Staatsgeheimnisse?: Was wir über unseren Staat wirklich wissen sollten
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Der bekannte und originelle Denker, Ökonom und Publizist beschreibt in kurzen Kapiteln ungewohnte, selten wahrgenommene Verfahren in unserem Staat, die aber typisch für die Schweiz und das Zusammenleben sind. Auf Fragen wie «Was hält die Schweiz zusammen?», «Wie wird sie regiert?», «Warum gibt es 2500 Gemeinden?» gibt er erhellende Antworten und regt zum Nachdenken an.
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Book preview
Staatsgeheimnisse? - Beat Kappeler
BEAT KAPPELER
STAATS-
GEHEIMNISSE
WAS WIR ÜBER UNSEREN STAAT WIRKLICH WISSEN SOLLTEN
VERLAG NEUE ZÜRCHER ZEITUNG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2016 (ISBN 978-3-03810-162-8)
© 2016 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich
Lektorat: Ingrid Kunz, Schaffhausen
Titelgestaltung: icona, Basel
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
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ISBN E-Book 978-3-03810-204-5
www.nzz-libro.ch
NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung
INHALT
Titelei
Vorwort
Kapitel 1 – Die Regierung in der Höhle – mit Notizblöcken versehen
Kapitel 2 – Das Volk auf der Couch Sigmund Freuds
Kapitel 3 – Im Durcheinandertal
Kapitel 4 – Wer zieht die Sprachgrenzen?
Kapitel 5 – Die souveränen Gemeinden
Kapitel 6 – Das offene Land
Kapitel 7 – Das betonierte Land
Kapitel 8 – Macht ist lokal – das Geheimnis Alt-Europas
Kapitel 9 – Die Eidgenossenschaft – kein Bauernbund, ein Städtebund
Kapitel 10 – Steuern mit offenem Handmehr abgelehnt
Kapitel 11 – Vor aller Augen: Zentralstaaten scheitern öfter
Kapitel 12 – Die Volksrechte schalten die Verbände ein
Kapitel 13 – Das Panaschieren schaltet die Parteien aus
Kapitel 14 – Die Kassen der Parteien – ein lässliches Geheimnis
Kapitel 15 – Berufsparlamentarier als Milizionäre verkleidet
Kapitel 16 – Volk und Faust
Kapitel 17 – Verordnungen regieren, also die Verwaltung, ihre Mandarine, ihre Geheimräte
Kapitel 18 – Das Parlament hat keinen Plan A, keinen Plan B
Kapitel 19 – Verfassungsbruch – jederzeit und leichten Herzens
Kapitel 20 – In der EU wären die Bundesräte, nicht die Volksrechte das Problem
Kapitel 21 – Ganz geheim – es gibt keinen Sonderfall, keinen Alleingang der Schweiz
Kapitel 22 – Der geheime Spin der Europa-Turbos
Kapitel 23 – Die Intellektuellen – ein Geheimbund?
Kapitel 24 – Radio, Fernsehen unterdrücken Geheimnisse
Kapitel 25 – Geheimnis, Datenschutz oder Transparenz?
Kapitel 26 – Lasst neue Geheimnisse blühen
Kapitel 27 – Immer schon: geheim oder offen?
Kapitel 28 – Vom Ärgernis zum Geheimnis: Frauenrechte
Kapitel 29 – Auch die Proporzwahl fällt unter die Mythen
Kapitel 30 – Geheimer Tausch «Wiedervereinigung gegen Euro»?
Kapitel 31 – Das Reduit General Guisans – und andere Mythen
Kapitel 32 – Der Mythos «starke Armee» – im Selbstversuch
Kapitel 33 – Die grösste Hungerkrise und das beste Vorratssystem
Kapitel 34 – Finanzausgleich – fast alle Kantone sind armengenössig
Kapitel 35 – Die Hälfte der Haushalte abhängig
Kapitel 36 – Vermögenslose Arme sind allen wurscht
Kapitel 37 – Sozialhilfe – die fremdbestimmte Gemeinde
Kapitel 38 – Direktzahlungen an die Bauern sind die geheimste und teuerste Sozialpolitik
Kapitel 39 – Die verborgene Demagogie der Verfassungsversprechen
Kapitel 40 – Mortalität, Morbidität – das Geheimnis der Buchhalter
Kapitel 41 – Klubs, nicht so geheim, aber meist übersehen
Kapitel 42 – Alle packen an, aber auch das sieht wieder niemand
Kapitel 43 – Arbeitsfriede und seine kleinen Klauseln
Kapitel 44 – Das heimliche Imperium
Kapitel 45 – Banknoten durch Privatbanken – Geheimsache
Kapitel 46 – Nicht weitersagen – die Nationalbank stochert im Nebel
Kapitel 47 – Geheime Pläne für offenen Strassenraub
Kapitel 48 – Die geheimen Totengräber des Finanzplatzes
Kapitel 49 – Nicht nur das Politsystem, auch das Politverhalten ist wichtig
Kapitel 50 – Streng geheim – Schiedsgerichte?
Kapitel 51 – Das Geheimnis um die groben Fehler: Politiker
Kapitel 52 – Kritik an den Boni – ein Geheimnis für die Bosse
Kapitel 53 – Die hartnäckigsten Geheimnisse
Schlussbemerkung
Anmerkungen
Der Autor
Vorwort
«Im Schweizerischen Vaterland, wo viele Herren sind, aber kein Meister, geht es zu, wie es sich unter solchen Umständen erwarten lässt.»
Appenzeller Zeitung, 1. Nummer, 5. Heumonat 1828
Aber wie genau geht es zu? Der grosse Weise aus Asien, Laotse, steht uns zur Seite, wenn wir hier ein paar Dutzend Staatsgeheimnisse aufdecken, und zwar ohne einzubrechen, ohne Schlösser zu knacken, denn: «Was ist ein wahres Geheimnis? Etwas, das für jeden offen daliegt – der eine erkennt es, der andere jedoch nicht.» Das gilt auch für zahllose Einrichtungen, Verhaltensweisen unseres Staats, unseres Landes, unserer Bevölkerung. Jedes Land ist ein Sonderfall, geprägt durch Geschichte und Gewohnheiten. Wir nehmen oft gar nicht wahr, wie Staat und Gesellschaft funktionieren. Deshalb deckt dieses Buch viele Eigenheiten der Schweiz auf, einige ganz verborgene, andere offen daliegende, die aber selten jemand genauer ansieht. Laotse hat seine kluge Bemerkung auch für die Schweiz gemacht – denn sie ist ein Land wie alle anderen in dieser Hinsicht: geheim und wie ein offenes, aber ungelesenes Buch.
Aber da die Leser vielleicht auch kernige Sachen erwarten, beginnen wir mit einem handfesten Staatsgeheimnis.
Noch zwei Hinweise zur Handhabung des Buches: Die Ziffern in Klammern im Lauftext verweisen auf andere Kapitel, und die Anmerkungen am Schluss bieten einige bunte Luftballone und Nadelstiche.
1Die Regierung in der Höhle – mit Notizblöcken versehen
Der Schweizer Bundesrat liess sich vor gut zwei Jahrzehnten einen Bunker tief im Gebirge bauen, einen mehr. Dass er in der Nähe von Kandersteg im Berner Oberland liegt, hat sich zwar herumgesprochen. Der damalige Kriegsminister Adolf Ogi kam von dort und sah die Standortwahl wohlwollend. Aber wie der felsige Zufluchtsort der Regierung innen aussieht, wissen wenige. Hohe Militärpersonen sprachen laut darüber in der ersten Klasse der SBB, dem idealen Ort für indiskrete Ohren im Nebenabteil:
Man fährt mit einem Schmalspurbähnchen sehr lange, sehr weit in des Berges Tiefe hinein, zehn Minuten lang. Dann öffnet sich eine riesige, aus dem Felsen gesprengte Kaverne. In diese Kaverne wurde ein mehrstöckiges grosses Haus hineingebaut, auf Rolllagern ruhend. Es beherbergt Wohngelegenheiten für die Regierung, für ausgewählte Parlamentarier sowie Verwaltungsbüros für die Chefbeamten aller sieben Departemente der Regierung. Das Bundeshaus wurde sozusagen nachgebaut. Darüber wölbt sich der Fels wie ein steinerner Himmel.
Auch ein Sitzungszimmer des Bundesrats findet sich darin, und auf den Pulten der Sieben und des Kanzlers liegen saubere, leere Notizblöcke, der Schreibstift gleich daneben. Von hier aus gedenkt der Bundesrat allenfalls ein Land zu lenken, das draussen vielleicht schon in Schutt und Asche liegt, jedenfalls vom bösen Feind besetzt ist. Da wird er Weisungen erlassen, Manifeste formulieren, Appelle richten, Hilferufe an Amerika wohl auch, und am Schluss die Kapitulationserklärung aussenden.
Enorme logistische und gedankliche Vorarbeit wurde für diesen felsigen Rückzug aufgewandt, sehr viel Zement und Geld natürlich. Wasser ist vorhanden, Treibstoff, Notstromaggregate, Nahrungsvorräte – und eben Notizblöcke. Der intellektuelle Aufwand stockte hingegen bei der Formulierung des Hauptzwecks, was das Ganze denn soll. Wie regiert man ein kaputtes Land, wie übt man Verhandlungsmacht aus dem letzten Loch aus, in dem nur noch die Regierung sitzt? Diese von der Spieltheorie wie vom gesunden Menschenverstand nahegelegten weiteren Schritte wurden nicht überdacht, und das ist das wahre Geheimnis an der Kaverne.
Daher schreiten wir zu den eher positiven Geheimnissen, die zwar offener als jede Felshöhle daliegen, die wir aber selten kennen, die wenige bemerken, die aber wesentlicher als eine unterdessen verstaubte Befehlszentrale sind.
2Das Volk auf der Couch Sigmund Freuds
Der Zusammenhalt der Schweiz? Es ist nicht die Liebe zueinander, zur anderen Sprache, zum anderen Landesteil, zum anderen Kanton. Schweizerinnen, Schweizer, legt euch auf die Couch, denn Doktor Sigmund Freud hat es 1930 schon diagnostiziert: Es ist der kleine Unterschied der Deutschschweizer zu den Deutschen, der Romands zu den Franzosen, der Tessiner zu den Italienern, der uns allen bewusst macht, wir sind nicht ganz so wie diese. Deshalb wollen wir uns nicht deren Staaten anschliessen, deshalb werfen wir uns einander lieber selbst an den Hals. Die drei Landesteile haben eigentlich gar keine Wahl, als zusammenzustehen.
Schöner als Sigmund Freud in Das Unbehagen in der Kultur kann man es kaum sagen: «Der Vorteil eines kleineren Kulturkreises, dass er dem Trieb einen Ausweg an der Befeindung der Aussenstehenden gestattet, ist nicht geringzuschätzen. Es ist immer möglich, eine grössere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äusserung übrigbleiben. Ich habe mich einmal mit dem Phänomen beschäftigt, dass gerade benachbarte und einander auch sonst nahestehende Gemeinschaften sich gegenseitig befehden und verspotten, so Spanier und Portugiesen, Nord- und Süddeutsche, Engländer und Schotten usw. Ich gab ihm den Namen ‹Narzissmus der kleinen Differenzen›, der nicht viel zur Erklärung beiträgt. Man erkennt nun darin eine bequeme und relativ harmlose Befriedigung der Aggressionsneigung, durch die den Mitgliedern der Gemeinschaft das Zusammenhalten erleichtert wird.»¹
Diese Haltung gegenüber den leicht anderen europäischen Nachbarn schwankt, sie kann auch in Stolz umschlagen. Die Schweiz als Föderation solcher Sprach- und Kulturgruppen ist doch auch gleich ein Abbild ganz Europas.
Wird ein Deutschschweizer, ein Romand, ein Ticinese hingegen im anderen Kulturraum wahrgenommen, setzt er sich ganz gerne ab und sagt, ich bin Schweizerin, Schweizer.
Die Deutschschweizer üben diesen Kampf um die «kleine Differenz» gegenüber den nördlichen Nachbarn offenbar schon lange. Denn Julius Cäsar hat zu Beginn seines Buchs über seinen Gallischen Krieg geschrieben: «Die Helvetier übertreffen die übrigen Gallier an Tapferkeit, weil sie in fast täglichen Gefechten mit den Germanen kämpfen.» Man stärkt sich, wo und wie man kann.
Der Ausdruck «die Schwaben» für alle Deutschen war übrigens nicht herablassend gemeint, sondern man nahm wie in ganz Europa nach der Völkerwanderung den