Neuland: Schweizer Migrationspolitik im 21. Jahrhundert
By NZZ Libro
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Schweiz, die ihren Bewohnerinnen und Bewohnern einzigartige Freiheiten und Perspektiven ermöglicht. Die Publikation wird abgerundet mit konkreten migrationspolitischen Reformideen, mit denen die Schweiz ein chancenreiches Land wird, das sich nicht vor der Welt fürchtet.
Mit Beiträgen von Martina von Arx, Stefan Egli, Nicola Forster, David Kaufmann, Walter Leimgruber, Philipp Lutz, Joanna Menet, Jonas Nakonz, Johan Rochel, Seraina Rohner, Stefan Schlegel, Heike Scholten, Fabienne Tissot.
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Book preview
Neuland - NZZ Libro
Philipp Lutz (Hrsg.)
Neuland
Schweizer Migrationspolitik im 21. Jahrhundert
NZZ Libro
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2017 NZZ Libro, Neue Zürcher Zeitung AG, Zürich
Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2017 (ISBN 978-3-03810-245-8)
Lektorat: Ulrike Ebenritter, Giessen
Titelgestaltung: Katarina Lang, Zürich
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.
ISBN E-Book 978-3-03810-299-1
www.nzz-libro.ch
NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung
Prolog: Auch das ist die Schweiz
Seraina Rohner
Als Direktorin der Solothurner Filmtage – der Werkschau des Schweizer Films – sichte ich im Jahr über hundert Schweizer Filme; über hundert Beschreibungen, Interpretationen und Visionen der Schweiz. Nach den Sichtungen frage ich mich jedes Mal aufs Neue: Was macht die Schweiz heute aus?
Viele Filmschaffende erzählen Geschichten, die wir auf den ersten Blick nicht als typisch schweizerisch erkennen – weder Berge noch Wilhelm Tell spielen darin eine Rolle. Auf den zweiten Blick sind aber oft genau diese Geschichten besonders typisch für die heutige Schweiz. Zum Beispiel Mano Khalils Film Unser Garten Eden (2010): Hier treffen wir in den Berner Schrebergärten anstatt auf Gartenzwerge auf eine multikulturelle Gemeinschaft. Auf kleinstem Raum gärtnern Menschen aus den unterschiedlichsten Ecken der Welt. Jede und jeder bepflanzt sein eigenes Beet, doch die Ernte wird gerne auch mal geteilt, über den Gartenzaun hinweg. Als Zuschauerinnen und Zuschauer fragen wir uns: Kann das sein, wo bleiben denn die Konflikte? Und schon kommt es zu Spannungen. Doch überraschenderweise werden die Probleme so schweizerisch gelöst, dass wir uns beinahe ertappt fühlen. Im Klubhaus der Gärtner wird basisdemokratisch abgestimmt! Mano Khalils Film zeigt auf poetische Weise, wie ein Ort, der bis vor Kurzem noch der Inbegriff des Kleinkarierten war, sich zum Symbol einer multikulturellen Schweiz verändert.
Wie Mano Khalil durchleuchten andere Kulturschaffende Mikrokosmen dieses Landes, die sich durch die Migration stetig wandeln. Durch ihren Blick verändert sich unsere Wahrnehmung, und es erscheint plötzlich in neuem Licht. Besonders klar wird dies im Film Neuland (2013) von Anna Thommen. Die Filmemacherin taucht in ihrem Debüt tief in den Alltag einer Basler Integrationsklasse ein, in der sich Migrantinnen und Migranten aus aller Welt wiederfinden – viele aus Krisengebieten. Thommen – selbst Lehrerin – begleitet einen Berufskollegen mit der Kamera und filmt während zweier Jahre die Begegnungen, Dramen und Freuden im Klassenzimmer. Mit dem Lehrer Christian Zingg und seinen Schülern durchlebt sie, wie der 19-jährige Essanullah eine Lehrstelle findet. Für andere gestaltet sich der Neuanfang schwieriger und voller Widerstände. Dies zeigt der Film fern jeder Sozialromantik, unverklärt und doch hoffnungsfroh. Lehrer Zingg, der einzige Schweizer im Klassenzimmer, schafft mit Hartnäckigkeit und Offenheit, wovor konservative Kräfte kapitulieren: Er vermittelt die Regeln der Schweiz auf eine integrative Weise. Damit ermöglicht er seinen Schülerinnen und Schülern eine Veränderung in ihrem Leben und einen Neuanfang im Chancenland Schweiz.
Was es bedeutet, neu anzufangen, wissen Kulturschaffende besonders gut. Mit jedem Projekt versuchen sie, die Welt neu zu verstehen. Dass Mano Khalil dies so treffend gelingt, hat vielleicht mit seiner eigenen Geschichte zu tun, die wiederum an die Schicksale in Herrn Zinggs Klasse erinnert. In den 1990er-Jahren strandete er als syrischer Flüchtling und Asylsuchender im Tessin, später wurde er Filmemacher in Bern. Er musste selber mehrmals von Grund auf neu anfangen, bevor er zu einem der renommiertesten Schweizer Dokumentaristen wurde. Seine Filme stossen national und international auf Interesse und zeichnen das Bild einer modernen, multikulturellen Schweiz. Er ist damit zum Aushängeschild geworden – ein Kulturschaffender, auf den die Schweiz stolz ist.
Thommen, Khalil und andere talentierte Filmschaffende halten der Schweiz mit ihren Werken einen Spiegel vor. Sie erzählen Geschichten, die den Nerv der Zeit treffen und den Lauf der Zeit prägen. Multikulturelle Schulklassen und Schrebergärten sehen wir heute als gesellschaftliche Tendenzen der Gegenwart. Morgen werden sie bereits selbstverständlich sein – wie die direkte Demokratie oder die Alpen. Auch das ist die Schweiz: ein veränderbares Land und ein Land, das sich verändert.
Aufbruch ins Neuland!
Nicola Forster, Johan Rochel
«Das Internet ist für uns alle Neuland!» Es war der Satz des Jahres 2013. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hatte ihn gesagt, an einer Pressekonferenz mit US-Präsident Barack Obama. 20 Jahre nach der Erfindung des Internets hatte die Kanzlerin die Digitalisierung nun also auch noch entdeckt – viele junge Menschen in Deutschland reagierten verständlicherweise entsetzt. Neuland, das klingt verheissungsvoll, kann aber auch der längst fällige Nachvollzug einer bestehenden Realität sein.
In diesem Buch soll es um ein Neuland gehen, das in seinen Auswirkungen auf unsere Lebensrealität mindestens ebensolche Sprengkraft besitzt wie die Digitalisierung: die Migration. Als Phänomen so alt wie die Menschheit, spätestens seit den grossen Auswanderungsbewegungen im 18. und 19. Jahrhundert prägend für die Schweiz, seit der Industrialisierung mitverantwortlich für die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte unseres Landes: Die Migration ist ein konstituierender Faktor der Schweiz, ja gar der eigentliche Schweizer Normalzustand. Wir leben in einem ausgeprägten Migrationsland! Absurderweise debattieren wir heute aber nicht selten über Migration, als ob wir diese mit genügend starker Gegenwehr einfach aus der Welt schaffen und verbieten könnten, um dann endlich wieder zum migrationslosen Normalzustand zurückzukehren und so unseren Frieden zu haben. Genau wie bei der Digitalisierung ist dieser Ansatz der Realitätsverweigerung jedoch kaum erfolgversprechend …
Wir haben die absolut un-digitale Form eines Lesebuchs gewählt, um die heutige gesellschaftliche Realität eines Migrationslands zu erzählen und nebenbei auf unerwartete Fakten aufmerksam zu machen – wussten Sie beispielsweise, dass im Land des stolzen Innovationsweltmeisters Schweiz mehr als 75 Prozent der Hightech-Start-ups von Ausländerinnen und Ausländern gegründet wurden? Als Think-Tank verfolgen wir mit diesem Buch aber auch die Absicht, gemeinsam mit den Menschen in diesem Land eine inklusive Vision der Schweiz zu entwickeln. Einer Schweiz, die eine eigene Identität als Migrationsland hat und daraus Stärke und Zuversicht zieht. Einer Schweiz, die eine herausfordernde, aber prosperierende Zukunft vor sich hat. Lassen wir uns gemeinsam darauf ein, und öffnen wir die Augen für diese Realität. Diese sich verändernde Identität der Schweiz ist Neuland für uns alle! Als partizipativer Think-Tank sind wir aus den Studierstuben hinausgegangen und haben die besten Ideen «crowdgesourced» und bei zahlreichen Veranstaltungen mit der Schweizer Bevölkerung debattiert, um eine inklusive Vision zu entwickeln.
Back to the Future
Eine Vision? Brauchen wir das? Bekanntlich werden Visionen in der Schweizer Politik als eher unnötig wahrgenommen. Getreu dem Bonmot des früheren deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt: «Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.» Trotzdem hat sich in den letzten Jahrzehnten ganz unbemerkt eine ungeheuer wirkungsmächtige Vision in unser kollektives Gedächtnis eingeschlichen und prägt unser Denken: das Bild der selbstgewählt isolierten Heidi-Schweiz, des Freilichtmuseums, des wehrhaften Reduits. Eine Underdog-Schweiz, in der Wohlstand, Freiheit und Unabhängigkeit ständig von aussen bedroht sind. Ja, die Projektion einer idealisierten Vergangenheit auf die Zukunft: Früher war alles besser! Make Switzerland great again! Diese Vorstellung basiert auf einer Geschichtserzählung, die im Jahr 1291 beginnt, Wilhelm Tell und seinem Armbrust-Mord am bösen EU-Vogt Gessler huldigt und zahlreiche weitere heilige Kühe umfasst. Im Rahmen des grossen Jubiläumsjahres 2015 – die Schlachten von Morgarten und Marignano jährten sich, wie auch der Wiener Kongress – wurde die Schweizer Vergangenheit von Historikern wie Thomas Maissen und André Holenstein umfassend aufgearbeitet, und wir erkannten plötzlich, dass wir nicht den ewigen Sonderfall verkörpern, sondern auf eine jahrhundertelange erfolgreiche Vernetzung mit dem europäischen Umland zurückblicken können. Eine alternative, wissenschaftsbasierte Deutung der Vergangenheit – ein neues «Framing» – war entstanden und prägt heute unsere Diskussionen.
Im Gegensatz zu dieser gelungenen, wissenschaftsbasierten Neuinterpretation unserer Vergangenheit haben wir die Schaffung einer konstruktiven Vision für die Zukunft bisher allerdings sträflich vernachlässigt. In einer Zeit der grossen Globalisierungsschübe ist der verklärte Rückblick auf vergangene Zeiten und deren – natürlich unrealistische – «Wiederherstellung» entsprechend populär: Die Masseneinwanderungsinitiative, der Brexit oder auch die Wahl von Donald Trump in den USA zeigen, dass eine grosse gesellschaftliche Verunsicherung herrscht und rückwärtsgewandten Kräften am ehesten der herbeigesehnte Wandel zugetraut wird. Plötzlich erringen extreme Positionen Mehrheiten, und progressive und weltoffene Kräfte sind in der Defensive. Sie haben bis heute keine gleich stark wirkende, plastische Vision, die die laufende Veränderung unserer Gesellschaften positiv beschreibt und Hoffnung macht auf eine gemeinsame Zukunft. In dieser Situation der Zukunftsangst dominiert eine gefährliche Politik die Agenda, die sich das Ernstnehmen sämtlicher Ängste auf die Fahne geschrieben hat, statt eine mutige Agenda und aktive Massnahmen für eine bessere Zukunft zu definieren. Eine konstruktive Vision ist aber eine Notwendigkeit in der Politik, genauso wie Ankunftsziel und Kompass notwendig für den Schiffskapitän sind!
Auf der Suche nach einer gemeinsamen Vision
Auf der Suche nach einem neuen Verständnis des Neulands haben wir uns deshalb in den letzten zwei Jahren als Entdeckerinnen und Entdecker in unbekannte Gewässer gewagt, um gemeinsam mit diversen Partnern die heutige, durch Migration geprägte Schweiz und die vorhandenen Abwehrreflexe besser zu verstehen. Und zwar gemeinsam mit allen am «Projekt Schweiz» Beteiligten: Wir suchten politische Partizipation jenseits der Abstimmungssonntage und der formellen politischen Rechte. Wer sich mit konstruktiven Gedanken und Ideen beteiligen wollte, war willkommen und konnte seine Stimme einbringen – digital oder an Live-Veranstaltungen im ganzen Land. Als Crowdsourcing-Think-Tank versuchten wir die «logistischen» Rahmenbedingungen für diese neuen und inklusiven Spielarten der Demokratie zu schaffen. Denn wir wünschen uns eine partizipative Demokratie, in der die Einwohnerinnen und Einwohner Lust haben, aktiver Teil der öffentlichen Debatte zu sein, und mit neuen Beteiligungsinstrumenten arbeiten wollen. Die ausprobierten Formate waren äusserst divers: Wir organisierten sogenannte PoliTische in allen Sprachregionen der Schweiz, um mit Menschen aus sämtlichen Bereichen der Gesellschaft bei informellen Abendessen Inputs und Ideen für eine Vision der Schweiz als Migrationsland zu erhalten. Dann haben wir die Storytelling-Veranstaltungsserie Wahre Geschichten: Neuland organisiert, um Zugewanderten eine Bühne für ihre Geschichten zu bieten und so das gegenseitige Verständnis zu fördern. Dazu kamen unzählige öffentliche Veranstaltungen und Expertentreffen im In- und Ausland. Um die Möglichkeiten der Digitalisierung auszuschöpfen, lancierten wir schliesslich eine Ideencrowdsourcing-Plattform, um online auf die Suche zu gehen nach konstruktiven Inputs, wie das Migrationsland Schweiz gestaltet werden könnte. Aus Hunderten von der Bevölkerung eingereichten Ideen wurden die besten an einem grossen Ideenmarkt mit Entscheidungsträgern diskutiert, um eine tatsächliche Umsetzung zu initiieren.
Die Ergebnisse all dieser partizipativen Formate stellten die Grundlage für den Schreibprozess durch die Mitglieder unserer Denkfabrik dar. Dieses unter der umsichtigen Leitung von Philipp Lutz (Senior Policy Fellow Migration bei foraus) entstandene Buch liefert entsprechend sowohl eine Einführung in die partizipative Demokratie und ihre Instrumente als auch einen Überblick über den aktuellen Migrationsdiskurs in der Schweiz sowie eine darauf basierende Vision für die öffentliche Diskussion. Im ersten Teil des Buchs wird der aktuelle Diskurs über Migration mittels wissenschaftlicher Quellen verständlich aufbereitet. Unsere Partnerinnen von GENTINETTA*SCHOLTEN präsentieren danach exklusiv die Resultate einer linguistischen Diskursanalyse, der vier der von uns geführten PoliTische unterzogen wurden. Auf diese Weise konnten in einem partizipativen Prozess Meinungen, Rückmeldungen und Erkenntnisse zu Topoi und Frames im Migrationsdiskurs in den Arbeitsprozess zurückfliessen. Ausgehend von diesem ersten Teil des Buchs, der eine Diagnose des aktuellen Diskurses vornimmt, schlagen unsere Autoren in einem zweiten Teil eine innovative Vision für dieses «Neuland» vor. Sie zeigen, wie die Schweiz eine Pionierrolle für eine zukunftsgerichtete Migrationspolitik einnehmen kann, die Wohlstand und Lebensqualität für alle realisiert und gleichzeitig eine inklusive Gesellschaft mit freiheitlichen und demokratischen Werten gestaltet. Der dritte Teil des Buchs ist konkreten Ideen zur Umsetzung der entwickelten Vision gewidmet. Er entwirft das Konzept einer regulierten Offenheit als Politikziel und präsentiert eine Übersicht der möglichen Mittel und Wege, wie eine fortschrittliche Migrationspolitik gestaltet werden kann. Im letzten Teil des Buchs schliesslich erfahren neugierige Leserinnen und Leser mehr über die zivilgesellschaftlichen Formate, die wir im Rahmen des Projekts angewendet haben. Es kann als Anleitung und Inspiration für neue Formen der politischen Partizipation dienen und über die Thematik der Migration hinaus zur demokratischen Meinungsbildung beitragen.
Während des gesamten Projekts haben wir mit Tausenden Menschen debattiert und den Austausch gesucht; wir haben das Land in all seinen Winkeln besucht und die von der Migration geprägte Schweizer Wirklichkeit von heute beschrieben. Überall haben wir Ansätze des Neulands Schweiz gefunden, die wir nun in diesem Buch präsentieren. Es gibt viele Herausforderungen, unzählige Chancen und vieles zu entdecken. Wir sind schon unterwegs in Richtung Neuland! Wir brauchen Mut, Zuversicht und politische Vista. Das dafür notwendige Engagement fällt nicht vom Himmel – es erfordert die Mitarbeit von uns allen. Dieses Buch ist eine Einladung, dieser progressiven Schweiz ein Gesicht zu geben und gemeinsam ihre Zukunft zu gestalten. Wir schaffen das!
Die Migration und wir
Martina von Arx, Stefan Egli, Philipp Lutz, Joanna Menet
Einleitung
«Diversity is, increasingly, the fate of the modern world. The capacity to live with difference is the coming question of the twenty-first century.»
Stuart Hall¹
Die Schweiz ist, heute mehr denn je, ein Migrationsland – ihr Wohlstand und ihre Lebensqualität sind so stark wie nie zuvor von der grenzüberschreitenden Mobilität abhängig, und der Takt der modernen Gesellschaft wird zunehmend vom internationalen Austausch bestimmt. Die Schweiz hat sich dadurch verändert. Alte Privilegien und Zugehörigkeiten haben sich aufgelöst und neuen gesellschaftlichen Realitäten einer stärker vernetzten Welt Platz gemacht. Wir sind alle Teil dieser Migrationserfahrung, entweder direkt durch eine eigene Migrationsgeschichte oder in der Art und Weise, wie Migration unseren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Alltag prägt. Gesellschaftliche und politische Umwälzungen fordern uns alle heraus und verlangen, dass wir uns weiterentwickeln und lernen, mit neuen Gegebenheiten umzugehen. Die Schweiz steht heute vor der Aufgabe, die Realität als Migrationsland mit ihrem kollektiven Selbstverständnis in Einklang zu bringen. Wie also prägt unser Verständnis der Schweizer Identität unser Denken über Migration? Welche Herausforderungen für das gesellschaftliche Zusammenleben stellen sich im Migrationsland Schweiz? Wir zeigen im Folgenden auf: Das Selbstbild, das wir unserer politischen Gemeinschaft geben, bestimmt die Wahrnehmung und den politischen Umgang mit der Migrationsrealität.²
Über kaum ein anderes politisches Thema wird derart leidenschaftlich gerungen wie über die Migration. Dies hat mit der zentralen Frage zu tun, um die sich die Migrationsdebatte im Kern dreht und die in der öffentlichen Auseinandersetzung meist direkt unter der Oberfläche schlummert: Was macht die Schweiz aus, und was hält sie zusammen? Wer sind wir, und was heisst es, Schweizerin oder Schweizer zu sein? Die Vorstellung einer «Schweizer Nation» ist ein zentraler, wenn auch meist unausgesprochener Aspekt der heutigen Migrationsdebatte. Implizit oder explizit geht es dabei immer wieder um die symbolische Trennlinie zwischen uns und den anderen und damit um die Identität als Teilnehmende am Projekt Schweiz. Dies macht die Migrationspolitik zu einem entscheidenden Politikfeld, in dem es um weit mehr geht als um die Verteidigung unterschiedlicher Interessen oder um die optimale Höhe der Nettozuwanderung. Es geht ebenso um die Auseinandersetzung mit politischen Identitäten und gesellschaftlicher Teilhabe – es geht darum, wer die Einwanderer sind, jedoch noch viel mehr darum, wer wir sind. Im Zentrum steht dabei die Frage: Wer darf dazugehören und wer nicht? Weil Migration sowohl die Identitäten von Migrierenden wie auch Einheimischen herausfordert, sind diffuse Emotionen in der Debatte oft einflussreicher als Arbeitsmarktstatistiken.
Wird die Migrationsdebatte unter der Perspektive eines Identitätsdiskurses betrachtet, öffnet dies die Möglichkeit, die scheinbaren Widersprüchlichkeiten dieser Debatte sinnvoll einzuordnen. Obwohl Migration eine gesellschaftliche Konstante ist und in der Schweiz längst eine Normalität darstellt, wird sie oft reflexartig als Problem und als Störung einer natürlichen Ordnung wahrgenommen. Lieb gewonnene Mythen und diffuse Ängste sind allgegenwärtig und prägen das Denken über Migration. Dieser scheinbaren Irrationalität im Umgang mit Migration liegt jedoch eine treibende Motivation zugrunde: die Selbstvergewisserung der nationalen Identität und die Verteidigung daran geknüpfter Privilegien. Die Migrationsdebatte lässt sich dann verstehen, wenn diese Motivation verstanden wird.
Gefühlte Entfremdung und Sorgen um die persönliche Identität sind reale Phänomene und verlangen eine politische Adressierung. Das Ernstnehmen verunsicherter Bürgerinnen und Bürger besteht darin, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und nebst der Konfrontation mit Fakten auch inklusive Erzählungen anzubieten, die den Realitäten des Migrationslands Schweiz entsprechen und uns befähigen, uns in der modernen Welt einzuordnen. Denn der Migrationsdiskurs ist wesentlich von rhetorischen Deutungsmustern geprägt, die das Phänomen der Migration nicht nur beschreiben, sondern es auch gleichzeitig mit einer Wertung versehen. Unsere Wahrnehmung von Migration ist geprägt durch das kollektive Selbstbild der Schweiz – der Vorstellung einer Schweizer Nation und der Unterscheidung zwischen dem