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Konkordanz im Parlament: Entscheidungsfindung zwischen Kooperation und Konkurrenz
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Konkordanz im Parlament: Entscheidungsfindung zwischen Kooperation und Konkurrenz

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Das Parlament zwischen Konkurrenz und Konkordanz: Diese Studie liefert neue Erkenntnisse zur Konkordanz, provokative Diskussionsbeiträge und innovative Daten zur parlamentarischen Entscheidungsfindung

In der Öffentlichkeit wie in der Politikwissenschaft herrscht heute die These vor, dass die schweizerische Konkordanzdemokratie in den letzten Jahren unter Druck geraten ist. Konkordanz im Parlament stellt diese Krisenthese auf die Probe. Das Buch untersucht, ob und wie sich die Funktionsweise der parlamentarischen Entscheidungsfindung, die Einbindung von Minderheiten und die Umgangsformen im Parlament in den letzten Jahrzehnten tatsächlich verändert haben. Damit leistet es einen wissenschaftlich fundierten, allgemein verständlichen Beitrag zur öffentlichen Debatte um die Konkordanz. Auf Basis neuer Daten beleuchten die Autorinnen und Autoren die Frage, ob und wie sich die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche der letzten Jahrzehnte im Parlament niedergeschlagen haben.

Mit Beiträgen von Alexander Arens, Marc Bühlmann, Clau Dermont, Rahel Freiburghaus, Karin Frick, Marlène Gerber, Anja Heidelberger, Ruth Lüthi Blume, Sean Müller, Diane Porcellana, Hans-Peter Schaub, Daniel Schwarz, David Zumbach und Guillaume Zumofen.
LanguageDeutsch
PublisherNZZ Libro
Release dateSep 1, 2019
ISBN9783038104544
Konkordanz im Parlament: Entscheidungsfindung zwischen Kooperation und Konkurrenz

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    Konkordanz im Parlament - NZZ Libro

    Entscheidungsfindung zwischen Kooperation und Konkurrenz

    In der Öffentlichkeit wie in der Politikwissenschaft herrscht heute die These vor, dass die schweizerische Konkordanzdemokratie in den letzten Jahren unter Druck geraten ist. Konkordanz im Parlament stellt diese Krisenthese auf die Probe. Das Buch untersucht, ob und wie sich die Funktionsweise der parlamentarischen Entscheidungsfindung, die Einbindung von Minderheiten und die Umgangsformen im Parlament in den letzten Jahrzehnten tatsächlich verändert haben. Damit leistet es einen wissenschaftlich fundierten, allgemein verständlichen Beitrag zur öffentlichen Debatte um die Konkordanz. Auf Basis neuer Daten beleuchten die Autorinnen und Autoren die Frage, ob und wie sich die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche der letzten Jahrzehnte im Parlament niedergeschlagen haben.

    In der Reihe «Politik und Gesellschaft in der Schweiz», herausgegeben von Markus Freitag und Adrian Vatter, analysieren namhafte Schweizer Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftler in mehreren Bänden die Entwicklungen der Schweizer Politik und Gesellschaft. Politisches Verhalten, Einstellungen gegenüber der Politik, Beschreibung politischer Zustände, Veränderungsprozesse von Institutionen und Aspekte des sozialen Zusammenlebens der Schweizer geraten dabei ins Blickfeld.

    Markus Freitag und Adrian Vatter (Hg.)

    Politik und Gesellschaft in der Schweiz

    Band 1:

    Markus Freitag (Hg.)

    Das soziale Kapital der Schweiz

    Band 2:

    Thomas Milic, Bianca Rousselot, Adrian Vatter

    Handbuch der Abstimmungsforschung

    Band 3:

    Markus Freitag und

    Adrian Vatter (Hg.)

    Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz

    Band 4:

    Fritz Sager, Karin Ingold,

    Andreas Balthasar

    Policy-Analyse in der Schweiz

    Band 5:

    Fritz Sager, Thomas Widmer,

    Andreas Balthasar (Hg.)

    Evaluation im politischen System der Schweiz

    Band 6:

    Markus Freitag

    Die Psyche des Politischen

    Band 7:

    Adrian Vatter (Hg.)

    Das Parlament in der Schweiz

    Band 8:

    Markus Freitag, Pirmin Bundi, Martina Flick Witzig

    Milizarbeit in der Schweiz

    Band 9:

    Adrian Ritz, Theo Haldemann,

    Fritz Sager (Hg.)

    Blackbox Exekutive

    Band 10:

    Marc Bühlmann, Anja Heidelberger, Hans-Peter Schaub (Hg.)

    Konkordanz im Parlament

    Weitere Bände in Vorbereitung

    NZZ Libro

    Marc Bühlmann, Anja Heidelberger und

    Hans-Peter Schaub (Hg.)

    Konkordanz

    im Parlament

    Entscheidungsfindung zwischen

    Kooperation und Konkurrenz

    NZZ Libro

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    © 2019 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG

    Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2019 (ISBN 978-3-03810-441-4)

    Lektorat: Thomas Heuer, Basel

    Umschlaggestaltung: icona Basel

    Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

    Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

    ISBN E-Book 978-3-03810-454-4

    www.nzz-libro.ch

    NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.

    Konkordanz im Parlament: Entscheidungs­findung zwischen Kooperation und Konkurrenz

    Marc Bühlmann, Anja Heidelberger und Hans-Peter Schaub, Année Politique Suisse

    1. Die Suche nach Konkordanz – das Ziel dieses Sammelbands

    «Alle Parteien sind für die Konkordanz, aber es gibt keine Konkordanz darüber, was Konkordanz konkret bedeutet», sagte der Genfer Nationalrat Antonio Hodgers vor den Bundesratswahlen am 14. Dezember 2011. Zur Debatte stand damals insbesondere, ob die amtierende Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf einem zweiten Bundesrat aus der SVP Platz machen müsse. Wurde auf der einen Seite argumentiert, dass Konkordanz die arithmetisch adäquate Vertretung der grössten oder wichtigsten Parteien bedeute, hielt man sich auf der anderen Seite an die Idee, dass Konkordanz politisch bzw. inhaltlich zu interpretieren sei und konsensorientierte Entscheidungsfindung eines übergrossen Parteienbündnisses bedeute. Wir wissen, wie die Geschichte ausging: Die BDP-Bundesrätin wurde glanzvoll bestätigt, vier Jahre später erhielt die SVP dann aber doch noch einen zweiten Sitz in der Landesregierung.

    Die Episode illustriert dreierlei: Erstens ist Konkordanz im Schweizer Bundeshaus vor allem dann in aller Munde, wenn es um Bundesratswahlen geht. Zweitens handelt es sich um einen schillernden Begriff mit unterschiedlichen Aspekten. Gerade deshalb können sich, drittens, alle Parteien von links bis rechts zur Konkordanz bekennen, sehen sie aber – aus unterschiedlichen Gründen – gefährdet. Es scheint Einigkeit darüber zu herrschen, dass die «Konkordanz in der Krise» stecke – so der Titel eines Buchs von Michael Hermann (2011). Die These, dass die schweizerische Konkordanzdemokratie in den letzten Jahrzehnten zunehmend unter Druck gerate, findet in der Politikwissenschaft breite Unterstützung (vgl. z. B. Klöti et al. 2014: 199; Linder und Müller 2017: 383, 393, 472; Marcinkowski 2014: 448; Papadopoulos und Maggetti 2018; Vatter 2016: 551). Auch die Medien sind voll von Schwanengesängen auf die Konkordanz und den Zusammenhalt zwischen den Parteien.

    Der vorliegende Band will diese Debatte vertiefen, indem er sie um neue Perspektiven ergänzt, die bisher zu kurz gekommen sind: Erstens lösen wir uns von der Fixierung des Begriffs «Konkordanz» auf die Regierung und nehmen stattdessen das Parlament in den Blick. Denn um Kompromisse gerungen und entschieden wird letztlich nicht nur in der Regierung, sondern ebenso im National- und im Ständerat. Für die breite Abstützung von Entscheiden ist darum nicht nur relevant, wer im Bundesrat sitzt, sondern auch, wie die Zusammenarbeit im Parlament funktioniert. Die in diesem Buch versammelten Beiträge beleuchten dabei die unterschiedlichen Etappen der parlamentarischen Entscheidungsfindung vom Anstoss bis zur Schlussabstimmung.

    Zweitens nehmen wir die Vielschichtigkeit des Begriffs «Konkordanz» ernst und verstehen diese nicht nur im Sinn arithmetisch bestimmbarer Vertretungsquoten. Die formelle Einbindung in die Entscheidungsgremien, wir nennen sie hier die arithmetische Konkordanz, betrachten wir zwar als notwendige, nicht aber als hinreichende Bedingung dafür, dass sich Akteure auch tatsächlich konkordant verhalten (Vatter 2016: 550). Die Beiträge in diesem Sammelband erfassen deshalb mit alternativen Indikatoren Art und Umfang der Einbindung verschiedener Gruppen in den parlamentarischen Entscheidungsprozess, den Konkordanzgrad des Politikstils während des Entscheidungsprozesses, aber auch die Konfliktivität von Entscheidungen bei den Parlamentsabstimmungen. Sie beleuchten damit aus unterschiedlichen Blickwinkeln und auf der Basis neuer und innovativer Daten die Frage, zu welchem Grad und mit welchem Erfolg die parlamentarischen Akteure danach streben, verschiedene Kräfte in die Entscheidungsfindung einzubinden und einvernehmliche Entscheidungen zu finden.

    Drittens erörtern die Beiträge des Bandes, ob und wie Konkordanz im Schweizer Parlament in den letzten Jahrzehnten unter Druck geraten ist oder – allgemeiner – sich gewandelt hat. Die 1990er-Jahre werden in der Schweizer Politik als Zeit grösserer Umbrüche gedeutet. In diesen Deutungen häufig verwendete Stichworte sind etwa Polarisierung des Parteiensystems, ein Aufbrechen von Wählerbindungen und folglich verschärfte Konkurrenz um Wählerstimmen, Mediatisierung, Skandalisierung und Personalisierung der Politik. Anhand unterschiedlicher Aspekte der parlamentarischen Verhandlungen untersuchen die Beiträge, ob diese Umbrüche zu einem «Wandel des politischen Eliteverhaltens» (Bolliger 2007; Vatter 2016: 550 ff.), zu einem stärker auf Konflikt statt auf Konsens ausgerichteten Politikstil (Vatter 2016: 551), zu einem Wandel von «konsensgeneigte[r] Zurückhaltung» hin zu «offene[m] und aggressiver ausgetragene[m] Konkurrenzkampf» (Batt 2005: 353), mithin zu Diskordanz statt Konkordanz (Bühlmann 2019) oder eben von Kooperation zu Konkurrenz geführt haben.

    Unser Sammelband geht also der Frage nach, ob und wie sich die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche der letzten Jahrzehnte in einem Wandel der parlamentarischen Auseinandersetzung niedergeschlagen haben: Haben sich die Funktionsweise des Parlaments, die Einbindung verschiedener Gruppen oder die Umgangsformen im Parlament verändert? Ist die Suche nach einvernehmlichen Lösungen im Parlament schwieriger geworden? Kann nicht mehr von Konkordanz, sondern muss zunehmend von Konkurrenz statt Kooperation gesprochen werden?

    Bevor wir auf die Beiträge eingehen, in denen diese Fragen erörtert werden, versuchen wir, Konkordanz begrifflich zu fassen. Darüber hinaus führen wir in gesonderten Boxen anhand ausgewählter Aspekte in die innovativen Datengrundlagen ein, auf denen der Grossteil der Beiträge beruht.

    2. Konkordanz – ein leitender Begriffsvorschlag

    2.1 Konsens- vs. Konkurrenzdemokratie

    In der Politikwissenschaft gibt es verschiedene Vorschläge dafür, was unter Konkordanz zu verstehen ist. Einigkeit herrscht darüber, dass Konkordanz im Grundsatz mit der Art der Entscheidungsfindung in Demokratien zu tun hat (siehe z. B. Lehmbruch 1967). Das Ziel aller Politik ist es letztlich, Entscheidungen zu fällen, dank denen gesamtgesellschaftlich anerkannte und verbindliche Regelungen durchgesetzt werden können (Meyer 2010). Allerdings gibt es unter den Mitgliedern demokratischer Gesellschaften in der Regel zahlreiche unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie eine Entscheidung ausfallen soll. Die zentrale Frage ist deshalb, wie mit dieser Uneinigkeit umgegangen wird. Dies geht grundsätzlich auf zwei Arten (Lijphart 1999): Entweder entscheidet die einfache Mehrheit oder es wird versucht, möglichst viele dieser unterschiedlichen Vorstellungen in eine gemeinsame Entscheidung zu verpacken. Während das erste Vorgehen der sogenannten Mehrheits- oder Konkurrenzdemokratie entspricht, wird das zweite als Konsensdemokratie beschrieben. Konkordanz gilt nun als zentraler Bestandteil der Konsensdemokratie: Für eine Entscheidung werden alle wichtigen Kräfte eingebunden, und zwar mit dem Ziel, einen Kompromiss zu finden, der möglichst einvernehmlich und mitunter das Resultat langer Verhandlungen ist.¹

    2.2 «Wichtige» Kräfte für «einvernehmliche» Lösungen

    Bei dieser Beschreibung stellen sich zwei Anschlussfragen. Erstens: Welches sind die wichtigen Kräfte? Und zweitens: Was heisst einvernehmlich? Beide Fragen lassen sich – je nach theoretischer Perspektive – unterschiedlich beantworten.

    In einem arithmetischen Verständnis von Konkordanz wird «Wichtigkeit» mit Wähleranteilen von Parteien gleichgesetzt. Die arithmetische Auslegung von «einvernehmlich» betrachtet die Koalitionsmuster von Entscheidungen. Konkordanz bedeutet zwar nicht unbedingt Einstimmigkeit, aber doch übergrosse Mehrheiten mit deutlich über 50 Prozent der Stimmen. Als einvernehmlich gelten Entscheidungen in einem arithmetischen Verständnis dann, wenn sie von einer übergrossen Koalition aus den grossen Parteien gestützt werden (Vatter 2016).²

    Schwieriger ist die Interpretation von «wichtig» und «einvernehmlich» auf der Basis eines tiefergehenden Verständnisses von Konkordanz. Eine elitistisch-zweckrationale Perspektive fokussiert auf den Aspekt der Verhinderungsmacht (Offe 1969; Olson 1968): Nach diesem Verständnis sind Akteure lediglich dann einzubeziehen, wenn sie über genügend Macht verfügen – Offe spricht von Organisations- und Konfliktfähigkeit –, sodass ihre Nichtberücksichtigung eine Entscheidung zu Fall bringen könnte. In der Schweiz wird in dem Zusammenhang häufig der Begriff «Referendumsfähigkeit» verwendet.³ Nach diesem Verständnis ist also die Robustheit einer Entscheidung gegen mögliche Angriffe referendumsfähiger Akteure der Indikator dafür, ob alle wichtigen Kräfte eingebunden sind.

    Aus einer partizipatorisch-deliberativen Perspektive (z. B. Barber 1984; Dahl 1976) ist hingegen der Aspekt der Betroffenheit zentral: Wichtig sind hier also all jene Kräfte, die von einer politischen Entscheidung betroffen sind. Ihr Einbezug wird als Versprechen gesehen, das der demokratischen Idee inhärent und von jeder Demokratie einzulösen ist. Die partizipatorisch-deliberative Perspektive kritisiert an der zweckrationalen Sicht auf die Konkordanz, diese definiere zu eng, wer wichtig sei und wer nicht, wenn sie die Bedeutung von Kräften nicht nach deren Betroffenheit, sondern im Sinn der «realistischen Demokratietheorie» alleine nach deren politischer Macht beurteile. Bei einer solchen Praxis der Konkordanz würden «die kurzfristigen Partialinteressen sowie die ‹haves› gegenüber den langfristigen Allgemeininteressen und den Gruppen der ‹have-nots› systematisch begünstigt» (Linder und Müller 2017: 387). Aus einer partizipatorischen Sicht stellt sich die Frage, wie sich «nicht wichtige» Kräfte oder eben nicht ernsthaft einbezogene Gruppen in der Konkordanz Gehör verschaffen können. Wenn Konkordanz zwar grundsätzlich Minderheiten einbinde, aber eben nicht alle Minderheiten (vgl. auch Stojanovic 2018), dann werde ein inhärentes Versprechen der Demokratie, nämlich eine möglichst gleiche Chance, gehört zu werden, nicht eingelöst. Konkordanz sei bei einer solchen Praxis als Mittel zur Abschottung gegen Einwände von aussen, als Kartell der etablierten Kräfte zur «Privilegierung saturierter Interessen» (Scharpf 1970) sowie als Instrument zur Zementierung der Machtverhältnisse zu kritisieren.

    Wann aber ist ein Entscheid im Sinn der Konkordanz einvernehmlich? Auch hier kann sich eine Antwort auf unterschiedliche theoretische Grundlagen stützen. In einer neopluralistischen Vorstellung von Demokratie ist das Ziel eines Entscheidungsprozesses, an dem unterschiedliche organisierte Interessen teilnehmen, der Kompromiss. Dieser wird von Fraenkel (1991: 34) als Resultante beschrieben, die «sich jeweils aus dem Parallelogramm der ökonomischen, sozialen, politischen und ideologischen Kräfte einer Nation dann ergibt, wenn ein Ausgleich angestrebt und erreicht wird, der objektiv den Mindestanforderungen einer gerechten Sozialordnung entspricht und subjektiv von keiner massgeblichen Gruppe als Vergewaltigung empfunden wird». Ähnlich wird auf der Basis eines deliberativen Demokratiemodells argumentiert (Habermas 1981): Eine einvernehmliche Entscheidung kommt dann zustande, wenn möglichst alle Argumente aller potenziell Betroffenen ausgetauscht, ernsthaft angehört, gegeneinander abgewogen und schliesslich in eine allseits überzeugende Lösung überführt werden konnten.

    Im Gegensatz dazu gehen Vertreter einer sogenannten realistischen Demokratietheorie (Sartori 2006; Schumpeter 2005), davon aus, dass auch der Grad an Einvernehmen sich nach Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen richtet. Die Bewegungsrichtung der Resultante, um bei Fraenkels Bild zu bleiben, hängt demnach von der Stärke der einzelnen Vektoren, sprich Parteien, ab.⁴ Mit anderen Worten: Starke Akteure müssen bei einem Kompromiss weniger nachgeben, schwache mehr. Dafür ist einerseits ihre Macht entscheidend. Andererseits dürften alle politischen Akteure nicht zuletzt aufgrund ihrer Klientel, die sie vertreten, rote Linien haben, die sie aus strategischen oder ideologischen Gründen nicht überschreiten wollen. Dafür, inwieweit ein Akteur eingebunden wird, ist auch entscheidend, inwieweit er zu Zugeständnissen bereit ist. Wer bestimmte Grundpositionen – Fraenkel würde von einem Minimalkonsens, von einem nicht kontroversen Sektor, sprechen – nicht teilt, wird in die Entscheidungsfindung von vornherein nicht eingebunden.

    Box 1: Die Struktur der Reden – Datensatz zu den Wortmeldungen im Parlament

    Datensatz: Wortmeldungen im eidgenössischen Parlament (1995–2018).

    Zitierweise: Zumbach, David (2019a). Datensatz: Wortmeldungen im eidgenössischen Parlament (1995–2018). Zürich/Bern: Grünenfelder Zumbach GmbH /  Année Politique Suisse.

    Verwendung im Sammelband: Beitrag von Daniel Schwarz, Beitrag von Sean Müller, Beitrag von Marlène Gerber, Beitrag von Hans-Peter Schaub, Beitrag von Guillaume Zumofen sowie Beitrag von Anja Heidelberger und Marc Bühlmann.

    Kurzbeschrieb: Der Datensatz beinhaltet alle im Parlament zwischen der Wintersession 1995 und der Sommersession 2018 gehaltenen Reden sowie zahlreiche weitere Informationen, zum Beispiel zu den Sprechenden, zum Zeitpunkt der Reden, zum Geschäft, über das debattiert wurde, oder zu den Emotionen im Rat.

    Zwischen der Wintersession 1995 und der Sommersession 2018 wurden im eidgenössischen Parlament 182 374 Voten zu 15 559 Geschäften gehalten. Pro Geschäft wurde dabei ganz unterschiedlich häufig das Wort ergriffen: Das Maximum von 2198 Reden erzielte die Revision der Bundesverfassung im Jahr 1998. Bei den übrigen Geschäften liegt die maximale Anzahl Voten bei knapp 1000, wobei die Änderung des KVG zur Spitalfinanzierung mit 938 Reden den zweithöchsten Wert erzielt, gefolgt vom RTVG, dem Bundesgesetz über Radio und Fernsehen, mit 920 Reden. Der Median hingegen, also der Wert, der genau in der Mitte zwischen den 50 Prozent höchsten und 50 Prozent tiefsten Werten liegt, beträgt lediglich 3 Voten. In der Hälfte aller Fälle werden also weniger als 3 Reden pro Geschäft gehalten.

    Im Nationalrat wurden im Untersuchungszeitraum durchschnittlich 10,1 Reden pro Geschäft gehalten, im Ständerat waren es mit 9,2 Reden leicht weniger. Über die Zeit lässt sich in beiden Räten eine signifikante Abnahme der Anzahl Voten pro Geschäft feststellen (vgl. Abbildung 1). Dies deutet auf einen wachsenden Zeitdruck in der Behandlung von Geschäften hin – was unsere Daten ebenfalls bestätigen: Über die Zeit ist die durchschnittliche Anzahl behandelter Geschäfte pro Jahr im Nationalrat von jährlich 395 während der ersten vier vollständig im Datensatz vorhandenen Jahre (1996–1999) auf 677 Geschäfte jährlich während der letzten vier vollständig vorhandenen Jahre (2014–2017) gestiegen, im Ständerat von jährlich 193 (1996–1999) auf 350 Geschäfte pro Jahr (2014–2017).

    Im Nationalrat hat diese Zunahme der Arbeitsbelastung jedoch keine Auswirkungen auf die Länge der Reden: Die Anzahl Wörter pro Votum hat sich nicht signifikant verändert. Dies liegt an der Redezeitbeschränkung im Nationalrat (vgl. dazu den Beitrag von Ruth Lüthi in diesem Band). Sie liegt aber mit 335 Wörtern pro Rede auch deutlich unter derjenigen des Ständerats mit 408 Wörtern pro Rede. Im Ständerat bleibt für die geringere Anzahl Mitglieder ja auch deutlich mehr Zeit pro Votum, und er kennt keine Beschränkung der Redezeit. Der Wert für den Ständerat hat sich im Gegensatz zum Nationalrat über die Zeit verändert, jedoch nicht so, wie es aufgrund der Arbeitsbelastung vielleicht zu erwarten gewesen wäre: Die Länge der Voten nimmt im Ständerat über die Zeit nämlich signifikant zu (von 428 Wörtern zwischen 1996 und 1999 über 369 zwischen 2004 und 2007 auf 449 zwischen 2014 und 2017).

    2.3 Konkordanz als Prozess und Politikstil

    Genau genommen wirft die oben gegebene Definition – Konkordanz als Einbindung aller wichtigen Kräfte in Entscheidungen mit dem Ziel, möglichst einvernehmliche Lösungen zu finden – noch eine dritte Frage auf: Was ist unter «Einbindung» zu verstehen? Mit den «wichtigsten» Kräften, die eine «einvernehmliche» Entscheidung suchen, haben wir Akteure und Ziel von Konkordanz definiert, nicht aber den Prozess, der beschreibt, wie die Akteure zu diesem Ziel gelangen. Zu diesem Prozess gehören Aspekte des Politikverhaltens und des Politikstils.

    Konkordanz kann dabei in Anlehnung an Bolliger (2007: 42) als «politische Praxis» aufgefasst werden: Politische Akteure vertreten unterschiedliche gesellschaftliche Segmente entlang verschiedener Konfliktlinien. In einer Konkordanzdemokratie ist ihr Verhalten auf Kooperation, Interessenausgleich und Tauschgeschäfte angelegt. Politische Entscheidungen sind also das Resultat von Verhandlungen verschiedener Parteieliten, die unterschiedliche gesellschaftliche Segmente repräsentieren und die ihre Einwilligung in die gefundene Entscheidung geben. Konkordanz ist damit dann gefährdet, wenn «die politischen Eliten […] ihre Gruppenziele zu starr» (Bolliger 2006: 45) vertreten und eine Einwilligung wiederholt auch in grundlegenden Fragen verwehren (vgl. auch Linder und Müller 2017: 381 f.).

    Möglichst breite Kompromisse, bestenfalls gar konsensuelle Entscheidungen, gelten so also quasi als Produkt funktionierender Konkordanz. Das Resultat einer Abstimmung, verstanden als Etappe in der fortwährenden demokratischen Aushandlung (Bühlmann 2015a, b), kann dann als Indikator dafür betrachtet werden, wie gut es gelungen ist, Kompromisse zu finden. Als Kompromiss kann dabei eine Entscheidung betrachtet werden, die sich irgendwo zwischen Konsens und Konflikt bewegt. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass Konflikt eigentlich den Normalfall in der Politik darstellt, weil die Interessen der beteiligten Akteure in der Regel eben nicht übereinstimmen. Konkordanz bedeutet in einem prozeduralen und weniger outputorientierten Sinn, dass dieser Konflikt so ausgetragen wird, dass ein Kompromiss möglich wird, hinter dem eine möglichst grosse Mehrheit steht.

    Auch beim Blick auf Konkordanz als Prozess helfen uns die beiden bereits erörterten demokratietheoretischen Strömungen, um zwei Extrempositionen dingfest zu machen. Für die realistische Position steht auch hier eine möglichst einfache, effiziente Mehrheitsbildung im Zentrum. Fraktionen setzen jene Aspekte ihres Parteiprogramms um, die von genügend anderen Akteuren geteilt werden, um eine ausreichende Mehrheit zu finden. Gesucht wird in dieser Sichtweise primär nach – mitunter je nach Thema wechselnden – Koalitionspartnern für vorgefasste Positionen und weniger nach tragbaren Kompromisspositionen für eine mehr oder weniger gegebene breite Zahl von Partnern. Wer sich nicht hinter eine mehrheitsfähige Forderung stellen will (oder aus Rücksicht auf seine Wählerschaft nicht stellen kann) und für die Mehrheitsbildung nicht notwendig ist, kann wohl mit im Saal sitzen, wird aber nicht ernsthaft in die Gestaltung der Lösung einbezogen, bringt sich selbst nicht ernsthaft ein und/oder versucht gar, aktiv eine Entscheidung zu verhindern oder wenigstens zu blockieren. Er gewinnt dafür die Möglichkeit, sich gegenüber der Wählerschaft mit prononcierteren Positionen zu profilieren (Linder und Müller 2017: 102).

    Ein solches Modell nimmt jene Kritik an der Konkordanz auf, die dieser vor allem aus einer ökonomischen Perspektive heraus eine «geringe Innovationskraft» unterstellt (Linder 2009: 225). Gemäss dieser Kritik würden wichtige Reformen entweder verschleppt oder im schlimmsten Fall ganz blockiert, wenn bei der Konsenssuche stets den Positionen aller wichtigeren Akteure Rechnung getragen werden müsste (Borner et al. 1990). Zudem sind Kompromisslösungen oft entweder nahe am Status quo oder führen zu einer teuren Überversorgung, damit alle beteiligten Interessen auf ihre Rechnung kommen (Linder und Müller 2017: 388). Zukunftweisende Lösungen würden so hingegen kaum produziert. Um Reformen rasch anzupacken, sollten deshalb aus dieser Position nicht nur die «wichtigen» Kräfte auf ein Minimum reduziert werden (Wittmann 1998), sondern auch bewusst auf die aufwendige Bildung übergrosser Mehrheiten und auf eine einvernehmliche Entscheidungsfindung verzichtet werden. Aus systemischer Perspektive wird hier statt der Konkordanz- also eher eine Konkurrenzdemokratie gefordert (Germann 1994), wobei es für «wichtige» Akteure attraktiver wäre, zumindest bei für sie wichtigen Interessen eher Wettbewerb und Profilierung als Kompromiss anzustreben.

    Eine partizipatorisch-deliberative Perspektive setzt demgegenüber auf ein Verhalten der Konkordanzpartner, das sich stets an einer ernsthaften Suche nach Kompromisslösungen orientiert, die für möglichst alle Partner zumindest tragbar sind. Ein entsprechender konkordanter Politikstil zeichnet sich nach Vatter (2016: 550) «durch ein Verhaltensmuster der verschiedenen Lager aus, das […] eine hohe Kompromissbereitschaft, Mitverantwortlichkeit, die Berücksichtigung von Minderheiten und ein gegenseitiges Entgegenkommen zur kooperativen Konfliktregelung verlangt». Auch die Juniorpartner eines Konkordanzsystems werden hier ernsthaft angehört, und die dominierenden Kräfte kommen ihnen zumindest ein Stück weit entgegen. Im Gegenzug erwarten diese eine gewisse Loyalität und Mässigung der Juniorpartner bei der Kritik an so ausgehandelten Lösungen und/oder an ihren politischen Gegnern.

    Gefordert wird also kompromissorientiertes Verhalten von allen Akteuren bei grundsätzlich allen Entscheiden. Dass dies gerade für die Juniorpartner eines Konkordanzsystems durchaus ambivalent sein kann, zeigt etwa die besonders in den 1980er-Jahren von links kritisierte Funktion der Konkordanz als «Verschleierung der bürgerlichen Machtoligarchie» (Klöti et al. 2014: 198): Die Linke opfere ihr Profil und eine grundsätzliche Alternative zur bürgerlichen Politik demnach für ein allzu geringfügiges Entgegenkommen. Wenn immer dieselben Konkordanzpartner weitgehend überstimmt werden, so kann Einbindung ihre Janusköpfigkeit zeigen und sich mehr als Anbindung denn als echter Einbezug äussern. Linder und Müller (2017: 381) sprechen hier von «informeller Mehrheitspolitik hinter der Fassade formaler Konkordanz», in der der politische Spielraum der dominierten Juniorpartner eingeengt wird und die Lernbereitschaft der Mehrheit gegen null tendiert.

    Zur Frage der gelebten Konkordanz als Prozess gehören auch Aspekte des Umgangs miteinander. Die «Schmiermittel» der Konkordanz, nämlich «das gütliche Einvernehmen und der konstruktive Dialog» (Jakob 2011), vertragen sich gemäss Bächtiger (2016: 33) zum Beispiel nicht mit einem «populistischen und aggressiven Diskussionsstil» und dem «damit verbundene[n] Verlust an Sachlichkeit der demokratischen Auseinandersetzung». Auch Klöti et al. (2014: 197) sehen ein «kooperatives Verhalten» als Voraussetzung für das Funktionieren eines Konkordanzsystems. Linder und Müller (2017: 271) mahnen, dass die zunehmende «Härte und Polemik, persönliche Verunglimpfung, ja die Verhöhnung des politischen Gegners» der politischen Kultur der Konkordanz abträglich sei und auf Dauer nicht «nur eine Frage des politischen Stils, sondern auch eine des gesellschaftlichen Zusammenhaltes» sei.

    Zusammenfassend schlagen wir vor, unter Konkordanz eine Praxis der Entscheidungsfindung zu verstehen, bei der die wichtigsten Kräfte eingebunden werden, um in einem mehr oder weniger kooperativen Prozess nach einer einvernehmlichen Entscheidung zu suchen. Welche Kräfte wichtig sind, welcher Grad an Einvernehmen bzw. welche Art von Kompromiss angestrebt wird und wie die Entscheidung letztlich ausfallen soll, ist dabei vor allem eine Frage der demokratietheoretischen Position. Dabei stellen die einzelnen Felder in Tabelle 1 idealtypische Extrempositionen dar, mit deren Hilfe sich Akteure, Prozesse und Entscheide der Konkordanz beschreiben lassen.

    3. Herausgeforderte Konkordanz – Konkordanz im Wandel

    Die Konkordanz hat für die Schweiz deshalb eine so grosse Bedeutung, weil es insbesondere in segmentierten Gesellschaften essenziell ist, übergrosse Mehrheiten zu schaffen und auf Anliegen von Minderheiten nicht nur Rücksicht zu nehmen, sondern Letzteren die Chance zu geben, effektiv selbst mitzuwirken. Konkordante Mechanismen bauen auf dieser Logik auf: Weil breit getragene, einvernehmliche Lösungen gesucht werden, besteht die Chance, dass zumindest Teile der Anliegen von (wichtigen) Minderheiten in einen Kompromiss einfliessen. Dies verspricht in Gesellschaften mit zahlreichen unterschiedlichen Minderheitengruppen auf Dauer ein wesentlich stabileres politisches System als eine Konkurrenzdemokratie, in der die Gefahr besteht, dass sich langfristig vernachlässigte Minderheiteninteressen eruptionsartig oder sogar gewaltsam Gehör verschaffen (Lijphart 1999).

    In der schweizerischen Politik und Gesellschaft geniesst die Konkordanz – freilich mit etwas unterschiedlichen Verständnissen des Begriffs – denn auch einen ausserordentlich breiten Rückhalt und wird mit einer Ära bemerkenswerter politischer Stabilität, wirtschaftlichen Aufschwungs und gesellschaftlichen Ausgleichs (seit den parteipolitischen Veränderungen des Bundesrats 1891, 1929 und insbesondere 1959) in Verbindung gebracht. In den letzten Jahrzehnten freilich haben verschiedene mehr oder weniger epochale Veränderungen an Fahrt gewonnen, die den Willen zur konkordanten Zusammenarbeit in der Bundespolitik – ob nun realistisch oder partizipatorisch definiert – unterspülen könnten. Speziell zu erwähnen ist hier die Zeitspanne zwischen 2003 und 2015, in der die Konkordanz einer besonderen «Belastungsprobe» ausgesetzt war (Linder und Müller 2017: 472). Nachdem die Vereinigte Bundesversammlung mit der Wahl von Christoph Blocher anstelle von Ruth Metzler zum Bundesrat 2003 die seit 1959 gepflegte Zauberformel aufgegeben hatte, kam die Debatte um die Konkordanz richtig in Fahrt. Eine zusätzliche Dynamik erhielt sie 2007 nach der Nichtwiederwahl von Christoph Blocher, der der Ausschluss zahlreicher «Abweichler» aus der SVP, die Gründung der BDP sowie der Gang der SVP in die teilweise Opposition

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