Reformbedürftige Volksinitiative: Verbesserungsvorschläge und Gegenargumente
By Georg Kreis
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Mit Beiträgen von Andreas Auer, Christine Egerszegi- Obrist, Astrid Epiney, Andreas Gross, Georg Kreis, Giusep Nay, Lukas Rühli, Daniel Thürer
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Reformbedürftige Volksinitiative - Georg Kreis
[DIE NEUE POLIS]
Herausgegeben von Astrid Epiney, Dieter Freiburghaus, Kurt Imhof (†) und Georg Kreis
DIE NEUE POLIS ist Plattform für wichtige staatsrechtliche, politische, ökonomische und zeitgeschichtliche Fragen der Schweiz. Eine profilierte Herausgeberschaft versammelt namhafte Autoren aus verschiedenen Disziplinen, die das Für und Wider von Standpunkten zu aktuellen Fragen analysieren, kontrovers diskutieren und in einen grösseren Zusammenhang stellen. Damit leisten sie einen spannenden Beitrag zum gesellschaftspolitischen Diskurs. Vorgesehen sind jährlich zwei bis drei Bände in handlichem Format und wiedererkennbarem Auftritt für ein breites, am aktuellen Zeitgeschehen interessiertes Publikum.
Verlag Neue Zürcher Zeitung
Reformbedürftige Volksinitiative
Verbesserungsvorschläge und Gegenargumente
Herausgegeben von Georg Kreis
Mit Beiträgen von Andreas Auer, Christine Egerszegi-Obrist, Astrid Epiney, Andreas Gross, Georg Kreis, Giusep Nay, Lukas Rühli und Daniel Thürer
Verlag Neue Zürcher Zeitung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2016 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich
Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2015 (ISBN 978-3-03810-155-0)
Titelgestaltung: unfolded, Zürich
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
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ISBN E-Book 978-3-03810-174-1
www.nzz-libro.ch
NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung
Vorwort
Im Juni 2015 waren 14 Initiativen im Verarbeitungsprozess hängig oder abstimmungsreif, und wiederum 14 Initiativen waren im Sammelstadium. Die Zahlen könnten inzwischen noch gestiegen sein. Es vergeht kaum eine Woche, ohne dass von weiteren Initiativen mindestens die Rede ist. Darum sprechen manche von einer «Initiativenflut». Mehr als die Menge dürften indessen bestimmte Initiativinhalte irritieren – und die Erfahrung, dass sie angenommen wurden, sowie die folgerichtige Befürchtung, dass solche Initiativen wahrscheinlich weiterhin Erfolg haben könnten.
Das Mengenproblem ist von der Staatspolitischen Kommission des Ständerats so umschrieben worden: «Seit Bestehen des Instruments der Volksinitiative (1891) sind Volk und Ständen 200 Initiativen zur Abstimmung unterbreitet worden. Gut ein Drittel dieser Volksabstimmungen fanden in diesem Jahrhundert statt, also in den letzten 15 Jahren, was auf die grosse Beliebtheit dieses Instrumentes in jüngster Zeit hinweist. Noch markanter ist die Zunahme von Volksinitiativen, welche in der Abstimmung erfolgreich waren: Von den 200 Volksinitiativen wurden insgesamt 22 von Volk und Ständen angenommen, wobei seit der Jahrtausendwende zehn erfolgreich waren.»¹
Muss nun das Initiativrecht mit zusätzlichen, domestizierenden Bestimmungen versehen werden? Einiges spricht dafür, einiges dagegen. Eine dritte Frage ist, ob eine Reform, wenn sie denn als wünschbar und nötig erscheinen würde, politisch überhaupt realisierbar wäre. Dazu gibt es sehr skeptische Stimmen, die mit Blick auf die versandeten Reformbemühungen der letzten Jahre ernüchtert an der Reformierbarkeit der staatlichen Institutionen zweifeln und hinsichtlich der Volksinitiative der Meinung sind, dass nichts anderes übrig bleibt, als sich fallweise mit den Inhalten der Volksinitiativen auseinanderzusetzen und auf die Kraft der Argumente zu zählen.²
Die Debatte dazu läuft, Entscheide sind oder wären fällig. Der vorliegende Band umfasst acht Beiträge, in denen ausgewiesene Experten und Expertinnen aus historischer, politischer und vor allem aus juristischer Sicht die sich stellenden Fragen diskutieren. Dabei kommt es unvermeidlicherweise zu gewissen Überschneidungen, die aber aus Rücksicht auf die Argumentationsführung der einzelnen Beiträge bewusst nicht vermieden wurden.
In einem ersten Beitrag werden von Herausgeberseite die Anfänge des 1891 auf Bundesebene in einem Reformakt in das politische System eingeführten Instruments der direkten Mitbestimmung in Erinnerung gerufen und der inzwischen offensichtlich gewordene neue Reformbedarf aufgezeigt sowie die verschiedenen Reformvorschläge der jüngsten Zeit vorgestellt.
Andreas Gross würdigt, nachdem er den Eindruck der Vielzahl der Volksinitiativen relativiert hat, die für die Freiheit der Bürger und Bürgerinnen wichtige Möglichkeit der direkten Einwirkung auf die Politik. Er will diese nicht auf allgemeine Anregungen beschränkt sehen und sieht in der Veranlassung von Gegeninitiativen einen konstruktiven Effekt. Gross hält aber auch eine Begrenzung der Volksinitiativen für nötig, wenn diese nicht «auf den Ball», sondern auf «Mitspieler», das heisst Mitglieder der Gesellschaft, zielen. Volksinitiativen, die mit den Menschenrechten kollidieren, sollen dies entweder explizit deklarieren müssen, oder sie sollen aber vor allem vom Parlament, gestützt auf einen noch in die Verfassung einzufügenden Vorbehalt dieser Art, an das Bundesgericht zur Nachredaktion weitergegeben werden.
Andreas Auer ist dezidiert der Meinung, dass sich das Problem der menschenrechtswidrigen Volksinitiativen ohne Verfassungsrevision, ohne Abbau der Volksrechte, ohne Verminderung des Grundrechtsschutzes, ohne Neuinterpretation klassischer Rechtsinstitute wie jenes des zwingenden Völkerrechts und auch ohne Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit bewältigen lasse. Er setzt vor allem darauf, dass die Richter in Lausanne und Strassburg, wie das Bundesgericht bei kantonalen Volksvorlagen, grundrechtswidrigen Verfassungsbestimmungen im Einzelfall die Anwendung versagt. Grundrechte dürften von Volksinitiativen zwar eingeschränkt, aber nicht verletzt werden.
Daniel Thürer wirft einen Blick auf neuere, zum Teil fragwürdige Entwicklungen der direkten Demokratie und die moderne, oft verkannte Gestalt des Völkerrechts sowie auf das innere Spannungsverhältnis zwischen Volksinitiative und Völkerrecht. Er hebt insbesondere hervor, dass das Völkerrecht längst nicht mehr als «Machwerk» von Regierungsabkommen erscheint, sondern sich selbst als demokratisch begründete Ordnung versteht und den Staaten demokratische Ordnungsstrukturen vorschreibe. Thürer entwickelt zwei Vorschläge zur Verhinderung von Kollisionsproblemen und zur Vermeidung, dass Bürger tyrannische Entscheide über Nichtbürger, Mitglieder über Nichtmitglieder fällen. Die Richter sollen als Garanten von Fairness im demokratischen Prozess vermehrt angerufen werden können.
Astrid Epiney geht davon aus, dass nicht Bundesgesetze und Völkerrecht durch schwer umsetzbare Volksinitiativen «Massgeblichkeit» verlieren, sondern es die Volksinitiativen sind, weil sie nur in eingeschränktem Mass die angestrebte Rechtswirkung entfalten können. Diese Inkongruenz rufe dennoch nach einer Reform. Epiney diskutiert vier Reformvarianten und hält die vierte, die Initiative in Form einer allgemeinen Anregung, für die beste, weil sie den nötigen Umsetzungsspielraum zur Verfügung stellt. Auch könne diese Form der Initiative durchaus effektiv sein. Allerdings wäre eine derartige Beschränkung aus politischer Sicht wohl nicht ganz einfach zu verwirklichen, sodass auch darüber hinaus über eine Revision des Artikels 139 BV nachgedacht werden sollte (z. B. über eine Erhöhung der Unterschriftenzahlen für die Volksinitiative in der Form der allgemeinen Anregung auf 200 000).
Ausgehend davon, dass Rechte der Menschen nicht Rechte anderer Menschen beschneiden dürfen, betont Giusep Nay, dass nicht einzig ein Verstoss gegen das zwingende Völkerrecht, sondern auch gegen den Grundbestand der Bundesverfassung mit den Grundrechtsgarantien und dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit ein Grund für die Ungültigerklärung einer Volksinitiative sein muss, weil Ersteres sonst nicht garantiert ist und sich das Volk als Gemeinschaft gleichberechtigter Menschen selbst disqualifiziert. Solche Initiativen sind – das ihr besonderer Ansatz – auch nicht umsetzbar, verschaukeln nur das Volk und verletzen so die Garantie der unverfälschten Stimmabgabe. Er befürwortet eine nicht bindende materielle (und nicht nur formelle) Vorprüfung von Initiativen vor der Unterschriftensammlung durch die Bundeskanzlei. Nay tritt aber auch für die Schaffung einer Beschwerdemöglichkeit an das Bundesgericht gegen die Gültig- oder Ungültigerklärung von Volksinitiativen durch die Bundesversammlung ein.
Welche wirtschaftliche Bedeutung hat die Handhabung von Volksinitiativen? Lukas Rühli beurteilt in seinem Beitrag die Wirtschaftsfreundlichkeit von «Volksinterventionen» anhand der Parolen der wirtschaftsnahen Verbände. Demnach sei die grosse Mehrheit der Volksinitiativen wirtschaftsrelevant und davon seien fast alle wirtschaftskritisch. Bei den wirtschaftlichen Akteuren führe das derzeit zu einer gewissen Verunsicherung bezüglich der Stabilität der guten Rahmenbedingungen in der Schweiz. Allerdings habe sich nicht so sehr der Charakter der Volksinitiativen verändert, sondern vielmehr sei schlicht ihre Zahl gestiegen. Dem auch seines Erachtens bestehenden Reformbedarf könne man in mehrfacher Weise Genüge tun, zum Beispiel mit der Erhöhung des Unterschriftenquorums auf rund 211 000 (was 4 Prozent der Stimmberechtigten entspräche), mit der Beschränkung der Vorlagen pro Abstimmungstermin und mit der Einführung der Gesetzesinitiative.
Abschliessend würdigt Christine Egerszegi-Obrist nochmals die konstruktive Seite der Volksinitiativen, setzt sich dann aber eingehend mit den «Schattenseiten» auseinander. Dabei betont sie, dass der gegebene, vom Volk ebenfalls gutgeheissene Verfassungsbestand zu achten sei und die nach der Annahme von Volksinitiativen nötige Umsetzungsaufgabe des Gesetzgebers nicht mit Durchsetzungsinitiativen vorschnell beeinträchtigt werden dürfe. Die Reformvorschläge der Staatspolitischen Kommission des Ständerats, der sie selbst angehört hat, wertet sie als kleinen, aber wichtigen Schritt vorwärts.
Die hier vorgenommene Auslegeordnung verweist auf die in jüngerer Zeit akzentuiert in Erscheinung getretene Problematik und zeigt Lösungen auf. Letztere müssen, sofern die jetzige Regelung und ihre Nutzung als reformbedürftig eingestuft werden, im politischen Prozess weiterverfolgt werden.
Georg Kreis
[1]
Die Volksinitiative – eine historische Altlast?
Als der moderne Bundesstaat geschaffen wurde, war man überhaupt nicht der Meinung, dass die inzwischen als urschweizerisch verstandene Volksinitiative unbedingt dazugehören müsse. Die Schweiz ist nicht mit dem Initiativrecht zur Welt gekommen, dieses Recht stand ihr weder 1291 noch 1848 zur Verfügung.³ Es kam erst 700 Jahre nach dem Bundesbrief und 43 Jahre nach der Bundesverfassung hinzu. Und so, wie es gekommen ist, könnte es – theoretisch – auch wieder verschwinden oder wenigstens modifiziert werden. Spricht man von Modifizieren, muss man ehrlicherweise einräumen, dass damit domestizierende, ja zivilisierende Einschränkungen gemeint sind. Angesichts der derzeitigen wilden, ja wildwütigen Inanspruchnahme des Instruments der Volksinitiative genügt es jedenfalls nicht, festzustellen, dass der Souverän mitunter von sich aus so etwas wie weise Selbstbeschränkung übe.
Mit dem Hinweis darauf, dass diese Einrichtung einmal geschaffen wurde, also die Qualität von etwas Gemachtem hat, soll dem fundamentalistischen, auf Ewigkeit ausgerichteten und verabsolutierenden Umgang entgegengewirkt und so Raum für ein Nachdenken über die gegenwärtige Bedeutung und über bestehende Reformmöglichkeiten beansprucht werden. Jetzt gibt es dieses Volksrecht, darum muss man mit ihm leben. Seine Nutzungsmöglichkeiten sollten indessen auf eine Weise geregelt sein, dass die unbestreitbaren Stärken erhalten bleiben, seine potenziellen Schwächen aber neutralisiert werden. Worin die Stärken der Volksinitiative liegen, darüber kann man sich leichter einig werden. Uneinigkeit besteht im Eingestehen der Schwächen und im Abwägen zwischen Stärken und Schwächen.
Die Stärken der Volksinitiative würdigend, wird von diesem Instrument gerne gesagt, es signalisiere bis zu einem gewissen Grad, wo «dem Volk» der Schuh drücke; es leiste seinen Beitrag zur Kohäsion im Land und zum Glauben an das System; es setze dem zu sehr eingespielten Politbetrieb etwas Dampf auf und führe mit radikalen Vorstössen zur Entwicklung von «vernünftigen» und entsprechend annehmbaren Gegenvorschlägen; es stärke in allgemeiner Weise das Selbstwertgefühl der Bürger; es führe zu öffentlichen Debatten und ermögliche so kollektives Lernen, wenn es dieses auch nicht garantiere.⁴
Was die Staatsordnung und die Demokratie stärkt oder schwächt, hängt zum Teil gewiss vom persönlichen Ermessen ab. Das kann aber nicht heissen, dass nicht trotzdem darüber nachgedacht und öffentlich debattiert werden kann – ganz im Gegenteil. In der Diskussion um die konkrete Einzelnutzung des Initiativ-Rechts besteht die Tendenz, das Recht zu verabsolutieren und der inhaltlichen, auch ethischen Diskussion mit dem Argument auszuweichen, dass man ja nur von einem zustehenden Recht Gebrauch mache und sich dieses nicht streitig machen lasse.⁵
[1.1]
Wandel im Reformverständnis
Es bedeutete eine fundamentale Neuerung und einen grossen Schritt, dass 1848 mit Artikel 112 der Bundesverfassung überhaupt die Möglichkeit geschaffen wurde, dass Bürger mit 50 000 Unterschriften eine Gesamtrevision der Verfassung verlangen konnten. Im Laufe der 1860er-Jahre zeigte sich allerdings das Bedürfnis, auch nur Teilrevisionen vornehmen zu können. So wurden von den Eidgenössischen Räten schon 1865 gleich neun neue Verfassungsartikel erarbeitet