Strategien in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft
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Strategien in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft - NZZ Libro
SOZIALWISSENSCHAFTLICHE STUDIEN DES SCHWEIZERISCHEN INSTITUTS FÜR AUSLANDFORSCHUNG
BAND 37 (NEUE FOLGE)
Begründet von
Prof. Dr. Dr. h.c. Friedrich A. Lutz (†)
siafwww.siaf.ch
Strategien in Politik,
Wirtschaft und Wissenschaft
Herausgegeben von Martin Meyer
Beiträge von: Michael Ambühl, Ulrich Beck, Hans Blix, Timothy Garton Ash, Ueli Maurer, Volker Perthes, Ernst Pöppel, Karl Fürst zu Schwarzenberg, Heidi Tagliavini, Hans Tietmeyer
NZZ Libro
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2020 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG
Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2011 (ISBN 978-3-03823-674-0)
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
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ISBN E-Book 978-3-03810-462-9
www.nzz-libro.ch
NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG
Inhalt
linienVorwort
MICHAEL AMBÜHL
Finanzmarktpolitik in kritischen Zeiten
ULRICH BECK
Kant oder Katastrophe – neue Formen kosmopolitischer Schicksalsgemeinschaft und Konfliktdynamiken in der Weltrisikogesellschaft
HANS BLIX
The outlook for disarmament
TIMOTHY GARTON ASH
Europe in a non-European world
UELI MAURER
Sicherheitspolitik zurück auf der Agenda
VOLKER PERTHES
Strategische Herausforderungen in der globalisierten Welt
ERNST PÖPPEL
Gehirn und Persönlichkeit: neurowissenschaftliche Erkenntnisse oder «Neuro-Pop»?
KARL FÜST ZU SCHWARZENBERG
Gegenwart und Zukunft Mitteleuropas
HEIDI TAGLIAVINI
Ungelöste Konflikte im Kaukasus: Herausforderungen, Möglichkeiten und Aussichten
HANS TIETMEYER
Europa vor neuen wirtschaftlichen Herausforderungen
Autoren und Herausgeber
Vorwort
linienStrategien in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft – so lautet die Überschrift dieses Bandes, der die Vorträge enthält, die im Jahr 2010 im Rahmen der Programme des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung an der Universität Zürich gehalten worden sind. Der Titel reflektiert im engeren Sinn zugleich den Herbstzyklus des Instituts, der ausdrücklich unter dieser Thematik stand.
Strategien sind in einer komplexen, vielfach vernetzten Welt unerlässlich. Zugleich bleibt regelmässig zu erfahren, dass auch die beste Strategie keine Zielgewissheit in sich trägt. Es ist bisher und noch immer das Wesen des Politischen, dass es eine häufig unberechenbare, nicht selten auch gefährliche Dynamik entfaltet. Dies gilt, mutatis mutandis, auch für die Wirtschaft. Die Globalisierung hat den Wettbewerb erhöht und damit auch die Kräfte der Innovation stärker gefordert. Gute Strategien haben nicht nur die Märkte im Auge, sondern auch die Leistungsfähigkeit der Produktion. Schliesslich sieht sich die Wissenschaft durch erstaunlichen Erkenntnisgewinn vor die Frage gestellt, wie und mit welchen Folgen solches Wissen umzusetzen ist in die modernen Lebenswelten. Auch hier sind Strategien verlangt.
Betrachtet man die Themen, die zwischen Februar und November 2010 an der Universität Zürich behandelt wurden, so ist deren Dringlichkeit unübersehbar. Das gilt z.B. für die Finanzmarktpolitik der Schweiz während und nach der grossen Wirtschaftskrise, es gilt für die Sicherheitspolitik unseres Landes, aber es gilt weiterhin auch für europäische Konstellationen und zuletzt auch für die Welt insgesamt. Dass wir immer mehr zu einer kosmopolitischen Schicksalsgemeinschaft werden, hat die Reaktorkatastrophe nach dem Erdbeben vor Japans Küste im März 2011 dramatisch vor Augen geführt. Schon deshalb liest sich der Vortrag von Ulrich Beck bereits in der Verlängerung dessen, was am 25. März 2010 in der Aula der Zürcher Universität zu hören war.
Strategische Herausforderungen in der globalisierten Welt – um den Titel des Referats von Volker Perthes aufzugreifen – sind ohnehin in Evidenz. Auch hier schreibt die Zeitgeschichte fleissig weiter, was ihr Analytiker ausgebreitet hat. Die politischen Aufstände im Magreb und in Ägypten, insbesondere auch der Bürgerkrieg in Libyen – mit ungewissem Ausgang zum Zeitpunkt, da diese Zeilen geschrieben werden – lesen sich wie Fortsetzungen auf das Potenzial an Konflikten und Bedürfnissen, die seit dem Ende der bipolaren Welt sich zu Worte melden. Auch das Thema der Abrüstung bleibt auf der Agenda, zumal mit Blick auf die Begehrlichkeiten von Teheran, die bisher keineswegs zurückgefahren worden sind.
So bestätigt sich eine alte Wahrheit unter laufend neuen Vorzeichen: Ein wesentliches Charakteristikum der Weltgeschichte ist die Ungewissheit. Das darf nicht davon abhalten, gleichwohl Szenarien zu entwerfen und Chancen zu prüfen. Vorbereitung hat noch selten geschadet, auch wenn sie sich später als unnütz erwies. In diesem Sinne versteht sich das Schweizerische Institut für Auslandforschung engagiert als Kompetenzzentrum für Wissensvermittlung, Hintergrundanalyse und profilierte Meinung aus der Kompetenz von Expertinnen und Experten. Das Echo in der Öffentlichkeit gibt dieser Strategie recht: Im Geschäftsjahr 2010 besuchten wiederum mehrere Tausend Zuhörerinnen und Zuhörer unsere Veranstaltungen. Wir danken ihnen herzlich für ihr Kommen, ihre Neugier und ihr Interesse.
Danken dürfen wir wiederum ebenso herzlich auch unseren Partnern, ohne die wir unsere Tätigkeit niemals so effizient und reichhaltig durchführen könnten. Im Berichtsjahr 2010 sind dies Credit Suisse, Ernst & Young, Nestlé, Swiss Life, Swiss Re, UBS und die Bank Vontobel. – Zum ersten Mal wurde überdies ein Referat gehalten in Erinnerung an Dr. Fred Luchsinger, Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung von 1968 bis 1985. Diese «Fred Luchsinger Memorial Lecture» wurde bestritten von Timothy Garton Ash. Als Inspirator für dieses Format im Rahmen des Programms wirkt Professor Wolfgang Schürer; auch ihm sei herzlich gedankt.
Zuletzt sei eines Partners gedacht, der das Institut mit Wort und Tat in ausserordentlicher Weise unterstützte. Im November 2010 verschied nach kurzer Krankheit Dr. Branco Weiss. Seinem Andenken ist dieser Band gewidmet.
Dr. Martin Meyer, Delegierter und Vizepräsident des Vorstands SIAF
Finanzmarktpolitik in kritischen Zeiten
linienMICHAEL AMBÜHL
Vortrag vom 4. November 2010
Zwei ältere Herren sitzen in Brüssel am Rond-Point Schuman auf einer Parkbank. Kommt ein Schweizer raschen Schrittes angelaufen und erkundigt sich auf Französisch nach dem Weg zum Bahnhof. Die beiden auf der Bank schauen sich an und schweigen. Unser Schweizer, nicht verlegen, erkundigt sich auf Deutsch. – Keine Antwort. Auch auf die Anfrage auf Holländisch und Englisch kommt keine Antwort. Entnervt hetzt der Schweizer weiter. Sagt der eine Mann auf der Bank zum anderen: «Hast du gesehen, der spricht viele Sprachen!» Sagt der andere: «Ja, aber was hat es ihm genützt?!»
Es bringt nichts, besonders gescheit zu sein oder viele Sprachen zu sprechen, wenn das Gegenüber das Gesagte weder verstehen noch nachvollziehen kann oder will. Dies gilt auch für das Thema der Finanzmarktpolitik. Wenn die Schweiz mit ihrer Finanzmarktpolitik Erfolg haben will, muss sie international Verständnis und Anerkennung finden. Erst dann kann sie ihre Stärken ausspielen.
Ich möchte im Folgenden zuerst kurz darlegen, was sich in den vergangenen zwei Jahren international auf den Finanzmärkten und in den Aufsichts- und Regulierungsgremien ereignet hat. Dann werde ich erläutern, welche Herausforderungen sich daraus für die Schweiz ergeben. Anschliessend geht es darum, wie wir als Behörde darauf reagieren, was wir tun. Und schliesslich werde ich die Frage erörtern, wie sich die Schweiz international Gehör verschaffen und einbringen kann. Und zwar so, dass es die beiden Herren im Park, und möglichst noch viele andere, auch wirklich verstehen.
Ausgangslage
Was wir in den vergangenen zwei, drei Jahren gesehen haben, ist nicht «die Finanzkrise». Vielmehr handelt es sich um mehrere, sich überlappende und teilweise gegenseitig beeinflussende Krisen, bei denen Ursache und Wirkung nicht immer klar voneinander abzugrenzen sind:
– Erstens die Nachwehen der Bankenkrise, die sich im Herbst 2008 mit konkreten Ereignissen – nämlich dem Zusammenkrachen mehrerer Banken in den USA – manifestierte, sich jedoch bereits angebahnt hatte. Seit 2008 sind allein in den USA 306 Bankinstitute in Konkurs gegangen.
– Zweitens eine allgemeine Wirtschaftskrise, die zu einem wesentlichen Teil – aber nicht nur – durch die Bankenkrise ausgelöst wurde, da der Verlust oder das Schlingern von Grossbanken in Staaten mit wichtigen Finanzplätzen einen empfindlichen Einfluss auf deren Gesamtwirtschaft hatte. Was viele Ökonomen kaum für möglich gehalten hatten, passierte: Die globale Wirtschaftsleistung war 2009 um minus 0,6 Prozent rückläufig.
– Drittens die Währungskrise, hauptsächlich im Euro-Raum. Die Ursachen dafür liegen nur teilweise in der hohen Staatsverschuldung; andere Faktoren spielen ebenfalls hinein, wie etwa tief gehende strukturelle Wirtschaftsprobleme in einigen Ländern des Euro-Raums oder ineffiziente staatliche Investitionen.
– Und schliesslich – vierte Krise – eine Schuldenkrise. Die Staatsverschuldung in der Euro-Zone wird von 2007 bis 2011 voraussichtlich um 20 Prozent steigen. Die kumulierte weltweite Verschuldung der Staaten beträgt über 40 Billionen US-Dollar, nämlich 40 525 Milliarden, eine zwölfstellige Geldsumme, welche die öffentliche Hand ausgibt, obwohl sie sie nicht hat.
Für 2010 liegen noch nicht genügend Vergleichszahlen vor, jedoch zeichnet sich bereits ab, dass kein einziges Euro-Land die Maastricht-Kriterien kumulativ erfüllen dürfte – auch Luxemburg nicht, da dessen Defizitquote für das laufende Jahr auf 3,5 Prozent geschätzt wird.
Die teils hohe Staatsverschuldung war schon länger ein Problem, das jedoch nicht in diesem Masse wahrgenommen wurde – Japan und die USA weisen seit Jahren Verschuldungsquoten in diesem Bereich auf. Dafür, dass sich die Situation nun derart zugespitzt hat, können gemäss dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank, jean-Claude Trichet, drei Ursachen identifiziert werden: (1) der Rückgang der Steuereinnahmen wegen der Wirtschaftskrise, (2) die hohen staatlichen Investitionen zur Bekämpfung der Rezession und schliesslich (3) die Interventionen zur Bankenrettung. Der dritte Grund tritt allerdings gegenüber den anderen beiden in den Hintergrund. Anders gesagt: Wir hätten die Schuldenkrise auch ohne die staatlichen Bankenrettungsmassnahmen, nur vielleicht nicht ganz in diesem Ausmass.
Herausforderungen
Natürlich ist die Schweiz von den erwähnten Krisen mit betroffen. Unser Finanzplatz spielt für die Gesamtwirtschaft eine wichtige Rolle. Sein Anteil am Bruttoinlandsprodukt liegt mit rund 10 Prozent zwar deutlich tiefer als im Fall von Luxemburg (28 Prozent), ist aber immer noch bedeutend und befindet sich in der gleichen Grössenordnung wie in den USA oder Grossbritannien mit 8 Prozent. Der Finanzsektor trägt massgeblich zum schweizerischen Wohlstand bei.
Was in anderen Teilen des globalisierten Finanzplatzes geschieht, berührt somit auch uns. Doch trotz der Krisen steht die Schweiz heute im internationalen Vergleich relativ gut da:
– Während die meisten Staaten tiefer in die Verschuldung geraten sind, hat die Schweiz diese reduziert.
– Der Finanzsektor musste zwar auch in der Schweiz staatlich gestützt werden, aber im internationalen Vergleich mit deutlich geringeren Mitteln – vielleicht resultiert aus diesem Engagement am Ende sogar ein Gewinn für den Staat.
– Die Schweiz gehört immer noch zu den wettbewerbsfähigsten Ländern. So ist etwa die Arbeitslosenquote im internationalen Vergleich sehr niedrig und die Steuersituation weiterhin attraktiv.
Diese Diskrepanz zwischen der gebeutelten Weltwirtschaft einerseits und der vergleichsweise prosperierenden Schweiz anderseits führt zu nahe liegenden Begehren unserer Partner und Nachbarn, was sich insbesondere im Steuerbereich äussert. Unabhängig von der gegenwärtigen globalen Finanz- und Fiskalsituation weist die Schweiz im Finanzbereich zudem zwei Besonderheiten auf, die für Diskussionsstoff mit unseren Nachbarn und Partnern sorgen: Zum einen hat die Privatsphäre in finanziellen Angelegenheiten – das Bankgeheimnis – bei uns eine lange und gefestigte Tradition. Zum anderen sind die Schweizer Steuersysteme international nicht ganz stromlinienförmig, was zu Reibungspunkten führt.
Dieses globale Umfeld mit den verschiedenen, verflochtenen Krisen im Finanz- und Wirtschaftsbereich führt dazu, dass sich die Schweiz in der internationalen Finanz- und Steuerpolitik gegenwärtig mit schwierigen Herausforderungen konfrontiert sieht:
– Es gibt einen massiven Druck auf das Bankgeheimnis und auf das Schweizer Steuersystem.
– Wir müssen Lösungen im Bereich der Finanzmarktregulierung finden.
– Es stellt sich die generelle Frage der Einflussmöglichkeiten der Schweiz in der internationalen Finanzarchitektur.
Wir werden aber nicht nur herausgefordert, sondern wollen auch etwas erreichen. Mit anderen Worten: Was ist unser Ziel? Wir wollen einen wettbewerbsfähigen, sicheren und weltweit akzeptierten Finanzplatz Schweiz, der Stellen schafft, Steuern zahlt und zum Wohlstand unseres Landes entscheidend beiträgt. Letztlich geht es darum, wettbewerbsfähig zu sein und zu bleiben, ohne Gefahr zu laufen, jede zweite Woche auf irgendeiner «schwarzen Liste» zu landen.
Was tun wir?
Wie erreichen wir dieses Ziel angesichts der zuvor erwähnten Herausforderungen? Was tun wir in den drei Bereichen Steuern, Finanzmarktregulierung und internationale Finanzarchitektur?
Steuern
Letzthin habe ich ein Stelleninserat mit folgenden Anforderungen gelesen: «Sie müssen aus dem Stand aufrecht 30 Zentimeter hoch springen können, 26 Rumpfbeugen in einer Minute schaffen und gleich anschliessend 300 Meter in höchstens 82 Sekunden zurücklegen können. Sie müssen eine Ahnung haben vom Rechnungswesen und entsprechende Zertifikate vorweisen. Sie müssen im Weiteren bereit sein, im ganzen Land zu arbeiten. Zudem müssen Sie eine Waffe tragen und sie notfalls auch einsetzen können.» Wenn Sie diese Fähigkeiten alle erfüllen, dann können Sie sich auf die entsprechende Ausschreibung melden, und zwar bei der Steuerbehörde eines grossen OECD-Landes als Criminal Investigation Special Agent, kurz: als Steuereintreiber bei zahlungsunwilligen Bürgerinnen und Bürgern.
Auch die Schweiz will natürlich, dass alle Leute die Steuern zahlen, und zwar sowohl jene, die hier wohnen, als auch jene, die nur ihr Geld hier haben. Wir glauben aber, dass dazu keine Pistolen nötig sind. Vielmehr setzen wir auf ein Konzept, das Rechtssicherheit schafft, das den Bürgerinnen und Bürgern einleuchtet und das dem Staat effizient zu seinen Steuereinnahmen verhilft. Wohlgemerkt: Wir sind für den Wettbewerb, und andere Länder dürfen sich sogar ein wenig über unsere niedrigen Steuern ärgern. Aber der Wettbewerb muss fair sein. Wir müssen verhindern können, immer wieder auf irgendwelche schwarze Listen zu geraten.
Im internationalen Kontext gibt es zwei Bereiche von Steuern, diejenigen