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Snow Down
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Ebook394 pages5 hours

Snow Down

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About this ebook

Vivian sieht sich von Angesicht zu Angesicht mit Annabelles Mörder, der vor nichts zurückschrecken wird, um sie und ihre Freunde aus dem Weg zu räumen. Es liegt einzig und allein an ihr, Joe und Henry, ob sie es schaffen, die Unschuld Vivians Vaters beweisen zu können und somit den wahren Mörder hinter Gittern zu bringen.
Gerade als sie glaubt, dass alles vorbei ist, hat es eigentlich erst begonnen.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateOct 28, 2020
ISBN9783752920376
Snow Down

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    Book preview

    Snow Down - Annika Siry

    1. Kapitel

    Das war alles ein böser Traum. Nur ein Traum. Ich wachte auf, um herauszufinden, dass ich mir das alles nur eingebildet hatte. Um herauszufinden, dass nichts dergleichen je passiert war und ich in Wahrheit einfach nur eine lebhafte Phantasie hatte. Annabelle lebte noch, Dad war nie im Gefängnis gewesen, ich saß gemütlich daheim auf der Couch zusammen mit Henry und hatte noch immer nichts mit Joe am Hut.

    Wenn es denn nur so wäre.

    Ich wachte tatsächlich auf. Doch es war alles nach wie vor kein Albtraum. Es war traurige Realität. Leider. Ja, ich versank gerade in Selbstmitleid, doch ich war ehrlich gesagt der Meinung, dass es gerade vertretbar war. Immerhin saß ich gerade auf einem harten Holzboden mit gefesselten Händen und Füßen. Nicht gerade mein Wunschzustand. Als könne es nicht schlimmer kommen, hatte ich noch dazu höllische Kopfschmerzen. Ich konnte mir jedoch denken, woher sie kamen. Der Schlag auf den Kopf.

    Das Letzte, an das ich mich erinnern konnte, war die Nacht in dem Wald. Ich hatte die Karte vom Fitnessstudio abgeben wollen, doch in dem Umschlag war nur noch eine billige Kalenderkarte gewesen. Als ich versucht hatte, die Flucht zu ergreifen, hatte jemand mir auf den Kopf geschlagen. Und ja, eigentlich war das bereits alles.

    Da wäre noch etwas.

    Joe.

    Ich hatte ihn dort gesehen. Und das Einzige, dass er getan hatte, war zusehen. Zusehen, wie ich fast umgebracht und anschließend entführt worden war. Er hatte rein gar nichts getan. So was nannte sich wahre Freundschaft.

    Was sollte ich also daraus jetzt folgern? Dass Joe einfach nur egoistisch und gemein war und sich einen Dreck darum kümmerte, was mir passierte?

    Oder vielleicht doch etwas anderes?

    Eigentlich hatte ich diese Gedanken schon etwas länger gehabt. Ich hatte sie verdrängt, einfach, weil ich sie nicht hatte wahrhaben wollen. Doch jetzt schienen sie unumgänglich. Die ersten Zweifel an Joe waren das erste Mal aufgetaucht, als er betrunken mitten in der Nacht vor meiner Tür aufgekreuzt war. Mit einem blauen Auge und blutverschmiert. Mir war natürlich klar, dass es heißen musste, dass er in einer Schlägerei verwickelt worden war, doch damals hatte ich mir einfach gesagt, dass es nichts weiter bedeuten musste.

    Vielleicht hatte ich mich ja getäuscht.

    Ich wollte damit keinesfalls behaupten, dass Joe ein Mörder war. Nein, das glaubte ich nicht. Das wusste ich. Vielmehr hatte ich diese Vermutung, dass er ja... in der Sache verwickelt sein konnte. Mir war schon so viel in diesen zwei Wochen passiert, das sich mit dieser Theorie erklären ließ.

    Aber Joe würde das doch niemals seiner Schwester antun. Oder?

    Dann aber die Worte des Hausmädchens. Dass Joe immer im Schatten von Annabelle gestanden hatte. Was, wenn es ihm gereicht hatte? Wenn er es satt gehabt hatte, dass seine Schwester immer erfolgreicher, immer besser, immer beliebter gewesen war als er? Wenn er einfach die Nase voll gehabt hatte, dass er sich immer mehr anstrengte und dass es seinen Eltern trotzdem egal gewesen war.

    Ich sah zu viele Krimiserien.

    Vielleicht geschah so etwas in den Serien, aber Joe würde das doch niemals tun. Es ging hier um seine Schwester. Das war unmöglich. Man musste schon ganz schön verteufelt sein, um seine eigene Schwester aus Neid ermorden zu lassen.

    Was sprach denn außerdem überhaupt dafür?

    Das war es ja. Es war leider nicht die von mir erhoffte Antwort. Es war nicht nichts.

    Er war der Einzige gewesen, der sonst noch in Dads Haus gewesen war, als jemand mein Fenster mit dem künstlichen Blut beschmiert hatte. Was, wenn es Joe selber gewesen war? Er hatte es sogar selber entdeckt.

    Aber das hieß ja noch gar nichts.

    Vor kurzem war er nach einer SMS gleich abgehauen, damals, als Henry und ich gemeinsam mit ihm den Tatort hatten finden wollen. Was, wenn der Mörder ihm die Nachricht geschickt hatte? Und beide unter einer Decke steckten?

    Ich sollte mir doch mal selbst hören. Das war doch lächerlich.

    Außerdem hatte ich jetzt weitaus schlimmere Probleme. Ich sollte nicht versuchen, Leute zu beschuldigen. Ich sollte versuchen, von hier zu verschwinden.

    Stünde da nicht der Pseudo-Arzt höchstpersönlich in dem gleichen Raum wie ich in der Ecke an der Wand gelehnt und mich anstarrend.

    Ja, aus diesem Grund hatte ich noch nicht um Hilfe geschrien, genau deswegen. Weil ich wusste, dass das keine gute Idee wäre. Immerhin protzte eine Waffe nur so aus seiner Hosentasche. Ich wusste nicht, ob er sie mit Absicht so in die Hose gesteckt hatte, um mir Angst einzujagen und gleichzeitig cool zu wirken, oder weil die Pistole ganz einfach nicht in die Hosentasche passte.

    Wieso machte ich mir denn auch Gedanken darüber?

    »Hi Vivian.« Der Mann löste sich von der Holzwand und kam zu mir herübergelaufen. Nicht ein sonderlich langer Weg. Immerhin befanden wir uns gerade auf etwa fünf Quadratmeter Fläche. Wenn nicht weniger. Wenn ich die ganzen Gartengeräte um mich herum betrachtete, wusste ich auch, wo ich sein musste.

    Ein Gartenhaus.

    Wie schön.

    »Ich hätte es gerne nicht so weit kommen lassen, weißt du. Nur hast du mir leider keine andere Wahl gelassen.« Genau. Das glaubte ich ihm sofort. Wenn er es nicht so weit hatte kommen lassen wollen, hätte er mich genauso gut auch einfach nach Hause schicken können. Seine Logik war nicht ganz schlüssig.

    Mein Verhalten war auch nicht schlüssig.

    Ich konnte gar nicht verstehen, wieso ich so entspannt war. Wieso ich alles so friedlich beobachtete und mit vollkommen klarem Kopf wahrnahm. Irgendwie hatte ich noch nicht so ganz begriffen, dass das hier echt war und nicht irgendein Krimi im Fernsehen oder ein verrückter Traum. Es fühlte sich alles so irreal an.

    »Aber man sagt ja immer, man solle Leuten eine zweite Chance geben. Ich will das Gleiche tun. Ich gebe dir eine zweite Chance. Gib mir die Karte, sag mir wo sie ist und ich lasse dich gehen. Versprochen.«

    Ich pfiff auf sein Versprechen. Ich war ja nicht verrückt. Jemand, der morden konnte, würde sicherlich kein Problem haben, mal schnell zu lügen. Was er mir hier versprach, wäre einfach taktisch gesehen als Mörder das Dümmste, was man tun könnte. Als ob er mich danach wieder laufen lassen würde.

    Ich hätte ihm trotzdem die Karte gegeben. Oder gesagt, wo sie ist.

    Nur konnte ich das nicht.

    Ich wusste ja selber nicht, was mit der Karte passiert war.

    »Und wenn ich wirklich nicht weiß, wo die Karte ist?« fragte ich vorsichtig.

    »Vivian.« Er lächelte. Okay, jetzt bekam ich eine Gänsehaut. »Spiel mir nichts vor. Ich weiß genau, dass du weißt, wo die Karte ist. Schau her. Du kannst es dir entweder leicht machen oder schwer. Es liegt allein bei dir. Ehrlich.«

    Jetzt wurde ich aber stinkig. Es lag einfach mal so gar nicht bei mir.

    »Ich weiß wirklich nicht, wo die Karte ist! Ich schwör!« Ich versuchte, mich etwas zu beruhigen. Ich musste mich ja nicht gleich so aufregen, ich musste cool bleiben. Das war bestimmt hilfreicher, als so auszuticken.

    Aber ich hatte einfach verdammt nochmal keine Ahnung, wo diese bescheuerte Karte war! Ich hätte sie ihm ja nachgeworfen, wenn ich es gewusst hätte!

    Er seufzte. Als wäre er jetzt traurig. Das ekelte mich an. »Ich würde dir ja gerne glauben, aber ich tue es nun mal nicht. Ich frage dich nur noch ein letztes Mal: Willst du dir selbst helfen und mir die Karte geben oder nicht?«

    Pah.

    Natürlich wollte ich mir selbst helfen! Natürlich wollte ich ihm die Karte geben! Ich konnte aber nicht! Wieso wollte er mir nicht glauben? Wieso war die blöde Karte auch einfach verschwunden?

    Wetten, dieser blöde Joe hatte sie geklaut?

    Teil seines Plans?

    »Ich will die Karte hergeben« sagte ich. Sein Gesicht hellte auf. Leider nur kurz. »Aber ich weiß wirklich nicht, wo sie ist! Ich würde sie ehrlich direkt hergeben, ich weiß nicht einmal, wieso ich sie für mich behalten sollte! Aber ich weiß. Es. Einfach. Nicht!« Langsam merkte ich doch, wie mein Puls anstieg. Jedoch nicht wegen meiner Situation, sondern eher, weil ich einfach sauer war. Wütend, weil ich nicht beeinflussen konnte, in welche Richtung dieses Gespräch verlief. Weil irgendjemand die verdammte Karte geklaut hatte.

    Wer immer es war, der konnte noch was von mir erleben.

    Ja, die Person würde was von mir erleben, denn ich würde lebend aus dieser Hütte herauskommen, egal, wie der Mann vor mir sich entschied.

    Hoffte ich doch.

    »Vivian, du lässt mir keine andere Wahl.« Er machte eine Kunstpause. Dramaqueen. Idiot. Ich hätte ihm gerne einige meiner Beleidigungen an den Kopf geworfen. Aber ich wollte ihn nicht provozieren. Das würde alles bestimmt nur verschlimmern. Man nahm doch immer etwas aus Krimiserien mit. »Ich habe es ja versucht. Leichte Variante. Harte Variante. Aber du wolltest ja nicht.« Klar, jetzt war es natürlich alles meine Schuld.

    Irgendwie konnte ich mir denken, dass es so oder so auf die ›harte‹ Variante hinausgelaufen wäre.

    Am liebsten hätte ich meine Augen geschlossen. Wer wusste, vielleicht verschwand er ja dann wieder. Doch ich wollte auch nicht wie ein schwacher Feigling wirken.

    Ich stellte mich schon mal auf alles ein. Ich wusste ja nicht, wie weit er gehen würde. Aber bei ihm war es wohl ziemlich weit. Er hatte schon mal jemanden ermordet.

    Ich wollte aber nicht die Nächste sein!

    Es musste doch irgendetwas geben, dass ich tun konnte. Irgendetwas. Ich musste nur nachdenken. Nachdenken.

    Vielleicht...

    Wieso wollte mir denn nichts einfallen? Natürlich waren meine Möglichkeiten sehr stark eingeschränkt, so wie meine Bewegungsfreiheit – deswegen ja auch. Aber es musste doch einen Ausweg geben.

    Ich hielt die Luft an.

    Der klassische Nokia Klingelton ertönte.

    Ich sah den Pseudo-Arzt irritiert an. Er war kurzzeitig aus dem Konzept gebracht. Dann griff er in die Hosentasche (nicht die mit der Pistole) und zog sein Handy aus der Tasche. Nach einem Blick auf das Display lief er zur Tür.

    Okay... Diese Wendung hatte ich nicht kommen sehen.

    »Ich bin gleich wieder da, keine Sorge.« Falls er mit dem Satz hatte witzig klingen wollte, war er kläglich daran gescheitert.

    Er machte die Tür auf und schloss sie wieder hinter sich.

    Vielleicht konnte ich ja einfach durch die Tür rennen und mein Glück probieren.

    Er verriegelte die Tür von außen.

    Ich konnte nicht einfach durch die Tür rennen und mein Glück probieren.

    Nichts desto trotz war das hier jetzt meine Chance zu entkommen. Ich musste nur einen Weg finden. So schwer konnte es doch nicht sein. Ich musste schnell handeln. Viel Zeit hatte ich bestimmt nicht.

    Ich sah mich um. Was gab es denn hier alles an Dingen, die ich gebrauchen konnte?

    Das Fenster. Das Fenster mit dem Milchglas. Ich musste da durch entkommen. Es war der einzige Weg. Direkt unter dem Fenster war ein Stapel Feuerholz. Ich konnte es nutzen, um durch das Fenster zu klettern. Allerdings konnte man das Fenster nicht öffnen.

    Wie dem auch sei, zuerst musste ich mich von den Fesseln befreien. Ich blickte auf meine Füße. Er hatte Paketband benutzt, um sie zusammen zu binden. Eine Schere müsste vollkommen ausreichen.

    Diese Hütte war doch voll mit Gartenwerkzeugen, da musste doch auch eine Gartenschere sein. Wenn ich denn herumlaufen und eine finden könnte.

    Ich versuchte aufzustehen. War ich froh, dass ich mal beim Turnen gewesen war. Es gelang mir tatsächlich ohne allzu große Schwierigkeiten. Indem ich meine Hände hinten als Stütze benutzte, konnte ich mich mehr oder weniger leicht von hinten hochhieven. Mein Kreuz tat zwar jetzt weh, aber das war mir gerade auch egal. So wie meine Kopfschmerzen auch. Ich musste sie jetzt einfach ausblenden. Ich hatte sowieso keine andere Wahl.

    Von hier oben konnte man gleich viel besser sehen, wo was war.

    Tatsächlich lag auf einem Regal neben der Tür eine Gartenschere. Zusammen mit einer Schaufel, einer Zange und diversen anderen Dingen.

    Jackpot.

    Ich wollte mich ja nicht zu früh freuen, aber ich konnte auf jeden Fall mit Sicherheit sagen, dass dieser Mörder nicht sehr achtsam war. Dann vermutlich hatte er aber auch nicht geplant, mich hierhin zu bringen. Es war wahrscheinlich eine Notlösung gewesen, weil ich ihm nicht die Karte gegeben hatte.

    Wie sollte ich mich also fortbewegen?

    Natürlich konnte ich ganz einfach hüpfen. Aber vielleicht konnte man mich dann da draußen hören. Ich wollte nichts riskieren. Ich hatte keine andere Wahl, als jetzt wie ein Pinguin durch die Gegend zu torkeln. Zum Glück war es nicht weit. Ich wusste, dass es bescheuert aussehen musste, doch das war mir gerade so was von egal.

    Vor allem ohne Hilfe der Arme war es gar nicht mal so leicht. Ich hoffte einfach nur, dass ich nicht mein Gleichgewicht verlor.

    Ein Schritt nach dem anderen. Auch Kleinvieh macht Mist. Irgendwie musste ich doch mit diesen winzigen Schritten vorankommen. Der Weg schien mir so unglaublich lang. Und das, obwohl es sich um knapp zwei Meter handeln musste. Jeder Schritt schien eine Zeitverschwendung zu sein. Was, wenn ich es nicht rechtzeitig schaffte? Wenn er wieder in die Hütte kam, bevor ich fliehen konnte?

    Daran wollte ich jetzt einfach nicht denken.

    Daran durfte ich jetzt einfach nicht denken.

    Nach mühsamen kleinen Schritten erreichte ich nach einer gefühlten Ewigkeit das Regal mit den kleineren Gartenwerkzeugen.

    Jetzt musste ich also irgendwie an die Schere kommen. Leider konnte ich ja nicht einmal meine Arme anheben. Es sei denn...

    Ich drehte mich um und hob meine Arme – so gut es eben ging – hoch. Ich versuchte, an die Werkzeuge zu kommen. Leider konnte ich jetzt überhaupt nicht sehen, wohin ich griff. Ich konnte einfach nur hoffen, dass das hier tatsächlich funktionierte und nicht irgendeine Schnapsidee von mir war. Aber ich hatte ja ohnehin keine anderen Möglichkeiten.

    Da.

    Das war doch die Schere. Mit den zwei Metallgriffen. Ich nahm es und zog es von dem hölzernen Regal weg.

    Toll. Und jetzt?

    Ich musste wieder auf den Boden kommen, sonst konnte ich ja praktisch nicht das Paketband an meinen Füßen durchschneiden.

    Gut, das würde jetzt schmerzhaft werden. Ich biss mir auf die Lippe. Dann versuchte ich, so langsam wie möglich auf die Knie zu gehen. Ich konnte ja nicht meine Hände als Hilfe benutzen. Ich konnte sie ja fast gar nicht benutzen.

    Es kam, wie es kommen musste. Man konnte es einfach nicht verhindern. Irgendwann kam der Punkt, an dem die Muskeln einen nicht mehr halten konnten und man einfach auf den Boden plumpste.

    Ich hätte gerne geflucht. Doch ich ließ es sein. Man wusste ja nie, wie schalldicht diese Hütte war. Ich wollte lieber nichts riskieren, dass ich später noch bereuen könnte. Weitermachen, als wäre nichts gewesen und hoffen, dass die Tür verschlossen blieb.

    Ich beugte mich nach hinten und versuchte, einen Blick auf meine Hände und Füße werfen zu können. Wenigstens hatte ich jetzt die Bestätigung, dass ich wirklich die Gartenschere erwischt hatte.

    Das musste doch jetzt ein Kinderspiel sein. Sogar im Kindergarten konnte man bereits mit einer Schere umgehen. Das durfte doch jetzt nicht zu schwer sein, oder?

    Zugegebenermaßen hatte ich mich doch etwas darin getäuscht. So ganz leicht war es dann doch nicht. Aber nicht unmöglich.

    Zwei drei Schnippe später hatte ich bereits meine Füße befreit.

    Ich hätte mich ja gerne gefreut, doch noch war ich weit vom Ziel entfernt. Ich musste noch schauen, dass ich meine Hände befreite und dann noch aus dem Fenster kroch.

    Ich wusste ja nicht, wie lange Annabelles Mörder noch draußen telefonieren wollte, doch ich nahm an, dass ich nicht gerade die Zeit der Welt hatte. Langsam, da es nicht schneller ging, drehte ich die Gartenschere in die andere Richtung, sodass ich damit theoretisch das Paketband um meine Hände zerschneiden müssen könnte. Eigentlich müsste es doch sogar leichter gehen als mit einer normalen Schere. Das einzige Problem war, dass es viel schwerer war, eine Gartenschere falsch herum zu bedienen. Aber es musste doch funktionieren. In meinem Kopf lief es so unglaublich einfach und schnell ab.

    Ich fuchtelte weiter herum.

    Zwei Schnitte später hatte ich es tatsächlich geschafft. Leider hatte ein Schnitt meiner Hand selbst gegolten, doch damit musste ich jetzt einfach leben, so weh es gerade auch tat. Ich hatte eine Mission und so gut wie gar keine Zeit. Dass er bisher überhaupt noch gar nicht zurückgekommen war, grenzte bereits an ein Wunder. Immerhin hatte ich das Gefühl, dass er schon seit mehreren Minuten weg war und ich unendlich lange gebraucht hatte, um mich zu befreien.

    Ich ging hastig zu den verschiedenen anderen Werkzeugen, die in der Hütte herumlagen, so ganz verstreut und unordentlich. Ich musste etwas finden, dass ein Fenster zerschmettern konnte. Mir war klar, dass spätestens dann der Mörder mitbekommen musste, was ich hier drinnen so tat, doch wenn ich Glück hatte, würde es dann bereits zu spät sein. Für ihn natürlich, nicht für mich.

    Jetzt, da ich mich endlich wieder frei bewegen konnte, fiel es mir schon viel leichter, voranzukommen. Tatsächlich im wahrsten Sinne des Wortes.

    Was konnte ich gebrauchen, was konnte ich hiervon nehmen... Ich wusste leider nicht, wie dick das Fenster war. Je nachdem konnte eine Schaufel ausreichen, doch ich war mir nicht sicher.

    Schaufel, Besen... Verdammt, das brachte mir alles nichts.

    Die Axt.

    Ich hob sie auf. Die Axt könnte es sein. Sie war total schwer und sie konnte Holz spalten. Wieso also nicht auch Fensterscheiben? Egal wie, ich musste es jetzt ausprobieren. Ich hatte nicht die Zeit, mich noch länger umzuschauen.

    Ich lief zum Fenster hin. Das war es jetzt. Alles oder nichts.

    Tief Luft holen.

    Dann mal los.

    Ich holte aus.

    Dann schwang ich die Axt um mich herum, direkt auf das Fenster zu. Irgendwie geschah der Rest in Zeitlupe. Die Axt kam auf das Fenster zu, immer näher, bis sie das Fenster berührte. Es bildete sich ein Spinnennetzmuster auf dem Fenster. Dann zersprang es. Glas flog überall hin. Glasscherben regneten überall um mich herum herab.

    Ich schloss meine Augen, doch ich drehte noch von dem ganzen Schwung, den ich durch das Ausholen mit der Axt bekommen hatte, weiter. Also ließ ich die Axt los, ich versuchte mich zu halten, doch ich verlor mein Gleichgewicht und ehe ich es wusste, war ich auf dem harten Holzboden gelandet.

    Ich stöhnte auf.

    Nein, ich durfte keine Zeit verlieren. Vorsichtig öffnete ich meine Augen. Um mich herum lagen Glasscherben, auf mir ebenfalls, einfach überall. Na ja, wenigstens war ich erfolgreich gewesen.

    Hastig stand ich auf. Mir taten zwar sämtliche Körperteile weh, doch das musste ich jetzt einfach ignorieren. Ich lief zum Fenster und stieg vorsichtig auf das gestapelte Feuerholz.

    Mein Ziel war so nahe. Alles, was ich tun musste, war, aus dem Fenster zu klettern.

    Natürlich hieß das noch lange nichts. Natürlich konnte ich danach noch immer von dem Mann, der draußen weiterhin telefonierte, erwischt werden.

    Aber das musste nicht der Fall sein.

    Ich wollte mich an dem Fenster festhalten, als Stütze, doch die Überreste des Glases waren recht scharf. Genervt versuchte ich, wenigstens an der Holzwand noch etwas Halt zu finden.

    In dem Moment flog die Tür auf.

    Mein Herz machte einen Satz.

    Erschrocken drehte ich mich um und starrte auf die Person, die hereingekommen war. Insgeheim hatte ich wohl etwas Hoffnung gehabt, dass sich doch noch herausstellen würde, dass die Polizei eben gekommen war oder sonst jemand, der mir helfen konnte. Sogar der Anblick von Harry Smith hätte mich gerade überaus gefreut.

    Aber nein, natürlich kam es nicht dazu. Ich war natürlich nicht Dornröschen und wurde auf magische Weise von einem Prinzen gerettet. Nein, es war Annabelles Mörder, der gerade durch die Tür gestürmt war.

    Ich durfte jetzt erst recht keine Zeit verlieren.

    Panisch drehte ich mich wieder um und fasste auf die Glasscheibe. Es war mir gerade so ziemlich egal, wie weh es tat. Die Brandblasen waren bestimmt gerade alle geplatzt. Aber ich musste jetzt trotzdem versuchen, aus dem Fenster zu klettern.

    Ich zog mich hoch. Kalte Luft von draußen überkam mich. Ich war der festen Überzeugung, dass der Mörder hinter mir zu groß war, um durch das Fenster zu passen. Ja, er war nicht Thomas Graham mit dem Bierbauch, aber trotzdem. Nur wenn ich Glück hatte, war er vielleicht nicht so sportlich wie ich und hatte deswegen nicht mal die Kraft, aus dem Fenster zu klettern. Ich rutschte weiter nach vorne, hinaus in die Kälte. Ich hatte das Gefühl, viel zu langsam zu sein. Ich zog mich weiter vor, immer weiter, so schnell es ging.

    Dann kippte ich nach vorne und rutschte aus dem Fenster in den Schnee. Zum Glück gab es den Schnee. Ich wollte nicht wissen, wie viele Stellen meines Körpers sonst morgen blaue Flecken haben würden.

    Hastig stand ich auf. Jetzt musste ich wegrennen. Einfach irgendwohin, Hauptsache weg von hier und weg von dem Mörder.

    Natürlich konnte das nicht auf Dauer funktionieren. Aber vorerst war es die einzige Möglichkeit, die ich hatte. Vielleicht gab es hier irgendwo eine Telefonzelle oder ein anderes Haus, sodass ich noch Hilfe holen konnte. Leider war hier allerdings überall nur Wald zu sehen. Der Mörder hatte doch noch nachgedacht, als er sich für diesen Ort entschieden hatte.

    Ich lief los, direkt aus dieser Lichtung, in der die Hütte gewesen war, hinaus in den Wald. Es war noch dunkel – ich hatte keine Ahnung, wie viel Uhr es eigentlich war. Aber es konnte doch nicht allzu spät in der Nacht sein, oder? Ich war doch nicht so lange bewusstlos gewesen.

    Leider hatte ich nicht die Zeit, um meine Umgebung genau wahrzunehmen. Aber eigentlich war das egal, Hauptsache ich kam von hier weg. Mir war es gerade wirklich wichtiger, von hier zu flüchten, als ein guter Zeuge für die Polizei zu sein.

    Überall um mich herum waren Bäume. Hinten, vorne, an der Seite. Zumindest von dem, was ich sehen konnte. Ich hatte keine Ahnung, in welche Richtung ich laufen sollte. Also lief ich einfach geradeaus. Am Ende würde ich früher oder später sowieso irgendeine Stadt erreichen müssen. Oder nicht?

    Außerdem, so fiel mir gerade auf, konnte er mir nicht einmal mit einem Auto folgen. Dafür war der Wald einfach zu dicht. Ich hatte das zwar nicht geplant, aber das war auf jeden Fall ein guter Nebeneffekt der Bäume.

    Am liebsten hätte ich einen Blick nach hinten geworfen, einfach, um zu sehen, wie groß mein Vorsprung war. Außerdem war ich jetzt schon aus der Puste. Ich wollte stehen bleiben. Vielleicht war er mir ja gar nicht gefolgt. Dann müsste ich auch nicht mehr rennen. Dann konnte ich eine Pause einlegen...

    Ich durfte auf keinen Fall schwächeln.

    Ich hatte Seitenstechen. Richtig schlimm. Und mit dem Seitenstechen kamen auch alle anderen Teile meines Körpers, die wehtaten, zum Vorschein. Meine Hände, meine Knie, mein Kopf – eigentlich alles, wenn ich genau darüber nachdachte. Ich fühlte mich wie ein Wrack. Ein Wrack, das verdammt nochmal stehen bleiben wollte.

    Ich hatte doch mein Handy mitgenommen, als ich in der Nacht zum Treffpunkt gekommen war.

    Ich hätte die ganze Zeit die Polizei rufen können.

    Ich wollte mir auf die Stirn schlagen oder sonst irgendwo. Nur ging das beim Laufen schlecht. Ich musste meine Energie woanders einsetzen.

    Aber noch war es ja nicht zu spät.

    Ich griff in meine Jackentasche. Dort hatte ich doch mein Handy (eigentlich ja Joes, wenn man es genau nehmen wollte) hineingetan. Ich grub herum. Bis auf zwei oder drei Kaugummipapiere war es leer. Dann wohl die andere Jackentasche. Es gab ja zwei. Ein Lippenbalsam... Das war es auch schon. Kein Smartphone. Nichts. Nada.

    Na toll.

    Bestimmt hatte der Pseudo-Arzt es mir abgenommen. Ich würde sogar wetten.

    Wann hörte denn dieser Wald auf? Es schien mir hier ja wirklich, als wäre ich am anderen Ende der Welt gelandet. Ansonsten hätte ich doch schon längst Zivilisation gesichtet. Wenigstens ein einsames Haus hier musste es doch geben. Gab es ja auch. Das Haus des Mörders war das einsame Haus hier in der Gegend. Dass ich nicht lachte.

    Ich konnte nicht anders, ich musste stehen bleiben und Luft holen.

    Ich drehte mich um.

    Ich hatte Angst. Angst davor, was hinter mir sein könnte. Ob womöglich der Mörder hinter mir stand. Was, wenn er eine Waffe dabei hatte?

    Nichts. Niemand. Nur Bäume. Das konnte doch nicht sein. Vielleicht täuschte ich mich ja. Vielleicht versteckte er sich hinter einem Baum.

    Eigentlich durfte ich kein Risiko eingehen. Ich musste weiterrennen, abhauen, solange ich noch konnte. Aber mein Körper wehrte sich dagegen. Am liebsten hätte ich mich einfach auf den Boden geschmissen und mich erholt.

    Aber das durfte ich nicht, ich musste eigentlich weiterrennen. Eigentlich.

    Ich konnte nicht mehr.

    Plötzlich knallte es. Ich spürte einen Windzug neben mir.

    Ich fluchte.

    Dann drehte ich mich um und rannte weiter. Er hatte auf mich geschossen. Er hatte tatsächlich versucht, mich umzubringen. Er war noch immer hinter mir. Ich hatte ihn nicht abgehängt. Ich war noch lange nicht sicher.

    Ich fluchte weiter.

    Eigentlich war ich wirklich an der Grenze meiner Kraft angelangt. Ich konnte gerade nicht sonderlich schnell rennen. Ich konnte sogar gar nicht weiterrennen. Dennoch zwang ich mich, einen Fuß nach dem anderen nach vorne zu setzen, ob ich wollte oder nicht, ich durfte nicht aufhören. Solange ich mich bewegte, war es für den Mörder schwieriger, mich zu treffen.

    Plötzlich drückte mich jemand fest an sich.

    Panisch fing ich an, um mich zu schlagen und die Person von mir zu drücken. Da sie einen Kopf größer war als ich, konnte ich nicht sehen, wer es war, doch ich konnte es mir ja fast denken. Es war ja nicht wirklich schwer. Es gab immerhin nur zwei verschiedene Menschen in diesem Wald: der Mörder und ich.

    Die Person ignorierte einfach meine Versuche, mich zu befreien und drückte mich einfach noch fester. »Bin ich froh, dich zu sehen. Ich dachte schon, ich wäre zu spät gekommen« murmelte eine mir bekannte Stimme in meine Haare, eher er anfing, meinen Kopf abzuküssen.

    Joe.

    Es war Joe.

    Wie hatte er mich gefunden? Und was machte er hier? Ich hatte es doch gewusst. Er war in der ganzen Sache verwickelt, dieses blöde Schwein. Und jetzt hielt er mich gerade davon ab, wegzulaufen!

    »Lass mich los! Ich habe keine Zeit für deine blöden Spielchen!« Ich riss mich von Joes Umarmung los und versuchte, an ihm vorbeizulaufen.

    Leider ging das nicht so gut. Er hielt mich einfach am Arm fest. »Viv, hör mir zu! Ich will dir nur helfen, ehrlich. Ich weiß, dass ich viel Mist gebaut habe, aber jetzt will ich es wieder gut machen.« Genau. Das glaubte ich sofort. Diesem Idioten konnte ich doch kein bisschen trauen.

    »Lass mich verdammt nochmal los! Da ist ein Mörder hinter mir her und alles, was du tust, ist, mir im Weg zu stehen! Also lass mich endlich gehen!« Wütend versuchte ich, mich von Joes Griff loszureißen. Ich traute ihm nicht. Er war bestimmt ein Komplize vom Pseudo-Arzt. Sein Verhalten letztens hatte das nur zu gut bestätigt. Außerdem glaubte ich kaum, dass er nach seinem Auftritt in der Schule plötzlich wieder nett geworden war.

    »Was?« Joe sah mich entgeistert an. »Um die zwei Minuten weg von hier ist ein kleiner Pfad. Da hab ich geparkt. Sobald wir also mein Auto erreicht haben, sind wir praktisch sicher.« Was hieß hier wir? Ich würde ihm garantiert nicht in sein Auto folgen, so verlockend es auch klang.

    »Das ist mir egal! Hau doch alleine ab!« Ich begann einfach zu rennen, in der Hoffnung, dass Joe mich loslassen würde.

    Tat er nicht.

    Stattdessen überholte er mich und zog mich hinter ihn her. Leider konnte ich nicht anders, außer diesem Idioten und Kontrollfreak zu folgen. Dabei konnte er mich doch genauso gut auch alleine entkommen lassen! Das würde ich selber auch schaffen. Ich brauchte diesen Deppen nicht. Der ja nicht einmal einen Tag lang nett sein konnte und wahrscheinlich sogar selbst für den Tod seiner Schwester verantwortlich war. Er konnte vergessen, dass ich in seinen blöden Wagen steigen würde.

    Wie weit war der Mörder wohl von uns weg? Leider hatte ich überhaupt keine Ahnung. Er könnte zwanzig Meter hinter uns liegen, genauso aber auch nur zwei Meter. Dank Joe hatte ich viel zu viel Zeit mit Reden verschwendet. Wertvolle Zeit, in der ich eigentlich hätte laufen müssen.

    In mir brannten so viele Fragen, die ich Joe stellen wollte. Wie er mich gefunden hatte, was er in dem Wald damals bei der Übergabe getan hatte, wieso er versucht hatte, mich zu finden und noch so viel mehr. Nur wollte ich mich nicht mit so einem Deppen unterhalten.

    »Wir sind gleich da, es können nur noch ein paar Meter sein« keuchte Joe und zog mich weiter hinter sich her. Konnte ich ihm jetzt eigentlich zumindest bis wir entkommen waren, vertrauen? Ich wollte kein Risiko eingehen, dann wiederum war er wahrscheinlich meine einzige Chance zur Flucht.

    Etwas glänzte. Das musste Joes Wagen sein. Joe zog seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche und öffnete den Wagen.

    Dann erreichten wir den Waldpfad und Enttäuschung breitete sich in mir aus. Gleichzeitig eigentlich auch Erleichterung, doch die Enttäuschung überwiegte. Ich konnte meine Emotionen gerade einfach nicht sortieren.

    Ja, da stand Joes Wagen, das graue Auto, das vorhin aufgeblinkt war, als

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