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Die Unmutigen, die Mutigen: Feldforschung in der Mitte Deutschlands
Die Unmutigen, die Mutigen: Feldforschung in der Mitte Deutschlands
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Die Unmutigen, die Mutigen: Feldforschung in der Mitte Deutschlands

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About this ebook

»Danke, dass Sie sich für unser Dorf interessieren!
»Ethnografie will mutig und lustvoll die vielen Wirklichkeiten unserer Welt erkunden. Ethnografie ist Poesie.«

Seit 20 Jahren erforscht die Ethnologin Juliane Stückrad Gemeinschaften in der Provinz. Sie begleitet Menschen, die oft von Wut und Unmut beherrscht werden. Und die dennoch nie den Mut verlieren. Darüber hat sie ein bahnbrechendes Buch geschrieben.

Auf einer Reise durch Peru wird der jungen Ethnologin Juliane Stückrad plötzlich klar, dass sie nicht die Rituale indigener Gesellschaften erforschen will. Ihr wahres Interesse gilt ihrer ostdeutschen Heimat, dem Leben am Rand und nicht zuletzt der eigenen Herkunft. Als teilnehmende Beobachterin erforscht sie von nun an die Lebens- und Arbeitswelt und den Wandel in vielen strapazierten Regionen. Sie geht auf Demonstrationen, sitzt mit den Dorfbewohnern am Tresen, besucht Familienfeiern und Gemeindefeste. Sie studiert Grabsteine, Autoaufkleber und Plakate. Ihr Buch präsentiert ungehörte und überhörte Geschichten, die gleichermaßen vom Mut wie vom Unmut künden. Geschichten, die Zugang zur Vielfalt ostdeutscher Lebenswelten bieten und Heimat als Veränderung, Erinnerung und Selbstbehauptung beschreiben.
LanguageDeutsch
PublisherKanon Verlag
Release dateSep 21, 2022
ISBN9783985680467
Die Unmutigen, die Mutigen: Feldforschung in der Mitte Deutschlands

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    Die Unmutigen, die Mutigen - Juliane Stückrad

    Prolog:

    Ankommen

    Ich durchwühle die vollgestopften Schränke in meinem Arbeitszimmer. Vor der Tür zum Balkon stapeln sich Ordner mit Steuer- und Versicherungsunterlagen, Mappen mit Urkunden und Zeugnissen, Manuskripte, Tagungsmitschriften, Materialsammlungen zu vergangenen Aufträgen, alte Ausgaben wissenschaftlicher Zeitschriften, Körbe mit Briefen und Kartons mit Erinnerungen an die Babyjahre meiner beiden Kinder. Genervt blicke ich erst auf das Chaos zu meinen Füßen, dann schaue ich zur Beruhigung durch die bodentiefe Scheibe der Balkontür nach draußen. Wie ich die Aussicht aus meinem Elternhaus liebe! Unterhalb des Gartens verläuft ein Tal mit Villenbebauung vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Gegenüber geht ein kiefernbewachsener Hang nach Südosten in dichten Wald über. Schaue ich nach Norden, breitet sich vor mir in einer weiten Senke meine Heimatstadt Eisenach aus.

    Ich gebe mir einen Ruck und wende mich wieder meinem unordentlichen Schrank zu, denn ich bin auf der Suche nach dem Tagebuch, das ich im Winter 2001/02 während einer Reise durch Peru und Bolivien geschrieben habe. Ich finde viele Notizbücher voll mit Erinnerungen an andere Reisen, nur nicht dieses. Dann soll es so sein. Ich muss bei meinem Versuch, mich daran zu erinnern, wie mein Weg zur ethnografischen Erkundung Ostdeutschlands seinen Anfang nahm, offenbar darauf verzichten. Wenigstens finde ich das Fotoalbum wieder. Die Bilder sind ordentlich eingeklebt, nur die Bildunterschriften habe ich nicht mehr hinzugefügt. Ich betrachte die vielen Sehenswürdigkeiten und Landschaften, zu denen ich damals mit meiner Studienfreundin Katharina reiste.

    Als wir die gemeinsame Reise planten, lag unser Studium der Fächer Ethnologie und Kunstgeschichte an der Universität Leipzig schon hinter uns. Aber eine richtige Vorstellung, was wir mit dem Studienabschluss anfangen sollten, hatten wir beide nicht. Katharina war in ihren alten Beruf in einem Verlag zurückgekehrt, und ich hatte ein knappes Jahr auf archäologischen Ausgrabungen im Süden Brandenburgs Geld verdient, um mir diese Reise leisten zu können. Dahinter stand die aus heutiger Sicht höchst naive Vorstellung, dabei irgendetwas wissenschaftlich Bemerkenswertes zu erleben, dazu dann eine ethnologische Feldforschung durchzuführen und mit dem Material ein Stipendium beantragen zu können. Es wurde eine wirklich eindrückliche Reise mit Weihnachtsfest in Cusco, Wanderung nach Machu Picchu, Flug über die Linien von Nazca, Silvester am Titicacasee und vielen anderen Erlebnissen, doch zum Forschen, so wie wir es uns vorgestellt hatten, kamen wir dabei natürlich nicht. Wir fanden aus der Rolle der Touristinnen nicht heraus. Tiefere Einblicke in die südamerikanischen Kulturen erhielten wir kaum, und im Laufe der Reise verebbten unsere ethnologischen Ambitionen mehr und mehr.

    Ich durchblättere das Fotoalbum und finde ganz am Ende das Bild, das ich suchte. Es hält den Moment fest, so meine ich mich zu erinnern, in dem ich mich von dem Druck befreite, in Südamerika meine berufliche Zukunft begründen zu müssen. Das Foto zeigt mich vom Fußende aus fotografiert, flach auf dem Rücken in einem Bett liegend, dessen Kopfende mit neobarockem Schnitzwerk geschmückt ist. Glatt auf mir liegt eine gewebte Überdecke mit Rosenmuster. Ich blicke etwas belustigt in die Kamera. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, waren wir zu diesem Zeitpunkt der Reise allerdings nicht mehr so besonders guter Dinge. Peru wurde immer anstrengender für uns. In Ica war mein teurer Fotoapparat gestohlen worden und wenige Tage später an irgendeinem Busbahnhof Katharinas Handgepäck. Hinzu kamen ständige Magen-Darm-Infekte, die uns zu schaffen machten. Auch an dem Tag, als Katharina dieses Foto von mir machte, ging es mir nicht gut, und ich war froh, dass ich im Bett liegen konnte.

    Die touristische Hauptroute im Süden des Landes hatten wir hinter uns gelassen und waren in den Norden gereist. Nun befanden wir uns in Huaraz, hatten dieses einfache Zimmer gefunden und trauten uns kaum auf die Straße. Es war Karneval, der hier durch den Brauch geprägt war, dass sich die Jugendlichen gegenseitig mit Wasserbomben bewarfen, und das mit der größtmöglichen Härte. Ob sich nicht ab und zu auch Urin in den Ballons befand, war nicht ganz klar. Wir zwei blonden, fremden Frauen waren willkommene Opfer.

    Das Reisen erwies sich hier im Norden zudem als schwieriger als im Süden Perus. Die Regenzeit setzte ein, machte Straßen unsicher, und wir kannten mittlerweile den fragwürdigen Zustand vieler Busse. Unser schlecht vorbereitetes Vorhaben, an den für uns ethnografisch interessanten Anden-Osthang zu gelangen, rückte in immer weitere Ferne.

    Ich lag also lang ausgestreckt in diesem Bett und dachte darüber nach, wie es weitergehen sollte. Wurde die Reise nicht doch langsam zu gefährlich? Mit Katharina redete ich viel über zu Hause. Sie lebte in Dresden, ihrer Heimatstadt. Ich wusste, dass ich nach der Rückkehr aus Südamerika mit meinem Freund eine Wohnung in Südbrandenburg suchen und dann schon bald heiraten wollte. Wir waren erst wenige Wochen zusammen, als ich meine Reise antrat. Er kam aus Kiel, hatte Kunstgeschichte studiert, arbeitete als Bauhistoriker und war gut sechzehn Jahre älter als ich. Die Sehnsucht nach ihm wurde immer größer, nachdem ich ihn nun schon bald vier Monate nicht gesehen hatte. Und während ich Katharina von meinem Verliebtsein und meiner Arbeit in Brandenburg erzählte, von den Begegnungen mit den Einwohnern dort und wie mich die Strukturschwäche dieser ländlichen Gegend befremdet hatte, formte sich der Gedanke, dass nicht Südamerika das geeignete Forschungsfeld für mich bereithielt, sondern Südbrandenburg. Wir erkundeten noch die beeindruckende Landschaft in der Umgebung von Huaraz und kehrten, einige Wochen früher als geplant, nach Deutschland zurück.

    In der Rückschau stellt sich mir die Frage, wann ich mich zum ersten Mal mit dem Forschungsfeld im Süden Brandenburgs auseinandergesetzt habe. Wann begann meine ethnographic arrival story eigentlich? Diese arrival stories stehen am Anfang vieler ethnologischer Monografien. Die Forscher beschreiben ihre mühevollen Anreisen, die ersten »exotischen« Eindrücke, vielleicht auch Missgeschicke oder Unsicherheiten. Damit vermitteln sie der Leserin, dass sie wirklich vor Ort waren und alles, was sie schreiben, selbst erlebt und beobachtet haben. Wenn ich es mir recht überlege, kann ich drei arrival stories erzählen. Dabei ist jene, die im Bett in Huaraz begann, eigentlich die zweite. Die Fremde, die ich ethnologisch erforschen wollte, öffnete mir die Augen für das vermeintlich Eigene, dessen Erkundung mir auf einmal so viel reizvoller erschien. In Gedanken traf ich schon in meinem Forschungsfeld in Südbrandenburg ein, als mein Körper noch in Südamerika weilte.

    Die erste arrival story, die ich damals noch nicht als solche verstanden hatte, erlebte ich Anfang November des Jahres 2000. Ich sehe mich im Auto eines Freundes sitzen, der mir den Job auf der archäologischen Ausgrabung in Bad Liebenwerda vermittelt hatte. Wir fuhren zusammen von Leipzig in die brandenburgische Kleinstadt Uebigau. Für meinen Geschmack war er auf den Alleen viel zu schnell unterwegs, und ich fühlte mich etwas unbehaglich. Hinter Torgau hatten wir die Elbe überquert, und obwohl es schon dunkel war, wusste ich, dass wir durch eine flache Agrarlandschaft fuhren. Irgendwann durchfuhren wir einen sehr dunklen Kiefernwald. Das Scheinwerferlicht ließ die Stämme der Nadelbäume, die in Reih und Glied eng gepflanzt und so auch gewachsen waren, kurz hervortreten. Hinter uns blieb tiefe Dunkelheit zurück. Diese erstaunliche Finsternis vermittelte mir den Eindruck, dass ich zwar nur eine Stunde vom mir vertrauten Leipzig entfernt, aber irgendwie ganz weit weg war. Ich erinnere mich an ein Gefühl der Unsicherheit, das diese Fahrt begleitete. Es hing mit dem entlaufenen Mörder Frank Schmökel zusammen, nach dem gerade groß gefahndet wurde. Was, wenn er Zuflucht in genau dieser abgelegenen Gegend, in der ich mich überhaupt nicht auskannte, genommen hatte?

    Die Nacht verbrachte ich schlaflos in einem kalten Zimmer in der Jugendherberge von Uebigau. Hatten die Montagearbeiter, die abends noch vor dem Haus geraucht hatten, auch richtig abgeschlossen? Ich zog mir meinen dicken Arbeitspullover über und lauschte auf die Geräusche im Flur und auf das Gluckern des Heizkörpers, der einfach nicht richtig warm werden wollte.

    Am nächsten Tag stand ich im Morgengrauen und bei Minusgraden, in meinem alten orangen Anorak und mit einer Bommelmütze vor der Jugendherberge. Ich sollte ab 7 Uhr auf den Grabungsbus warten, mit dem irgendein Bernd mich abholen und nach Bad Liebenwerda mitnehmen würde. Ich glaube, ich wartete fast bis halb 8 und wurde nervös, weil ich nicht wusste, ob ich bei der Absprache mit der Chefin der Grabungsfirma alles richtig verstanden hatte. Die Kälte war mir schon in die Knochen gekrochen, als der Kleinbus vorfuhr. Ich stieg vorn ein. Der Fahrer stellte sich als Bernd vor, und damit war das Gespräch auch schon wieder vorbei. Er schien kein Interesse an einem näheren Kennenlernen zu haben, stattdessen dudelte Jazz aus dem Autoradio. Jazz ist wirklich nicht meine Musik, er macht mich irgendwie wütend. Schlecht geschlafen, Kälte, Jazz – ich war nicht besonders glücklich.

    War es schon bei dieser ersten Fahrt, dass ein Sonnenaufgang mich etwas über die widrigen Umstände hinwegtröstete? Es könnte so gewesen sein. Die Sonnenauf- und -untergänge im Süden Brandenburgs beeindruckten mich zutiefst. In dieser Intensität kannte ich sie aus Eisenach und Leipzig nicht. Der Himmel nahm alle Rot- und Orangetöne an und verlieh der unspektakulären Landschaft, in der weite Agrarflächen von Kieferpflanzungen und begradigten Wasserläufen durchbrochen wurden, eine dramatische Stimmung. Nach dem Sonnenuntergang wurde es dann wieder sehr schnell sehr finster. Diese Dunkelheit, die es in den lichtverschmutzten Ballungsräumen Deutschlands so nicht mehr gibt, lernte ich erst später zu schätzen.

    In der nächsten Woche hatte ich keine Mitfahrgelegenheit und nahm am Abend den Zug von Leipzig über Falkenberg/Elster nach Uebigau. Ich wusste, dass ich kurz hinter Falkenberg aussteigen musste. Im Zug gab es keine Ansagen, mittlerweile saß ich allein im Wagen, und der Bahnsteig des nächsten Halts hatte sich in spätherbstliches Dämmerlicht gehüllt. War das schon Uebigau? Ich öffnete die Tür und versuchte, die Buchstaben auf der weit entfernt stehenden Bahnhofstafel zu entziffern. Vergeblich. Ich stieg aus, um es besser erkennen zu können, die Türen schlossen sich hinter mir und der Zug fuhr an. Panisch lief ich in Richtung des Schildes und atmete tief durch. Darauf stand der richtige Ortsname. Aber nein, eigentlich befand ich mich nicht in der kleinen Stadt, sondern am Bahnhof, außerhalb. Nun erinnerte ich mich auch, dass mir einer der Grabungshelfer geraten hatte, eine Taschenlampe mitzunehmen. Hätte ich bloß diesen Rat befolgt, denn nun musste ich an einer unbeleuchteten Straße entlanglaufen, vorbei an Gartengrundstücken und Wirtschaftsgebäuden. Einen Gehweg gab es nicht, und so wich ich auf den Grünstreifen aus, wenn Autos an mir vorbeirasten. Als ich den ersten Lichtkegel einer Straßenlaterne erblickte, lief ich erleichtert auf ihn zu. Wenigstens musste ich mich nicht mehr vor Frank Schmökel fürchten. Er saß mittlerweile hinter Gittern.

    Mein erstes Ankommen »im Feld« war von Unwohlsein geprägt, das seine Ursachen in meiner Orientierungslosigkeit und Ängstlichkeit hatte. Ich befürchtete, dass die Entscheidung, hier in dieser trostlosen Gegend meine erste Arbeit nach dem Studium anzunehmen, in eine berufliche Sackgasse führte. Vielleicht hatte meine Unsicherheit in der übertriebenen Angst vor dem entlaufenen Mörder ihren Ausdruck gefunden. »Die Angst des Forschers vor dem Feld« heißt ein vielzitierter Aufsatz des Soziologen und Volkskundlers Rolf Lindner. Er beschreibt darin den psychischen Stress, den ethnologische Feldforschung hervorruft, und weist darauf hin, dass gerade der Erstkontakt mit dem Feld reich an Daten ist, weil die Reaktionen auf die Feldforscherin soziale Gegebenheiten offenlegen, unter denen die Forschung stattfindet.¹ Nun verhielt es sich bei meinem Erstkontakt anders: Ich wusste noch nicht, dass ich mich im Forschungsfeld befand, und für die Südbrandenburger war ich keine Ethnologin, sondern im besten Fall eine Archäologin, die in der Erde forschte und nicht in ihren Gemeinschaften. Ich konnte daher keine Angst vor dem Feld entwickeln. Stattdessen hatte ich schlichtweg Angst, am falschen Ort zu sein. Und gerade diese Angst schärfte meine Sinne und ließ mich meine Umgebung aufmerksamer betrachten. Sie war Ausdruck der Fremdheit, die ich im Süden Brandenburgs nicht erwartet hatte. Dass diese Fremdheitserfahrung meinen ethnologischen Ehrgeiz herausforderte, ist eigentlich gar nicht so verwunderlich.

    Mein Vertrag bei der Grabungsfirma wurde verlängert, der Frühling hielt Einzug, und ich übernahm eigene, kleine Grabungen. Mit dem Auto fuhr ich über das Land. Auf diese Weise erschloss sich mir der Süden Brandenburgs mehr und mehr, ohne dass ich seinen ethnografischen Wert schon erkannt hatte. Ich lernte, mich auf den Landstraßen und in den unterschiedlichen Kleinstädten der Region zu orientieren, sprach mit Bewohnern der Orte, in denen ich archäologische Untersuchungen durchführte, begegnete Bauarbeitern und erfuhr immer mehr vom Alltag meiner ortsansässigen Kollegen aus der Grabungsfirma.

    Nachdem ich aus Südamerika zurückgekehrt war, begann meine dritte und eigentliche ethnographic arrival story. Ich wusste nun, dass ich eine Doktorarbeit über Ostdeutschland schreiben wollte, nur die thematische Eingrenzung blieb vage – »Lebenswege im Wandel« oder »Kulturen der Arbeitslosen«? Ich rief am Institut für Ethnologie der Universität Leipzig an, wo ich im Jahr 2000 mein Studium abgeschlossen hatte, und bat um eine Beratung bei meinem ehemaligen Professor. Einige Tage später saß ich in seinem gediegen eingerichteten, etwas dämmrigen Büro mit hohen Bücherregalen und leicht verschlissenen Polstersesseln. Der Professor hörte mir geduldig zu, als ich ihm von meinen Eindrücken aus Brandenburg erzählte. Ich hatte die Hoffnung, dass er mir bei meiner Suche nach einem Weg zurück in die Wissenschaft helfen könnte. Denn obwohl ich durch die Grabungsarbeit meinen Lebensunterhalt bestreiten konnte, war mir klar, dass es sich nur um eine vorübergehende Tätigkeit handeln könne. Auf Dauer würde mich das Forschen nach menschlichen Spuren im Boden nicht begeistern. Ich brauchte die Begegnungen mit lebenden Menschen. Zum Ende unseres Gesprächs schlug mir der Professor vor, mich mit dem Schimpfen der Menschen in Ostdeutschland zu befassen. Hier sähe er einigen Forschungsbedarf. Erst Jahre später, als ich den Roman »Die Hoffnungsvollen« von Anna Sperk las, wurde mir klar, dass mir der Professor einen Themenvorschlag gemacht hatte, der viel mit ihm selbst zu tun hatte. Als Westdeutscher hatte er im Jahr 1994 den Lehrstuhl für Ethnologie übernommen. Anna Sperk beschreibt detailliert die Aufbruchsstimmung, die Verwerfungen und Konflikte jener Transformationsjahre an der Universität Leipzig, die auch die Forschung und Lehre am Institut für Ethnologie prägten.²

    Nach unserem Gespräch erhielt ich eine E-Mail von meinem Professor, in der er mir riet, mich mit meinem Dissertationsvorhaben an den Lehrstuhl für Volkskunde/Empirische Kulturwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena zu wenden, denn in der Volkskunde sei ich besser aufgehoben als am Institut für Ethnologie. Er empfahl mir wärmstens, Kontakt mit der dortigen Professorin aufzunehmen, die ihre Studenten und Doktorandinnen mit großem Engagement betreue.

    Ich weiß noch, dass ich von seiner E-Mail enttäuscht war. Irgendwie fühlte ich mich abgewimmelt. Mit der Volkskunde hatte ich mich bis dahin kaum befasst, und zur Universität in Jena hatte ich überhaupt keinen Bezug. Die Stadt war zudem weiter entfernt von meinem neuen Lebensumfeld im Süden Brandenburgs.

    Nach meiner Rückkehr aus Südamerika hatte ich schweren Herzens mein Zimmer in Leipzig aufgegeben und war mit meinem Freund in ein winziges Dorf im Elbe-Elster-Kreis gezogen. Es kostete mich einige Überwindung, einer mir unbekannten Professorin eine E-Mail zu schreiben, um ihr mein Anliegen zu schildern und sie um einen Termin zu bitten. Prof. Christel Köhle-Hezinger schrieb zurück und schlug ein Telefonat vor. Verunsichert wählte ich zum vereinbarten Zeitpunkt ihre Telefonnummer. Sie schwäbelte, klang aufmunternd, teilte mir aber mit, dass sie schon sehr viele Doktorandinnen betreue und eigentlich keine »Externen« mehr annehmen könne. Dennoch, so meinte sie, könne ich ja mal zu einem persönlichen Gespräch vorbeikommen. Mit diesem unverbindlichen Angebot begann für mich ein neuer wissenschaftlicher Weg, denn nach dem Gespräch in ihrem Büro in Jena wurde ich ab 2003 eine ihrer zahlreichen Doktorandinnen. Sie ermutigte mich in den folgenden Jahren beständig, an meine Forschung zu glauben. Ihr habe ich es zu verdanken, dass ich mein Dissertationsvorhaben im Jahr 2010 abschließen konnte.

    Neben meinen Recherchen für die Dissertation besuchte ich ihre Seminare und wuchs so in das Fach Volkskunde hinein. Die Volkskunde hat an deutschen Universitäten viele Namen – Europäische Ethnologie, Empirische Kulturwissenschaft, Kulturanthropologie oder Vergleichende Kulturwissenschaft – und befasst sich vor allem mit europäischen Kulturen, beleuchtet deren historische Dimensionen und liefert Zugänge zum Verstehen unserer Alltagswelten. Während sich die Ethnologie vor allem mit den Weltanschauungen und Lebenswelten außereuropäischer Kulturen befasst. Die gewinnbringende Verbindung zwischen der Ethnologie und der Volkskunde fand ich in den Methoden der Feldforschung. Das Beobachten und Beschreiben anderer Kulturen ist ein hochgradig komplexer Vorgang, den man als Ethnografieren bezeichnet. Der Begriff Ethnografie beschreibt die Methodik, den Forschungsprozess und das Produkt, also den geschriebenen Text, gleichermaßen. Dabei ist es klar, dass wir das Feld nicht einfach beschreiben können, denn jede Beschreibung ist schon Deutung, ist Auswahl an Themen und Worten. Daher sagen Ethnografien nie nur etwas über diejenigen, die da erforscht wurden, sondern immer auch über die Forschenden aus. Die Beschäftigung mit dem Anderen ist ebenso eine Beschäftigung mit sich selbst. So hatte ich es theoretisch im Studium gelernt, doch begriff ich es erst wirklich durch die Praxis.

    Ethnografie wurde für mich im Laufe der Jahre weit mehr als eine wissenschaftliche Methode der Datenerhebung und des Schreibens. Ethnografie wurde zur Überlebensstrategie in unangenehmen Situationen: ethnografisches Schreiben als Therapie. Der ethnografische Blick auf die Welt kann zu einer Lebenseinstellung werden. Es ist die Lust am Schauen, die Neugierde, die Freude am Beschreiben, ein Verstehenwollen von Zusammenhängen hinter den Fassaden des Alltags. Wenn die Welt zu nah heranrückt und Momente der Unübersichtlichkeit verunsichern, hilft Ethnografie, Distanz aufzubauen und Überblick zu erhalten. Ethnografie kann auch Nähe herstellen und erleichtert den Zugang zu den Lebenswelten der Anderen. In diesem Wechselspiel aus Nähe und Distanz erscheint auch das Eigene immer wieder neu und fremd.

    Mit dem Umzug nach Südbrandenburg baute ich mir mit meinem Freund ein gemeinsames Zuhause auf. Wir heirateten im Sommer und richteten unseren Alltag in dem kleinen Dorf ein. Begleitend dazu wollte ich Feldforschung in dieser ländlichen, brandenburgischen Region betreiben. Was ich vorhatte, bezeichnet man als ethnography at home, die die Forscherin vor besondere Herausforderungen stellt, denn sie verlangt nach bewussten Entscheidungen: Wann ist meine Umgebung Alltagswelt, und wann erkläre ich sie zum Forschungsfeld? Mit meiner Doktormutter hatte ich das Thema der Dissertation konkretisiert. Ich wollte über die Kultur des Unmuts im Süden Brandenburgs schreiben. Dieser Unmut äußert sich häufig im Schimpfen. Da in der Regel spontan geschimpft wird, bin ich oft aus Alltagshandlungen gerissen worden und musste geistesgegenwärtig in die Rolle der Feldforscherin schlüpfen.

    Aus einer solchen Begebenheit ging auch der Titel meiner Dissertation hervor: Im Sommer war ich sehr früh mit Roland, einem Grabungshelfer, auf dem Weg zu einer Grabung in einem kleinen brandenburgischen Dorf. Roland hatte ich gleich zu Beginn meiner Tätigkeit bei der Grabungsfirma kennengelernt. Wir waren beide als Grabungshelfer eingestellt worden, verstanden uns gut und arbeiteten gern zusammen. Roland war Mitte vierzig und lebte mit seiner Frau, zwei Söhnen und seinem betagten Vater in einem nur wenige Höfe zählenden Dorf, das nicht weit von dem Ort gelegen war, in dem wir unsere Bleibe gefunden hatten. Dank Rolands Freude am Erzählen erfuhr ich im Laufe der Zeit immer mehr Geschichten über seine Nachbarn, über Freunde und ehemalige Kollegen und wurde auf unterhaltsame Weise mit der Gegend, in die es mich verschlagen hatte, und ihren Bewohnern vertrauter.

    Da es an diesem Sommertag sehr warm werden sollte, begannen wir schon früh mit der Arbeit. Die Sonne ging gerade auf und tauchte die Landschaft in ein goldgelbes Licht. Doch Roland ließ sich von diesem fantastischen Naturspektakel nicht beeindrucken, stattdessen beklagte er sich in einem fort über die politischen und gesellschaftlichen Zustände, die er für die prekären Lebenssituationen, die sich in seinem Umfeld häuften, verantwortlich machte. »Die schlechte Lage in Deutschland, das kann doch nicht sein. Die müssen doch richtig viel Steuern einnehmen. Wo gehen die denn hin? Danach fragt aber keiner.« Es war nicht seine erste Unmutsäußerung dieser Art. Seit der Wiedervereinigung war sein Leben durch wechselnde Phasen der Arbeitslosigkeit, Umschulungen und schlecht bezahlte Jobs geprägt.

    Ich schätzte ihn als intelligenten Gesprächspartner, der mich mit kuriosen Geschichten und seinem Sarkasmus oft zum Lachen brachte. Zu jeder Gelegenheit kannte er passende Sprüche und Anekdoten. Als einmal ein Bagger beim Schachten eines Fundamentgrabens die Mauer des Nachbarhauses eindrückte, schaute er durch das entstandene Loch in den Keller und rief: »Hallo, hier ist die Kellerinspektion.« Während wir uns an einem Imbisswagen etwas zur Mittagspause kauften, schilderte er, wie sich der Einkaufsbus, der immer in seinem Dorf hielt, zur Seite neigte, wenn die dicke Nachbarin einstieg. Oder er erzählte von seiner Ausbildung bei der Deutschen Reichsbahn, die damit begann, dass er in Dienstuniform, mit langen Haaren unter der Eisenbahnermütze und schwerer Tasche in der Hand zusammen mit anderen Lehrlingen durch Delitzsch ins GST-Lager³ marschieren musste.

    Doch an diesem goldenen Sommermorgen hatte er keine Lust auf Schwänke und Schnorren, er machte seinem Unmut Luft. Was »in diesem Staat alles so falsch läuft«, wollte ich jedoch zu solch früher Stunde nicht erörtern. Es nervte mich, und ich wies ihn darauf hin, dass er die ganze Zeit schimpfe. Er erwiderte knapp: »Ich schimpfe nicht, ich sage nur die Wahrheit.« Seine Antwort löste in mir Scham aus, denn ich hatte das Gefühl, ihn mit meiner Kritik verletzt zu haben. Meine Bewertung seiner Ausführungen als Schimpfen stellte den Wahrheitsgehalt seiner Erfahrungen und damit auch sein Leiden an der Welt in Frage. Im folgenden Schweigen spürte ich die Verstimmung, die zwischen uns entstanden war. Mir wurde bewusst, wie sehr sich seine Wirklichkeit von meiner unterschied. Durch diese Störung in unserer Kommunikation wechselte ich von der Alltags- in eine Feldforschungssituation.

    Dieses Erlebnis öffnete mir die Augen für mein Forschungsziel: Ich wollte den Wirklichkeiten der schimpfenden Menschen meiner Wahlheimat auf die Spur kommen.

    ¹Lindner, Rolf: Die Angst des Forschers vor dem Feld. In: Zeitschrift für Volkskunde (ZfV) 1981, 1, S. 51–66, hier S. 61.

    ²Sperk, Anna: Die Hoffnungsvollen. Halle 2017.

    ³Gesellschaft für Sport und Technik: Organisation der DDR , die der vormilitärischen Ausbildung von Kindern und Jugendlichen diente.

    Teil I:

    Die Unmutigen

    »Genau, platt, alles platt gemacht und abgesahnt.

    […] Man könnte sich maßlos uffregen über den

    Scheißstaat hier. […]

    ’ne völlig neue Republik hätte entstehen müssen,

    völligen Neuanfang machen müssen, und nicht

    anders. […]

    Das ganze gescheiterte System vom Westen

    ham se hier übergestülpt.«

    Kleiner Mann

    Nach meiner Rückkehr aus Südamerika hatte ich mich selbstständig gemacht, um neben Ausgrabungen auch andere Aufträge, etwa für die Konzipierung von Ausstellungen oder Buchprojekte, zu erhalten. Zum einen entsprach das meinen Neigungen, zum anderen wollte ich den sich langsam abzeichnenden Rückgang von Aufträgen in der Archäologie kompensieren. Doch vorerst blieben archäologische Ausgrabungen meine Haupteinnahmequelle. Auf einer dieser Grabungen sammelte ich dann auch die ersten Erfahrungen mit der Datenerhebung zur Ethnografie des Unmuts. Ich hatte ein neues Aufnahmegerät dabei, um auszuprobieren, wie die Kollegen auf mein Forschungsinteresse reagieren würden. Geplant war nur ein Probeinterview, um die Technik zu testen. Doch die Aufnahme sicherte sehr wertvolle Daten. Das hatte ich einmal mehr Roland zu verdanken. Es war Mittagspause, ich schaltete mein Aufnahmegerät ein und fragte, eher zum Scherz, als dass ich wirklich Ergebnisse erwartete: »Roland, warum schimpfst du?« Er antwortete: »Schimpfen macht Spaß.«

    Wie ich durch die spätere Lektüre zahlreicher Arbeiten zu verbalen Aggressionen lernte, verwies mein lebenskluger Kollege mit dieser kurzen Bemerkung auf einen nicht zu unterschätzenden Aspekt von Unmutsäußerungen, denn das Wort schimpfen leitet sich vom mittelhochdeutschen schimpf ab, das Scherz, fröhliche Munterkeit und Kurzweil bedeutete. Ritterlicher Schimpf waren Kampfspiele. Schimpf galt als das Gegenteil von Ernst. Doch wie schnell die Stimmung kippt, wenn es mit den Scherzen zu weit getrieben wird, zeigt sich daran, dass durchaus auch ernsthafte Kämpfe als Schimpf bezeichnet wurden. Schimpf erhielt im Laufe der Jahrhunderte über die Verwendung für Hohn und Spott zunehmend eine ehrverletzende Bedeutung. Im 18. Jahrhundert sprach man zwar noch von Schimpf und Ernst, aber auch schon von Schimpf und Schande.

    Ich fragte Roland weiter, was am Schimpfen denn Spaß mache, und er entgegnete: »Na, das ist auch die einzige Sache, wo man mal Druck ablassen kann. Der kleene Mann, der nacksche.« Als ich mich über das Sprachbild des »kleenen, nackschen Mannes« amüsierte, erläuterte er es weiter: »Der kleene, nacksche Mann, der dasteht, kein Hemd mehr anhat, der hat ja niemanden mehr, der ihn verteidigt. Na, is doch so. Da muss er sich selber mal ein bisschen Dampf ablassen.«

    Roland erkannte sich offensichtlich in der berühmten Figur des kleinen Mannes wieder. Ich begegnete jenem kleinen Mann mehrfach im Feld, und auch andere Ethnologinnen, die durch den »ostdeutschen Dschungel« streiften, trafen auf ihn. In der Sozial- und Kulturgeschichte ist er kein Unbekannter. Die Literatur widmete ihm bedeutende Werke. Und bei so manchem Politiker ist der kleine Mann heiß begehrt. Wenn es darum geht, seine Gunst als Wähler zu gewinnen, wird gern in seinem Namen gesprochen. Ob Roland wusste, welch ambivalenter Ruf dem kleinen Mann anhaftet?

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