Acht Jahre in einer Nissenhütte: Kindheit und Jugend während der Nachkriegszeit
By Ingo Schulze
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Acht Jahre in einer Nissenhütte - Ingo Schulze
NISSENHÜTTEN IN DER SPORTALLEE VON 1948 BIS 1956
Geboren wurde ich am 8. Februar 1948 in Tangermünde, Kreis Stendal an der Elbe. Tangermünde ist eine alte Kaiser- und Hansestadt im Bundesland Sachsen-Anhalt in der Altmark.
Wenn ich heute erzähle, dass ich am Tanger geboren wurde, werde ich oft gefragt, ob ich geborener Marokkaner sei. Der Tanger ist ein linker Nebenfluss der Elbe und mündet in Tangermünde in ebendiese. Im Wort „Tangermünde steckt also der „Tanger
.
Die ersten Monate verbrachte ich bei meinen Großeltern in Tangermünde. Ende 1948 holten mich meine Mutter und mein Stiefvater nach Hamburg. Hier bewohnten sie bereits eine Nissenhütte. Nein, es war keine Hütte, in der sich Nissen befanden. „Nissenhütte" ist die Bezeichnung für eine von einem kanadischen Ingenieur und Offizier namens Peter Norman Nissen im Jahr 1916 entwickelte Wellblechhütte in Fertigteilbauweise mit einem halbrunden Dach. Im Ersten Weltkrieg diente sie der Armee als möglichst billige, schnell zu errichtende mobile Unterkunft.
Vier bis sechs Soldaten benötigten rund vier Stunden, um eine solche Nissenhütte aufzubauen. Berichten zufolge wohnten allein in Hamburg bis zu 14.000 Menschen in diesen Unterkünften. Die Hütten waren etwa 55 Quadratmeter groß und maßen 11½ mal 5 Meter. Bis zu zwei Familien wurden darin untergebracht. Nur eine dünne Wand trennte sie voneinander.
Die Kosten für eine Nissenhütte beliefen sich auf etwa 5000 DM. Später hat man die Stirnseite mit Backsteinen versehen, was den Preis auf etwa 8000 DM anwachsen ließ. Mit meinen Eltern und drei Geschwistern lebte ich in der Nissenhütte auf 27 Quadratmetern.
Ich glaube, wir hatten mit unserer Nissenhüttensiedlung in der Sportallee Nord und Süd noch Glück. Die Siedlung war nicht so riesig wie die in Barmbek, Billwerder, Harburg, Eilbek oder Billstedt. Ich war mal zu Besuch in Billstedt und konnte mich glücklich schätzen, als ich wieder in der Sportallee war. Wohl auch deshalb, weil ich nur die Sportallee kannte und mich dort heimisch fühlte.
Billstedt erschien mir riesig und unübersichtlich. Ich weiß, dass einem alles viel größer erscheint, wenn man selbst klein ist. Aber Billstedt war mir auch unheimlich, denn bevor ich mich versah, wurde ich von einigen Gleichaltrigen umringt. Sie erweckten den Eindruck, als wollten sie mir an die Wäsche. Rasch suchte ich Schutz bei meinem Stiefvater.
Unsere Adresse war die Sportallee in der Nähe des Flugplatzes Fuhlsbüttel. Unser Lager nannte sich „Sportallee Süd. Auf der anderen Straßenseite befand sich das Lager „Sportallee Nord
. Unser Lager lag auf der linken Seite, wenn man vom Flughafen kam. Ich erinnere mich noch vage an einen schmalen Kirschbaum, der vor unserer Hütte stand. Hier wohnten wir nur kurz und zogen schon bald, aus welchen Gründen auch immer, auf die gegenüberliegende Seite in eine andere Nissenhütte um.
Die Hütten waren nicht isoliert. Im Winter war es saukalt und andauerndes Heizen konnte man sich nicht leisten. Der Fußboden bestand aus dünnen Brettern und war ebenfalls nicht isoliert. Nachts hieß es also, sich warm einzupacken. Gern nahmen wir uns einen angewärmten Ziegelstein mit ins Bett. Ich erinnere mich an zahlreiche Nächte, in denen ich stark fror und deshalb kaum schlafen konnte. Eine Decke reichte dann nicht, weshalb wir Socken und Pullover anbehielten. Am Morgen waren die Fenster oft mit Eisblumen bedeckt. Das sah wunderschön aus! Heutzutage kennt kaum noch jemand diesen Anblick, denn mittlerweile sind die Fenster gut isoliert.
Nach dem Aufstehen wurde als Erstes der Ofen eingeheizt. Wir saßen dann bibbernd davor, um endlich wieder warm zu werden. War der Ofen noch nicht richtig heiß, setzten wir uns obenauf, bis es am Hosenboden unangenehm wurde. Im Sommer war es dann so heiß in der Hütte, dass wir uns, wann immer es möglich war, im Freien aufhielten. Die Hitze, die das Wellblech abgab, wurde noch verstärkt von der Hitze des Ofens, schließlich musste Essen gekocht oder Wasser heiß gemacht werden.
Ganz ungefährlich waren die Öfen damals nicht. Sie wurden entweder falsch beheizt oder die Ofenrohre waren so dünn, dass sie glühten. Bei diesem Anblick konnte einem angst und bange werden. Hinzu kam, dass die Öfen so gut wie gar nicht gewartet wurden – von wem auch? Das hatte zur Folge, dass eine solche Feuerstelle schon mal einen Brand auslöste. Ob damals bereits die Möglichkeit bestand, die Luftzufuhr oder gegebenenfalls die Drosselklappe zu schließen, ist mir nicht bekannt.
Der Ofen stand in der Nähe der Haustür und wurde mit Holz oder Kohlen beheizt. Er eignete sich nicht nur gut zum Kochen, sondern auch zum Backen. Wurde ein Kochtopf aufgesetzt, brauchte man Ofenringe. Ein Ofenring ist ein flacher, gusseiserner Ring zur Verkleinerung einer runden Öffnung über dem Feuer eines Kohleherdes. Jeder Ring ist auf der Außenseite unten und auf der Innenseite oben abgeflacht, damit man die Ringe ineinanderlegen kann und somit die obere Fläche eben ist für Töpfe und Pfannen.
Ein Tisch sowie eine entsprechende Anzahl von Stühlen und Betten wurden von der Lagerverwaltung zur Verfügung gestellt. Es war üblich, dass zwei Kinder in einem Bett schliefen. Ergänzt wurde das Mobiliar durch einen kleinen Kleiderschrank oder eine Kommode, für mehr war kein Platz. Man kann sich die Enge heute sicherlich gut vorstellen.
Das Tageblatt der „Hamburger Nachrichten" berichtete im ersten Nachkriegsjahr Folgendes:
Als ein kleines Mädchen nach einer unruhigen Nacht seinen bloßen Arm ausstreckt, schreit es plötzlich vor Schmerzen. Seine Hand ist an der eiskalten Wellblechwand festgefroren. Die Eltern geraten in Panik. Sie dürfen nicht einfach hinauslaufen und Hilfe holen, es herrscht Ausgangssperre in diesem ersten Nachkriegswinter. Schließlich können sie eine britische Militärpatrouille anhalten, die per Funk die Feuerwehr alarmiert. Mit einer Lötlampe erwärmen die Retter das Wellblech vorsichtig von außen, schließlich kann das Mädchen seine Hand befreien. Geschockt, aber unverletzt.
Die Hütte verfügte über eine einzige Steckdose, die für Radio, Tauchsieder und eventuell auch für eine Heizsonne herhalten musste. So mancher Hobbyelektriker verursachte einen Brand, und auch ein Kurzschluss war keine Seltenheit. Aber jedes Mal eine Sicherung kaufen? Das kostete Geld! Eine ausgediente Sicherung tat es schließlich auch. Sie wurde mit einer Büroklammer oder der Folie einer Zigarettenschachtel „repariert".
Die Frauen trugen meist lange Kleider oder Röcke. Hosen waren zu der Zeit noch verpönt, sie galten als unanständig. Nicht selten verfing sich ein Kleid in der Heizsonne, weil ein Sicherheitsgitter oder eine andersgeartete Sicherheitseinrichtung fehlte. Die Situation war damit lebensbedrohlich, denn die Gefahr, dass die Hütte in Brand geriet, war groß.
Nicht jeder kaufte sich einen Tauchsieder. Stattdessen gab es „Hobbyelektriker, die sich so ein Ding selbst zusammenbastelten. Das Ergebnis liegt nahe. Bei dem Gedanken daran würde ich heute Bauchweh bekommen. Je nach „Bauweise
durfte das Ding nur begrenzt ins Wasser gehalten werden. Einen Zentimeter weiter, und einem standen die Haare zu Berge oder Schlimmeres. Auch mein Stiefvater bastelte sich so einen Ersatztauchsieder zusammen, den meine Mutter aber schnell entsorgte.
Ich habe einmal eine brennende Hütte erlebt und hatte von da an vor einer Heizsonne und Feuer im Allgemeinen höllischen Respekt. So sehr das Gerät auch wärmte, ich war froh, dass wir keins hatten, und musste mir diesbezüglich keine Sorgen machen. So etwas wie die DIN-Sicherheit – die VDE-Norm gab es bereits seit 1893 – war noch nicht so stark im Fokus wie heute oder wurde schlichtweg missachtet. Die Heizsonne war zu dieser Zeit trotz des hohen Stromverbrauchs eine große Errungenschaft und im Lager sehr