Der Stein des Bösen: Märchenhafte Geschichte
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Der Stein des Bösen - Alexander Jordis-Lohausen
Einleitung
Ihr seid Kinder der Bildschirmrevolution, hatte der alte Klassenlehrer einmal gesagt, Ihr denkt nicht mehr nach, konzentriert Euch nur kurzfristig. Ihr habt Eure Phantasie verloren.
Und wessen Kind sind Sie? hatten sie empört gefragt.
Naja, hatte er ganz ernsthaft geantwortet, ich gehöre wohl zu einer der letzten bücherlesenden Generationen. Seit Gutenberg die Buchdruckerkunst erfand, herrschte das Zeitalter des unabänderlichen, gedruckten Wortes. Die Phantasie des Einzelnen konnte zwar noch zwischen den Zeilen blühen, aber der Text selbst war unantastbar vorgegeben.
Und vor Gutenberg? wollten sie, auf einmal interessiert, wissen.
Vor Gutenberg? Ich glaube, davor herrschte seit Jahrtausenden das Zeitalter der Sänger und Erzähler. Das Urwissen der Völker, die Sagen und Legenden, die Märchen und Epen wurden von Generation zu Generation mündlich weitergegeben. Die Menschen kannten und liebten sie, denn sie lebten mit ihnen. Und manchmal fürchteten sie sie auch. Doch es hing von der dichterischen Phantasie des Erzählers, vom Talent des Sängers ab, wie viel Reichtum an Schönheit, Stimmung, Witz und Weisheit zum Ausdruck kam. Denn nur die nackte Geschichte war überliefert, und es war der Kunst des Vortragenden überlassen, sie zum Leben zu erwecken. Und manchmal war er es auch, der eine neue Geschichte erfand, so wie er sie aus dem Geist des Volkes herauswachsen fühlte.
So hatte der alte Klassenlehrer gesprochen und Oktavian war sehr beeindruckt gewesen. Es war dieses Land der inspirierten Phantasie, das ihn magisch anzog. Keine Bücher, keine Jahreszahlen, keine Bildschirme. Ein Land ganz nahe dem der Träume. Vielleicht war auch er zum Märchenerzähler berufen. Aber von Märchen kann man nicht leben, Du mußt etwas Ordentliches lernen
hatte sein Vater gesagt.
Oktavian gähnte. Seit Stunden brütete er nun schon über seinen Hausaufgaben: Die Osmanen und das Abendland. Der Text war trocken. Leblose Tatsachen und sterile Jahreszahlen, nichts, was seine Phantasie anregte, nirgends jene Verzauberung, die er gekannt, als seine Großmutter ihm, als er noch kleiner war, Märchen erzählt hatte.
Doch morgen hatte er eine Geschichteprüfung, die war wichtig, wenn er im Herbst ins Gymnasium kommen wollte. Also auswendig lernen!
Seine Gedanken schweiften wieder ab. Fernsehen fand er manchmal spannend. Auch Videospiele waren lebendig. Aber er fühlte sich nicht als Kind der Bildschirmrevolution. Das war nicht die Wirklichkeit, die er suchte. Dort sah er ja nur das vorgegebene Leben anderer. Er suchte eine ganz andere, eine bunte, lebendige Welt, in der man noch an das Wunderbare glaubte, und an der er teilhaben konnte. Eine Welt, in der ihm kein Zwang angetan wurde, in der er sich frei entfalten und seine Phantasie ausleben konnte. Aber den Schlüssel zu dieser Welt hatte er noch nicht gefunden. Vielleicht gab es sie auch gar nicht.
Oktavian gähnte noch einmal. Er war müde. Frustriert und überdrüssig legte er den Kopf auf die Arme und schloss die Augen. Aber man ließ ihn ja nicht zur Ruhe kommen. Kaum schien ein wohltuender Schlaf ihn einzuhüllen, legte sich eine Hand sanft auf seine Schulter. Er dachte, es sei die Mutter und hob den Kopf. Doch aus einem runzeligen Gesicht blickten ihn kluge, freundliche Augen an.
Ich bin Amadeo Zarao, der Märchenerzähler, sagte die hohe Gestalt in langem wallendem Gewand.
Träume ich oder wache ich? fragte sich Oktavian.
Was ist der Unterschied? antwortete ihm der Märchenerzähler. Ist nicht das Leben ein Traum? Und sind nicht unsere Träume oft das eigentliche Leben? Wovon träumst denn Du?
Ich träume gar nicht! Seit Stunden quäle ich mich mit trockener Geschichte herum!
Vielleicht solltest Du davon träumen, warf der Märchenerzähler ein. Zeig mir mal Dein Buch.
Oktavian reichte es ihm und er begann darin zu blättern.
Daraus lässt sich doch eine schöne Geschichte machen, sagte der Märchenerzähler. Wenn Du willst, werde ich sie Dir auf meine Weise erzählen. Vielleicht leuchtet sie Dir dann ein. Oktavian nickte. Doch dann musst Du sie ganz in Dich eindringen lassen wie ein Traum. Manche nennen das auch, sich darauf konzentrieren. Vor deinem inneren Bildschirm lass Bilder entstehen. Schöpfe tief in Deiner Phantasie, sie ist viel reicher als Du glaubst. Und sie ist der Schlüssel zu der Welt, die Du suchst. Du wirst sehen, plötzlich bist Du dann mitten in der Handlung. Du lebst in ihr und mit ihr, auch wenn sie sich vor Hunderten von Jahren und Tausende von Meilen weit entfernt abspielt. Zeit und Raum lösen sich auf. Du bist im Reich der Phantasie.
Und als er das gesagt hatte, begann er langsam und eindringlich zu erzählen. Und was Oktavian hörte und was er sah, klang ganz anders als sein Geschichtsbuch, und doch handelte das, was Amadeo Zarao, der Märchenerzähler erzählte, auch von den osmanischen Eroberungen:
Das Abendland schwebte in großer Gefahr. Das Morgenland hatte Heerscharen ausgeschickt, die wie Heuschrecken über Länder und Städte herfielen und ihren Frieden brachen. Die Könige des Abendlands aber waren untereinander entzweit und versäumten einzeln, was sie gemeinsam vermocht hätten. So ging eine Festung nach der anderen verloren und die Not war groß.
Die Storchenbotschaft
An der Schwelle des Morgenlandes, dort, wo Meer und Land einander eng umschlungen halten, liegt, ganz oben am goldenen Horn, der uralte Friedhof von Eyüp. Verwitterte Grabsteine, Turban geschmückt, ragen kreuz und quer aus dem Boden, und in der Ferne ersteht vor den Augen des müßigen Wanderers wie ein Traumbild weit ausgestreckt die prächtige Osmanenstadt Istanbul mit ihren Kuppeln, Minaretten, Palästen und Festungsmauern.
Es mag nun schon einige hundert Jahre her sein, als dort einmal ein Storchenpaar spazieren ging: Hans, hieß der Storch und Gretl, die Störchin. Monatelang hatten sie in den heißen Sümpfen Afrikas geweilt, wo im Halbdunkel hoher Stauden Wasserpflanzen ihre zarten Kelche öffnen. Doch nun, da in ihrer Heimat der Schnee geschmolzen war und die Tage lichter wurden, flogen sie heimwärts über Wüsten und Meere. In Eyüp machten sie nur Rast, um ihre Flügel auszuschütteln und um sich in den nahen Sümpfen an Fröschen zu stärken, denn weit war noch der Flug, der sie über das bergige Land der Sieben Burgen und die weite Ebene Ungarns nach Hause führen sollte. Erst am Neusiedler See, wo die Ausläufer der hohen abendländischen Gebirge endgültig in die tiefe Ebene übergehen, erwartete sie ihr Nest auf dem Schornstein eines Weinbauernhauses.
In Gedanken daran ganz versunken, schliefen sie auf einem Bein stehend in der Sonne ein. Da erschien ihnen beiden ein heller Ifrit und sprach: "Hört zu, was ich Euch sage und erinnert Euch der Botschaft zur rechten Zeit:
In des Sultans kleinster Pracht
Weihrauch, Myrrhe reichlich spende!
Dann geht in heller Vollmondnacht
Des Djinnen Macht zu Ende."
Sagte es und verlor sich in der klaren Luft. Die Störche wußten nicht recht, ob sie geträumt oder gewacht hatten. Sie klapperten ganz erregt jeder dem anderen dieselbe Geschichte vor und wussten nichts daraus zu machen.
So kam es, dass sie gar nicht merkten, dass sich hinter den Grabsteinen drei bunt gekleidete Gestalten vorsichtig näher schlichen und über sie herfielen. Und ehe Hans und Gretl noch ihre Flügel entfalten konnten, waren sie in Netzen gefangen. Sie hackten und zwickten und stachen mit ihren spitzen Schnäbeln, doch vergebens. Ein Palastwächter des Sultans, der Osmin hieß, und dessen Gesellen banden sie an Flügeln und Beinen und brachten sie, auf Lohn hoffend, ins Serail.
Dort sperrten sie sie in den großen Käfig des Palmengartens. Dieser prachtvolle Garten erstreckte sich von einer zierlichen Säulenhalle bis zu den weiten Terrassen, die malerisch gegen das Meer hin abfielen. In seiner Mitte plätscherte leise ein Springbrunnen. Papageien und andere bunte Vögel flatterten um die Neuankömmlinge und beäugten sie neugierig.
Nicht sehr weit von hier war es auch, dass der Sultan unter einem goldenen Baldachin das Abendlicht über dem goldenen Horn zu genießen pflegte. Doch seit Monaten schon war er dieses Anblicks nicht mehr froh geworden. Trauer lag wie dicker Nebel über dem Palast. Denn Gülilah, die junge Lieblingstochter des Sultans, war von einer seltsamen Krankheit befallen und keiner der aus dem ganzen Reiche herbeigerufenen Ärzte wusste sie zu heilen. Fast ein Jahr lang lag sie nun schon in ihrem Gemach, litt unter bösen Träumen und all ihre Lebensfreude, die sonst wie heller Glanz aus ihren Augen strahlte, war erloschen. Der Sultan hatte schließlich bekannt geben lassen: wer sie zu heilen vermöchte, solle ihr Gemahl werden. Viele hatten es versucht, aber keinem war es bisher gelungen.
Sie ist sicher von einem Djin verzaubert,
klagte Saida, die alte Amme, die sie von Geburt an wie ihre eigene Tochter behütete. Wenn ich nur wüsste, wie man ihm beikommt,
aber auch sie, die voller Weisheit war, hatte kein Mittel gefunden.
So war es auch noch, als sich der Tag über dem Palmengarten neigte und der edle Sultan die gefangenen Störche besichtigen kam. Er freute sich über die schönen, großen Vögel.
Willkommen, Ihr langbeinigen Freunde! Möget Ihr Glücksbringer sein und die dunklen Wolken von meiner Stirn verscheuchen
rief er ihnen zu. Dann ließ er ein langes, reich verziertes Schloss vor den Käfig hängen, lobte Osmin ob seiner Stärke und Geschicklichkeit und ernannte ihm zum Oberstorchwachtmeister. Dieser hatte sich zwar ein paar Geldstücke erwartet, aber soviel Ehre ließ ihn rasch die Enttäuschung vergessen, und er blies sich auf vor Stolz und Wichtigkeit.
Als der Märchenerzähler an diesem Punkt seiner Erzählung angekommen war, hielt er inne und wandte sich an Oktavian:
Ich habe gespürt, Oktavian, wie stark Du meine Geschichte mitgelebt hast und ich freue mich darüber. Sieh’ Dir jetzt einmal genau die Gefolgschaft des Sultans an. Fällt Dir da jemand auf?
Oktavian, der wie in einem Traum zugehört und in der Geschichte