ort. Die Gedichte, die Musik, das Tanzen, Statuen, Bilder, alle haben sie spezifische Wurzeln in den jeweiligen Ländern und Landschaften ihrer Genese und Ausübung.

    Der Islam entstand im Wüstenraum, aber an zwei eher städtischen Orten, in denen jedoch noch die soziale Ordnung der Wüstenbewohner herrschte, das Stammeswesen. Er ergoss sich dann in die Länder alter Kultur, und er war gezwungen, sich an sie anzupassen, wenn er erfolgreich über sie herrschen wollte. Er prägte diese Länder um, und er wurde von ihnen umgeprägt. Er schlug Wurzeln. Wenn man die heutigen Muslime fragt, die von der Pilgerfahrt heimkehren, was ihnen am meisten Eindruck gemacht hat, kommt häufig die Antwort: die Verschiedenartigkeit der Muslime. So viele, so unterschiedliche Menschen, so viele Sprachen, Farben, Arten von Menschen sind alle in Mekka zusammengekommen. Ja, sie kamen alle im Zeichen des Islam. Es gab etwas Grosses, sie Einigendes, über den Einzelnen und über den vielen verschiedenen Gemeinschaften. Doch die Vielfalt ist unbestreitbar überaus eindrücklich. Zahlreiche Kulturen, nicht nur eine einzige Kultur, sind in den islamischen Jahrhunderten gewachsen. Geschichten haben sich in der Geschichte des Islam abgespielt: Es gibt eine Geschichte von Mesopotamien, eine andere von Anatolien, eine von Zentralasien, eine Ägyptens und eine Nordafrikas. Noch eine andere war in Südspanien zu Hause. Sie ist abgeschlossen seit 1492. Natürlich hat jede dieser Geschichten vielfache Berührungspunkte und Überschneidungen mit jenen des Nachbarlandes. Doch man kann die Umrisse einer jeden nachzeichnen.

    Es gibt kriegerische Ereignisse und kulturelle Entwicklungen, die den ganzen Raum oder grössere Teile davon erfassen, wie die Religion des Islam es getan hat, wie schon vorher der Hellenismus Alexanders des Grossen. Doch die darunter liegenden Strukturen bleiben bestehen, tauchen wieder auf, manchmal verwandelt, entstellt, neu aufblühend, aber dennoch an die Natur, die Gegebenheiten der Länder gebunden.

    Der grosse Einschnitt im 19. Jahrhundert

    Wenn man versucht, das ganze komplexe Gebilde, das man die islamischen Völker und ihre Kulturen nennt, ein Lebewesen aus vielen Gliedern, die sich natürlich auch mit den Zeitläufen ändern, zu überschauen, gelangt man überall an einen entscheidenden Graben: Im 19. Jahrhundert, am deutlichsten ab 1850, ändert sich alles grundlegend und immer schneller und immer mehr, bis heute und morgen. Die islamischen Völker leben nicht mehr primär unter sich in dem vielfältigen Haus und Gefüge, das man als Dar ul-Islam anspricht. Das ist mehr als «Haus des Islam», aber nicht ganz «Palast des Islam», denn «Dar» bedeutet ein Herrenhaus. – Eine fremde, immer unwiderstehlicher eindringende Macht hat zuerst die Gärten und äusseren Häuser besetzt, drang dann durch Türen und Fenster ein, drückte die Mauern mit Bulldozern nieder, setzte sich fest, nahm alles in Beschlag, was sie zu ergreifen vermochte, schrieb und schreibt weiter vor, wie das Leben auszusehen hat. Sie setzt neue Paradigmen, Leitschemen für die Gegenwart und die Zukunft. Sie krempelt alle bisherigen Gegebenheiten radikal um. Nichts ist mehr, wie es war und sich seit Urzeiten aus der Vergangenheit fortgesetzt hat. Alles wird anders – und die Fremden bestimmen wie.

    Die Bedeutung der alten naturbasierten Strukturen nimmt ab, verblasst, denn die fremde, von der Technologie beherrschte Kultur hegt den Ehrgeiz und hat Mittel entwickelt, um die Natur zu beherrschen, sie zu instrumentalisieren. Die Menschen fügen sich nicht mehr in ihren natürlichen Rahmen ein, sondern bauen ihn um oder neu. Dies entwertet zum ersten Mal die althergebrachten Rahmen, in denen sich das Leben bisher abgespielt hat. Beispiele: Man fährt heute mit dem Tankwagen durch die Wüste, um Kamelen und Schafen Wasser zu bringen, statt sie zum Wasser hinzuführen. Man staut den Nil, um permanent und nicht gemäss dem alten Rhythmus der Jahreszeiten bewässern zu können. Dabei verzichtet man auf die natürliche Düngung mit Nilschlamm. Dieser lagert sich heute im Nassersee ab. Um die Felder fruchtbar zu erhalten, braucht man Kunstdünger. Diesen produziert man mit Hilfe der Elektrizität, die der Staudamm liefert. All das muss man tun, um die riesig angewachsene Bevölkerung zu ernähren. Sie hat so stark zugenommen, weil man mit den aus Europa übernommenen Methoden der Seuchen und der Kindersterblichkeit Herr wurde.

    In Nordsyrien wächst Hartweizen. Dieser wird exportiert, damit die Italiener Spaghetti daraus machen können. Als Gegenleistung werden grössere Mengen von weichem Weizen aus Amerika oder Kanada importiert. Man braucht ihn dringend, um die wachsende Bevölkerung zu ernähren.

    Kuwait besitzt Erdöl; das Land, das eigentlich nur aus einer einzigen Stadt besteht, zieht sehr viele Menschen an. Kuwait City ist stark gewachsen. Das Klima ist unerträglich. Das Geld aus den Erdölexporten erlaubt es, in luftgekühlten Häusern zu leben und in Einkaufskomplexen shoppen zu gehen. – Alle Erdölstaaten am Golf sind sich ähnlich in dieser Hinsicht. Im Staat Dubai leben 15 Prozent Einheimische, 85 Prozent Fremdarbeiter. Sie kommen meistens aus dem indischen Subkontinent, natürlich per Flugzeug.

    Die Fünfmillionenstadt Bagdad braucht Elektrizität für die Kühlung und für ihre Wasserpumpen, ohne die sie kein sauberes Trinkwasser hat. Sie benötigt viel billiges Benzin, um den Verkehr der Bewohner zu bewältigen. Der amerikanische Krieg und der Widerstand im Irak haben zusammen bewirkt, dass es beides nicht mehr in genügender Menge gibt. Das Leben in der irakischen Hauptstadt ist schlechterdings unerträglich geworden.

    Kriege hat man in der Region immer geführt, genauso wie in christlichen Landen. Sie konnten sehr zerstörerisch sein. Doch die Natur setzte Grenzen. Reiterhorden wie jene der Mongolen und des Timur Lenk gehören zum Unheilvollsten, was geschehen konnte. Zurzeit aber sehen sich alle Machthaber verpflichtet, die gesamte Vernichtungstechnologie aus Amerika und Europa zu importieren, womöglich einschliesslich der Atombombe. Man muss sie haben, um zu überleben. Jedenfalls ist dies die Ansicht sämtlicher Machthaber, die sich gegenseitig bedrohen. Schon relativ bescheidene Anwendungen von Teilen der Vernichtungstechnologie können ganze Landstriche auf Dauer ruinieren. Beispiele sind der Gebrauch von Millionen von Minen in Afghanistan, die das Land weithin unbebaubar gemacht haben und jahrelang nach Kriegsende immer weitere Opfer fordern. Das Gleiche gilt für die «Bomblets», aus denen die «Cluster Bombs» zusammengesetzt sind, welche die Amerikaner im Irak und die Israeli im Libanon gebrauchten. Von der strahlenverseuchten «gehärteten» Artilleriemunition gar nicht zu reden.

    Allgemein gesprochen: Die in Europa und in Amerika erfundene, aber heute im Nahen Osten so gut wie sonst überall anscheinend unvermeidlich notwendig gewordene Technologie verändert das uralte Verhältnis zwischen Mensch und Land, Natur des Menschen und Natur des Landes in dem Sinne, dass der Mensch macht, was er will, wenn er nur über das Geld verfügt, um die Lebensbedingungen und bisherigen Lebenskonstanten umzukrempeln.

    Die Länder Europas, Amerikas und zunehmend der ganzen Welt sind diesem Sog der Technologie ausgesetzt. Doch in der industriellen Welt handelt es sich um Dinge, die man selbst erfunden, entwickelt, schrittweise in Gesellschaften eingeführt hat, die sich allmählich auf die Änderungen einstellen konnten. Haben wir diese Neuerungen dadurch sozusagen in den Griff bekommen? – Manchmal befürchten auch die Menschen des Westens: wohl nicht so ganz und vielleicht nicht wirklich in genügendem Masse! – Doch jedenfalls ist es eine sehr andere Sache, wenn all diese Neuerungen und Errungenschaften ausserhalb einer Gesellschaft entstehen und dann anders gearteten, in keiner Hinsicht für sie organisierten und auf sie vorbereiteten Kulturen aufgedrängt werden.

    «Aufgedrängt?»– «Die Leute wollen doch alles haben!» So könnte man einwenden. Doch man muss auch darauf achten, warum sie alles wollen. Es geht einfach nicht anders. Man muss es haben. Der anderthalb Jahrhunderte dauernde technologische Ansturm hat bewirkt, dass die nahöstlichen Länder ohne die aus der Industriewelt des Westens übernommenen «Errungenschaften», nennen wir sie ruhig einmal so, schlechterdings nicht überleben können. «Und warum haben sie damit angefangen, sie hätten ja gar nicht anfangen müssen?» Die Antwort auf diese Frage lautet ebenfalls: «Weil sie mussten.» Anfänglich ging es um kriegsnotwendige Waffen und Kriegstechniken. Die Angreifer hatten sie, man musste sie auch haben. Selbstaufgabe wäre die Alternative gewesen. Die 150 Jahre immer fulminanterer Übernahmen aus dem Westen haben heute kumulativ dazu geführt, dass nicht mehr sehr viel von nahöstlicher Eigenkultur und traditionellem Stil übrig geblieben ist – ausser einer kulturellen Archäologie. Die grossen Monumente der Vergangenheit werden nach Möglichkeit konserviert. Die Unesco übernimmt Patenschaften. Das Handwerk in der eigenen Tradition ist weitgehend reduziert auf die Herstellung von Touristenandenken, nur noch wenige echte, traditionell gefertigte Gebrauchsgegenstände gelangen in die Basare des Nahen Ostens. Meistens verkauft man auch dort industrielle Ware, oft Ausschussware. Der aus Europa eingeführte teurere Lebensstil setzt den ärmeren Menschen zu. Der Erfolg ist immer «europäisch» oder «amerikanisch», insofern als er an Dinge, Vorstellungen, Organisationsformen gebunden ist, die von dort kommen. Fast ohne Ausnahme gilt: Das Fremde erweist sich als erfolgreich, das Eigene mag ehrwürdig sein und altbewährt, aber es entbehrt des Erfolges.

    Eine neue Lage für die islamische Religion

    Auch der islamische Überbau der nahöstlichen Gesellschaften ist heute von diesen Entwicklungen betroffen. Irgendwie muss er zur Kenntnis nehmen und sich damit zu arrangieren versuchen, dass die andern, die ja zugleich Ungläubige sind, beständig mehr und durchschlagenderen Erfolg haben als die eigenen Leute, die Muslime. Diese neue Konfrontation geht durch die gesamte islamische Welt. Plötzlich kommt es nicht mehr so sehr darauf an, in welche althergebrachten Zusammenhänge eine Person, eine Familie, eine Kunst, ein Lebensstil eingebunden sind. Nein, für Erfolg oder Misserfolg zählt viel mehr, wie weit ein jeder versteht, die fremden Dinge zu übernehmen; mit den Ausländern zu verkehren, ihnen Dienste zu leisten, Waren anzubieten – am liebsten mögen sie Erdöl –, die sie zu bezahlen wünschen; sich ihren Erfindungen, Techniken, Vorbildern zu öffnen.

    Trotz allem aber ist die islamische Welt noch immer nicht einfach ein weit ausgedehntes Elendsquartier, das sich der industriellen Welt bedingungslos zu dienen gezwungen sieht. Ein zäher Wille besteht und hält sich noch, etwas Eigenes zu sein und zu bleiben. Aber die vielen Nuancen und Unterschiede, die Buntheit, die Vielfalt der Verwurzelungen in verschiedenen historischen Böden werden schwächer. Die entscheidende Kluft zwischen «uns» und «ihnen» wächst. Das führt zum stärksten aller Kontraste, weil die Fremden mit ihrer fremden Ware und ihrem fremden «Geist» so überwältigend eindringen und präsent sind, während man sich selbst irgendwie doch vor ihnen zu bewahren versucht. Die andern Gegensätze verblassen vor diesem einen. Das gefährdete «Wir» schlägt Alarm.

    Und gegen diese übermächtig eindringende fremde Welt gibt es nun plötzlich doch «den Islam», der den markanten Unterschied macht zwischen «uns» und «den Leuten des Westens». Er tritt hervor als das Wichtigste, was «uns» noch bleibt in der Überflutung mit dem Fremden. Er wird ein Symbol der Identität, «unserer» Identität im Gegensatz zu den übermächtigen Fremden.

    Ein Hort des Eigenen

    Dieser Islam, Ausdruck des Eigenen, der das «Uns» abhebt vom immer zudringlicheren Fremden, befindet sich oft auf der Grenzlinie zwischen Religion und Identität. Er wird immer wichtiger, er gewinnt ein neues Gewicht in der heutigen Konfrontation, in der das «Wir» infrage gestellt wird. Der Islam tritt hervor als ein letzter Hort der Eigenkultur gegenüber den Mächten des Fremden. Weil das gleiche Fremde in alle Länder eindringt, in denen der Begriff Islam etwas bedeutet, gibt es überall eine weitgehend gleichförmig gefasste islamische Antwort darauf. Neuerdings wird ein defensiver Islam auf der ganzen Linie, in allen Ländern, Kreisen, Zivilisationen in ähnlicher Art und Weise gelebt, als Schutzschild der Identität. Denn sie sieht sich überall in vergleichbarer Art und Weise angegriffen.

    Minderheitsgruppen, die es heute in allen islamischen Ländern gibt, gehen noch etwas weiter. «Ihr Islam» gibt ihnen Identität und darüber hinaus die Verheissung auf Erfolg. Islamistische Ideologen haben diese Lehre angesichts der Übermacht der Kolonialherren in kolonialen Zeiten entworfen. Seither hat sie sich ausgedehnt, weil die Übermacht des Fremden, der Fremdkultur im eigenen Lande, immer noch weiter wächst, obgleich die Kolonialheere abgezogen sind. Die neu entstandene Ideologie nennt man Islamismus. Sie ist nicht Islam, nicht Religion, weil es ihr nicht primär um das Verhältnis Gott – Menschen geht, sondern um ein Heilsversprechen für diese Welt, heute und morgen, wenn die Gefolgsleute nur tun, was ihnen der islamistische Ideologe empfiehlt.

    Die emotionale Zugkraft dieser Ideologie beruht auf dem Bedürfnis ihrer Gefolgsleute, endlich auch wieder einmal Macht und Erfolg zu haben. Die Ideologen des Islamismus versuchen, ihren Jüngern glaubhaft zu machen, dass dies geschehen werde, ja müsse, wenn sie nur ganz genau ihren Weisungen folgen. Es sind Weisungen, die sie als «islamisch» ausgeben, die, wenn man will, islamisch verkleidet sind, um sie bei den Gefolgsleuten der Ideologie glaubwürdig zu machen. Denn für die Gefolgsleute ist ganz klar: «Islam, ja, das ist unsere Sache!»

    Angesichts der vielen Missverständnisse und Fehlinterpretationen muss man darauf bestehen: Es gibt heute einen stark identitätsbezogenen Islam. Er kann so weit gehen, dass die Religion des Islam weniger als Religion denn als Identitätsmerkmal aufgefasst und verwendet wird. Diese neue Sicht des Islam ist eine Reaktion auf die von aussen eindringende Macht des Fremden, das oft entweder als «christlich» oder auch als «atheistisch» gesehen wird. Überall in der vielfältigen islamischen Welt wirkt die gleiche Entfremdung als Herausforderung. Sie ist eine Realität, mit der alle Muslime konfrontiert sind. Die Antwort darauf fällt tendenziell gleichartig aus. Wobei es schwierig ist, zu ermitteln, wie viele Personen in welchem Mass heute eher islamisch-religiöse Muslime sind und wie viele islamisch-identitäre. Die Tendenz jedoch ist spürbar. Die Identitätsfrage wird bedeutsamer. – Warum? – Weil die Identitäten durch das Fremde immer mehr infrage gestellt werden.

    Islamismus ist nach wie vor eine Sache von Minderheiten. Er beeinflusst jene Personen, die den Identitätsverlust so stark empfinden, dass sie in einem die Identität betonenden Islam Halt und Hoffnung suchen. Die radikalen oder gewaltbereiten Islamisten sind noch einmal eine Minderheit aus dieser Minderheit. Sie suchen Halt und Hoffnung bei einem identitären Islam, der ihnen gleichzeitig die Verheissung auf Erfolg verspricht. Sie lassen sich überzeugen, dass Erfolg in jeder Hinsicht mit Sicherheit eintritt, wenn nur bestimmte Vorschriften, wie sie die Scharia formuliert, von den Individuen peinlich genau erfüllt und von den Staaten auferlegt und durchgesetzt werden. Sie glauben auch, um dieses Ziel zu erreichen, müssten sie kämpfen und Blut vergiessen.

    Diese Zusammenhänge zu verstehen, wäre wichtig für die Aussenwelt, besonders die Europäer und Amerikaner, weil sie dann auch begreifen würden, dass ihr bisheriges Verhalten gegenüber «dem Islamismus» (manche verwechseln ihn immer noch mit dem Islam) ein Fehlverhalten gewesen ist und zu bleiben droht. «Krieg» gegen den Islamismus zu führen, kann ihn nur schüren, weil ein Krieg flächendeckend ganze Nationen ins Unglück stürzt. Viele Muslime in den bekriegten Regionen werden dadurch verwandelt, einige in Islamisten, und einige weiter radikalisiert zu gewaltbereiten Islamisten. Man hätte dies auch schon vor dem Irak-Debakel der amerikanischen Bush-Regierung wissen müssen.

    Polizeiliche Mittel gegen gewaltbereite Islamisten gezielt einzusetzen, ist notwendig und kann kurzfristig nützlich sein, um blutige Anschläge zu verhindern. Doch die strategische Gesamtschau darf nicht aus den Augen verloren werden. Sie wird durch die Ausgangslage bestimmt: Es ist die einer durch Unterwanderung und Überlagerung aus «dem Westen» bedrohten Kultur- und Religionswelt, die trotz aller Über- und Eingriffe des Fremden weiterhin als etwas Eigenständiges überleben will.

    Bild

    Die Kernländer des Islam

    Das Niltal

    Es gibt keine andere Landschaft im Nahen Osten, deren Grenzen gleich fest umschrieben sind wie diejenigen des Niltals: im Norden das Mittelmeer, im Osten und Westen Wüsten, im Süden die Stromschnellen des Nils, die das Land gegen Afrika hin weitgehend abschliessen. Heute sind die alten Barrieren der Stromschnellen allerdings teilweise überflutet durch den Nassersee, der hinter dem Hochdamm von Assuan entstanden ist. Diese geografische Eingrenzung hat über die fünf Jahrtausende hinweg, seit wir die Geschichte Ägyptens kennen, und gewiss auch schon während vieler Jahrtausende der Vorgeschichte, die Eigenart des Landes und seiner Bewohner geprägt.

    Die natürlich gegebene jährliche Nilüberschwemmung, die den Boden natürlich befeuchtete und düngte, war besonders geeignet, den Bewässerungsanbau zu fördern. Das bewirkte die sprichwörtliche Fruchtbarkeit des schmalen grünen Streifens, der den oberen Strom umsäumt, und des etwas breiteren Deltas, das mehrere Mündungsarme umfasst.

    Ober- und Unterägypten, vereint unter der Doppelkrone des Pharao, brachten über die Jahrtausende hinweg einen besonderen Menschenschlag hervor, der jedem Besucher bis heute in der Gestalt des Fellachen begegnet. Dies ist der urwüchsige ägyptische Bauer, der das Land bestellt. Schon von jeher muss er mit dem Allernotwendigsten auskommen, weil die staatliche Oberherrschaft, die städtischen Oberschichten und die kleinstädtischen Besitzer des Landes seine Arbeit und Ernte mit Steuern und Pachten belasten, die ihn und seine Familie immer nur knapp überleben lassen.

    Religion im Zentrum des Lebens

    Religion stand immer im Zentrum der ägyptischen Kultur, und die Oberherrschaft pflegt ihre Gelder unter Berufung auf sie zu erheben. Das Bewässerungssystem und die darauf beruhende Wirtschaft und materielle Kultur haben sich zäh erhalten, auch als neue Herrschaftshierarchien durch Eroberungen und politische Umstürze an die Macht gelangten und sogar als die vorherrschenden religiösen Vorstellungen sich grundlegend veränderten. Jede neue Herrschaft und jede neue Priesterhierarchie waren darauf angewiesen, das Land weiter fruchtbar zu erhalten, um daraus ihre Rente zu beziehen. Die Bebauer des Landes sind immer die gleiche Art Leute geblieben. Sie haben mit beinahe unveränderten Methoden über die Jahrhunderte unbeirrt weitergewirtschaftet, sie waren und blieben die geduldigen wahren Ägypter, die Bauern des Niltals und des Deltas, die man Fellachen nennt.

    Ein- und Ausfalltore

    Doch sogar das Niltal war nie hermetisch gegen die Aussenwelt abgeschlossen. Es besass und besitzt bis heute ein eigentliches Ausfalltor an seiner östlichen Mittelmeerküste. Dieser Durchgang, der wie ein doppelseitiger Trichter oder Engpass wirkte, diente Aus- und auch Einfällen. Die Verbindung nach Palästina über die Sinaihalbinsel hinweg war über Jahrtausende der wichtigste Weg des ägyptischen Einflusses auf die Umwelt des Niltals und auch der Weg, auf dem die meisten fremden Waren, Ideen, Heere, Eroberer, Gottesvorstellungen in das weitgehend geschlossene System Ägyptens eindrangen. Durch das nordöstliche Tor über den Sinai brachen aber auch die «Hyksos» ins Pharaonenreich ein, deren Herkunft umstritten ist. Ihre Fremdherrschaft über Unterägypten (1700 – 1580 v. Chr.) bildete den Einschnitt zwischen dem Mittleren und dem Neuägyptischen Reich. Später, ab 700 v. Chr., haben die grossen Eroberer des Orients und Okzidents immer wieder von Nordosten aus das Niltal in Besitz genommen, beginnend mit den mesopotamischen Grossreichen von Babylon und Assur, über die achämenidischen Perser, zu Alexander und seinen Diadochen, bis hin zu Rom und Byzanz.

    Alexandria als hellenische Pflanzstadt

    Die hellenische Invasion, die mit Alexander ebenfalls durch die syrische Pforte begann, hatte höchst bedeutsame Folgen für die Weltgeschichte. Alexandria, damals gegründet und von Beginn an von Griechen bevölkert, wurde im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. eines der wichtigsten, wenn nicht das wichtigste Zentrum der hellenistischen Wissenschaft und Kultur. Dort wurde alles Wissen der antiken Welt gesammelt und aufgearbeitet. Die Handbücher sämtlicher antiker Wissenschaften, die damals in Alexandria zusammengestellt worden sind, wirkten bis tief in die europäische Neuzeit hinein.

    Rom und Ostrom waren Land- und Seemächte, die zuerst das ganze und später nur noch das östliche Mittelmeer beherrschten. Das Niltal wurde Bestandteil der beiden Grossreiche.

    Die arabische Invasion

    Den gleichen Zugangsweg durch die nordöstliche Pforte fand die arabische Invasion (ab 631 n. Chr.) kurz nach dem Auftreten des arabischen Propheten. Sie hat Ägypten am tiefsten gezeichnet. Die grosse Mehrheit der Ägypter sind in den späteren Jahrhunderten Muslime geworden. Sie sprechen heute alle einen arabischen Dialekt. Eine Minderheit, die heute zwischen 10 und 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht, sind Christen geblieben, die Kopten, arabisch Qibt (in Ägypten «’Ibt» ausgesprochen), deren Name auf das griechische «Aigyptioi» zurückgeht und deren Kirchensprache die letzte Entwicklungsstufe der altägyptischen Sprache darstellt. Sie können sich daher mit Fug als die echtesten aller Ägypter ansehen.

    Meeresinvasionen

    Es gab noch andere offene Pforten. Die Küstenstädte am Mittelmeer, die der Seefahrt und dem Überseehandel dienten, werden von den Ägyptern oft Thughar genannt, was arabisch Grenzfestungen bedeutet, weil sie das lange Niltal gewissermassen abschlossen und bewachten gegen die Seemächte aus dem Norden, deren Handels- und Kriegsschiffe immer wieder die fruchtbaren Küsten des ägyptischen Deltas be- oder heimsuchten.

    In der westlichen, nach Libyen reichenden Wüste gab es Oasen, die teilweise von Ägyptern bevölkert waren, in die aber auch die Nomaden aus der Sahara, in erster Linie die libyschen Stämme, einsickerten. Osmotische Verbindungen an den durchlässigen äusseren Rändern des bebauten Niltals bestanden stets auch mit allen andern nomadischen Stämmen der Wüstenzonen. Sie haben gewiss viel zur sprachlichen Arabisierung des Niltals beigetragen.

    Syrien und Palästina als Vorfelder

    Ägypten hat immer zuerst Palästina und Syrien beeinflusst. In Syrien begegneten sich der ägyptische und der mesopotamische Einfluss, der seinerseits zeitweise über Palästina und Syrien hinweg bis nach Ägypten vordringen sollte. Machthaber von Gewicht, die das Niltal beherrschten, suchten regelmässig auch das Vorfeld von Palästina und Syrien unter ihre Kontrolle zu bringen. Dies gilt für Pharaos wie Tuthmosis III. (1501 – 1447 v. Chr.) oder Ramses II. (1292 – 1250 v. Chr.) und noch für den in der Bibel erwähnten Scheschonk I. (der 930 Jerusalem plünderte) so gut wie für die späteren arabischen Dynastien, die Kairo zum Sitz nahmen. Man kann die Tuluniden (868 – 905), die Fatimiden (910 – 1171), die Ayyubiden (1171 – 1250), die Mamluken (1250 – 1517) nennen. Aber auch die modernen Machthaber über das Niltal wie Napoleon 1798, Muhammed Ali (1803 – 1849), später die Engländer (im Ersten Weltkrieg 1917 mit der Eroberung Palästinas) und dann Nasser (1952 – 1970) haben versucht, von Ägypten aus den Weg nach Syrien zu beschreiten – nur dass die Modernen dabei auf die Gegenaktionen der nun ebenfalls einwirkenden europäischen Rivalenmächte und in der letzten Phase auch der Israeli trafen, die ihre Vorstösse zum Scheitern brachten.

    Identität durch das Niltal

    Trotz dieses kulturellen und imperialen Gebens und Nehmens ist Ägypten durch das Niltal, dem kein anderes Tal der Welt gleicht, etwas weitgehend Eigenes geblieben. Die erstaunlich gleichartige Grundbevölkerung besteht seit Jahrtausenden aus Bewässerungsbauern. Das Nilwasser, welches das Land befruchtete, brachte reiche Ernte für die Regierungszentralen, die sich zu lebhaften Grossstädten entwickelten. Die geografischen Gegebenheiten begünstigten die wirtschaftliche und die soziale Entwicklung, sodass die Menschen ihrerseits über Jahrtausende das Land im Rahmen des Möglichen und nach Massgabe der bisher bestehenden Traditionen formten und prägten. Das Land formte die Menschen, und die Menschen formten das Land. Neuentwicklungen setzten sich an der Oberfläche fest wie die alljährlichen Schlammablagerungen durch den Nil. Die Samen und Wurzeln, die im Land steckten, drangen immer wieder nach oben, sodass die neuste Ablagerung bald mit der alten Erde verschmolz.

    Im sozialen und politischen Bereich war es wie in der Landwirtschaft, denn die Fellachen mussten weiterarbeiten, und die neuen Oberherren mussten dafür sorgen, dass dies geschah, wenn sie den Reichtum des Landes geniessen wollten. So unter den Pharaos gute 2500 Jahre lang, den Babyloniern, den Assyrern, den Persern, den Griechen, den Römern, den Byzantinern, den arabischen Stämmen und den weitern Herrschern und Dynastien. Das alles geschah auch im Zeichen der altägyptischen Religion, der später ihr beigemischten hellenischen und römischen Gottheiten, dann des Christentums und darauf des Islam in seinen wechselnden Ausprägungen zuerst sunnitischer, dann schiitischer und erneut sunnitischer Spielart.

    Einbruch der europäischen Moderne

    Ähnlich wie in fast allen andern Ländern des islamischen Nahen Ostens geriet die materielle Kultur Ägyptens nach Jahrhunderten scheinbarer Stagnation, die in Wirklichkeit eher eine fast unmerklich langsam fortschreitende Entwicklung vor- oder rückwärts gewesen war, im 19. Jahrhundert plötzlich in Bewegung. Den Anstoss dazu gab Napoleon Bonaparte, als er 1798 mit seinen Truppen in Alexandria landete und bei den Pyramiden die damaligen Herrscher, das Reiterheer der Mamluken, schlug. Die französische Invasion hatte das Eingreifen osmanischer Truppen und deren englischer Verbündeter zur Folge; darauf ergriff der mit den Osmanensoldaten eingezogene Offizier albanischer Herkunft, Muhammed Ali, die Macht, definitiv 1811 durch die Niedermetzelung der letzten überlebenden Mamluken auf dem Hohlweg zur Zitadelle von Kairo.

    Beginn der «Verwestlichung»

    Muhammed Ali unterzog das Niltal einer ersten, 29 Jahre lang dauernden, überaus gewalttätigen «Verwestlichungskur». Wie in allen andern Ländern der Region ging «die Verwestlichung» (wie man sie später genannt hat, die Zeitgenossen sprachen eher von Reformen) von militärischen Notwendigkeiten und Zwängen aus. Vor allem andern brauchten die Machthaber zeitgemässe Bewaffnung und Kampftechnik. Denn es war klar geworden, dass eine solch «moderne» Armee allen andern in der Region überlegen sein würde und dass nur sie im Kampf gegen die Soldaten des europäischen Westens bestehen konnte.

    Eine «moderne» Armee

    Unter der Aufsicht französischer Offiziere und Unteroffiziere wurden die Söhne der Fellachen zwangsausgehoben und mussten exerzieren lernen. Sie taten es natürlich ungern, und ihre Väter und Mütter wussten, dass sie nach menschlichem Ermessen nie mehr, weder tot noch lebendig, nach Hause zurückkehren würden. Es kam deshalb häufig vor, dass die Fellachen ihren Söhnen die Vorderzähne ausbrachen. Diese wurden bei den damaligen Exerzierbewegungen gebraucht, um die Patronentaschen aufzureissen. Als die fehlenden Vorderzähne die Fellachensöhne nicht vor der Rekrutierung bewahrten, begannen die Bauern ihren Kindern die Zeigefinger abzuschneiden, die den Gewehrabzug bedienten, später sogar ein Auge auszudrücken. Doch dies hatte nur zur Folge, dass der Machthaber Regimenter aus Zeigefingerlosen und Einäugigen aufstellen liess.²

    Erfolge und Folgen einer modernen Armee

    Die neuen Armeen Muhammed Alis führten in der Tat erfolgreiche Kriege, zuerst in Arabien gegen die Wahhabiten, Vorläufer der heutigen saudischen Herrschaft, später gegen die osmanischen Heere des Sultans, obwohl dieser theoretisch noch immer als der Oberherr Muhammed Alis fungierte.

    Das neue Heer bedingte jedoch eine ganze Reihe von weitern Neuerungen: Pulverfabriken, Waffenmanufakturen, Kanonengiessereien, Werkstätten für Stiefel und Uniformen, ein Sanitätswesen, Schulen für Offiziere, die etwas von Mathematik, besonders Ballistik, Kartografie, Geografie, Taktik, Strategie und Waffentechnik verstehen mussten. Dies waren Dinge, die man damals nicht in arabischer Sprache lernen konnte, man brauchte Französisch oder Englisch dazu. Eine schulische Erziehung nach westlichem Vorbild musste der Offiziersausbildung zugrunde gelegt werden. Dazu benötigte man Bücher in französischer, englischer und in arabischer Sprache. Muhammed Ali liess daher die erste arabische Druckerei in Bulaq, dem am Nil gelegenen Hafen und Vorort von Kairo, errichten.

    Den Manufakturen für den Armeebedarf folgten andere für Konsumgüter der Oberschichten, die man sonst aus Europa hätte einführen müssen. Importsubstitution sollte Devisen sparen. Finanzwesen und Verwaltung mussten umgebaut werden, um die für die neuen Bedürfnisse des Staates notwendigen Gelder zu mobilisieren.

    Muhammed Ali erklärte kurzerhand allen Grundbesitz Ägyptens zu seinem persönlichen Eigentum. Das moderne Bildungswesen nach europäischem Vorbild wurde von den militärischen auf die zivilen Oberschichten ausgedehnt. Muhammed Ali ging dazu über, sogenannte Delegationen von jungen Ägyptern in die europäischen Hauptstädte zu entsenden, vor allem nach Paris und London, wo jeder Student eine eigene, ihm vorgeschriebene Wissenschaft oder Technik zu lernen hatte. Auch dies setzte natürlich das Erlernen der Fremdsprache voraus.

    Verbindungsleute zum Westen

    Es war ein Geistlicher, der die erste Delegation nach Paris begleitete und dort betreute, Imam Rafi’ Rif’a Tahtawi (1801 – 1873),

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