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Paris: Sechs Jahre - sechste Etage - siebter Himmel
Paris: Sechs Jahre - sechste Etage - siebter Himmel
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Ebook297 pages3 hours

Paris: Sechs Jahre - sechste Etage - siebter Himmel

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Nach einem Studienjahr an der Sorbonne hat Marlene Möller gegen Ende der Sechzigerjahre Paris verlassen - 2005 kommt sie wieder und wird bleiben. Sechs Jahre lang dreht sich die Bühne mit Straßen-, Theater- und Friedhofsszenen, mit bunten Märkten, überfüllten und verlassenen Parks, kleinen Gassen und großen Boulevards - mit Menschen und Katzen. Künstler und Banker, Staatspräsidenten und Obdachlose treten auf und verschwinden wieder, Begegnungen und Ausstellungen machen nachdenklich - und immer wieder verzaubern die Stadt und die Seine. Alles dreht sich und hat kein Ziel, wird lebendig beschrieben, manchmal mit leiser Melancholie. Zwischendurch bleibt die Drehbühne stehen; Zeit, um auf einer Bistroterrasse über die Eigenarten der Franzosen nachzudenken, über die Metropolen Paris und Berlin - und schließlich über die Gründe zurückzugehen - ins Schwabenland.
LanguageDeutsch
PublisherBuch&media
Release dateOct 30, 2013
ISBN9783865204882
Paris: Sechs Jahre - sechste Etage - siebter Himmel

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    Paris - Marlene Möller

    Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter

    www.buchmedia.de

    November 2013

    © 2013 Buch&media GmbH, München

    Umschlaggestaltung: Kay Fretwurst, Freienbrink

    Printed in Europe · ISBN 978-3-86520-481-3

    Für

    Mirjam

    Judith

    Hannah

    und

    Eva

    »Paris ist alles, was du willst.«

    Frédéric Chopin

    oder:

    Jedem sein Paris!

    Inhalt

    Im Namen der Rose

    Na also!

    Rue Notre-Dame de Lorette

    Damals und heute

    Die Zeit, die bleibt

    Melancholie

    Kein Wintermärchen

    Und kreist und dreht sich nur

    Ich hab noch eine Tochter in Berlin

    Mona Lisa und andere Damen

    Jeder sucht seine eigene Katze

    Mein Paris

    Libertinage, Égalité, Fraternité

    Gruppenbild

    Mein liebstes Leben

    Ich träumte von bunten Blumen

    Die neue Seite

    Sonnenschiff

    Paris hört nicht auf

    Herbst … zeitlos Zwei Jahre später

    Im Namen der Rose

    Düsterer Bahnsteig, hallende Durchsagen, gelbliches Halbdunkel, wandelnde Rucksäcke, überladene Gepäckwagen, Hasten, Warten mit suchendem Blick, eine Rose da und dort; Soldaten patrouillieren, das Gewehr im Anschlag, die Mienen entschlossen, den Schießbefehl auszuführen. Abendtristesse im Gare de l’Est. Kein freundlicher Empfang das, erst recht kein weltstädtischer, wie drüben im Gare du Nord, wo imposante Skulpturen die Reisenden begrüßen, acht europäische Hauptstädte und mittendrin, hoch über allen, die neunte Dame: Paris unter der Tricolore! Die schönste von allen! Auch das ist Paris, ein Versprechen des Nordbahnhofs.

    Schmeichelnde Nachtluft mildert die raue Begrüßung, es ist dunkel geworden, Bretterwände verstellen die Orientierung, der Bahnhof eine Baustelle. Nach einigem Suchen der Taxistand. Es war mir nicht unrecht, den fast wieder abgeschafften Tag der Deutschen Einheit im Zug zu verbringen, der 3. Oktober 2005, ein spätsommerlicher Reisetag. Als gefühlter Nationalfeiertag muss er noch Wurzeln schlagen und es kann dauern, bis Aura und Symbolcharakter eines 14. Juli erreicht sein werden, die Menschen auf den Straßen tanzen und feiern, nicht nur mit Staatsakten und getragener Musik. Dabei gäbe es allen Grund, die friedliche Revolution zu bejubeln, bei der Schießbefehl, Todesstreifen und Diktatur verschwanden und Tausende durch das Brandenburger Tor strömten, ohne dass ein Schuss fiel oder gar »unreines Blut unsre Furchen tränkte«, wie es hierzulande in der Nationalhymne besungen wird.

    Früher habe ich gern den Nachtzug genommen, das Rattern der Räder, Takt der Vorfreude im Halbschlaf: Ich werde im Gare de l’Est einfahren, wenn Paris gerade aufwacht, man über der Straße einen Café Crème bestellen kann, mit einem Croissant und der Gewissheit, weit weg zu sein von allem, was man hinter sich lassen wollte. Früher, das war ein Studienjahr an der Sorbonne, in den besten Nachkriegsjahren des Quartier Latin, noch bevor auf dem Boulevard Saint-Michel die Pflastersteine flogen, noch niemand den rothaarigen Wortführer kannte, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre leibhaftig dort saßen, wo jetzt ein kleiner Platz nach ihnen benannt ist, Aschenbecher und leere Seiten füllten, stundenlang, halbe Tage lang. Und es war lang bevor Sartre dorthin reiste, wo Leute für Taten einsaßen, die im weitesten Sinn auch etwas mit seinen Schriften und Aufrufen zu tun hatten, ins Hochsicherheitsgefängnis von Stammheim, und sich berufen fühlte, die Isolationsfolter der RAF-Gefangenen anzuprangern.

    Diese längst widerlegte Propagandalüge, verbreitet von einem gewissen Otto Schily, sollte von den Privilegien der Häftlinge im Sondertrakt ablenken. Der zornige Terroristenanwalt wurde auch gern gegen Richter und Gefängnispersonal ausfällig und glaubte, im Einklang mit seinen Mandanten, den »faschistoiden« Staat der Bundesrepublik anprangern zu müssen. Lang, lang ist’s her, und später kam es dann ganz anders. Schily lief zu den Erzfeinden über, dem Establishment, wurde Innenminister und »eiserner Sheriff« der Nation, comme de rien n’était, sagt man hier, als ob nichts gewesen wäre.

    Früher, das war die Zeit, als Beckett und Ionesco noch lebten und Jean Genet, frisch aus dem Gefängnis entlassen, genüsslich die Szene aufmischte; als die junge Juliette Gréco, Göttin der Existenzialisten-Szene, in den Bars von Saint-Germain ihre zärtlich verführerischen Lieder sang, die in Deutschland noch den Ruf des Verruchten hatten. Früher, nicht zu vergessen, das war die Epoche des großen Generals, des ersten Präsidenten der fünften Republik, die er kurz davor gegründet hatte, und der längst zum Mythos wurde, zum Leuchtturm unter seinen Landsleuten und Nachfolgern.

    Und damals, kurz vor Ausbruch der Achtundsechziger-Revolte, war das Seine-Ufer noch nicht mit Schnellstraßen verschandelt, die Skyline nicht vom Tour de Montparnasse, und es gab sie noch, die legendären Markthallen, den Ventre de Paris, voller Bauch und Herzstück zugleich, mit Gerüchen und Geschrei, mit Fischen, Austern, Auberginen, Artischocken und der morgendlichen Zwiebelsuppe, mit Männern in Gummischürzen und geschulterten Tierhälften, und, nicht zu vergessen, mit den Verlockungen der Rue Saint-Denis, gleich nebenan, wo die Kolleginnen von Irma la Douce ihrem speziellen Beruf nachgingen, in ihrem speziellen Kosmos, der damals noch das Flair des Familiären hatte, ein wenig wie im unvergessenen Film mit Shirley MacLaine.

    In diesem Paris wollte ich eigentlich bleiben und hatte auch schon ma petite idée, wie es gehen sollte. Doch es kam anders. Übrig blieben eine versteckte Sehnsucht und die heimliche Frage, ob damals die Weichen richtig gestellt wurden. Und jetzt bin ich doch noch gekommen, wohl wissend: Früher war früher und heute ist heut. Persönlich betrachtet heißt heute: Rückkehr in der Hoffnung, der mitgeschleppte Traum möge der Wirklichkeit einigermaßen standhalten, obwohl sich seither nicht nur die Stadt verändert hat, sondern auch der eigene Standort. Zwar bin ich am gleichen Ort ausgestiegen wie damals, als ich auszog, Paris im Handstreich zu erobern, doch jetzt stehe ich zögernd am Rand, mit vagen Erwartungen, leisen Zweifeln, einem monströsen Koffer und zwei bleischweren Rucksäcken.

    Auch wenn sich manchmal das Gefühl einschleicht, alles sei gestern gewesen, ist Vergangenes doch in weite Ferne gerückt, Jugend kann weder nacherlebt noch wiederbelebt werden, obgleich die Welt vor diesbezüglichen Peinlichkeiten strotzt. Man steht abseits, nicht nur, weil man nicht mehr in Sachzwängen gefangen ist, sondern weil der Altersunterschied Distanzen schafft und zum äußeren Abstand unmerklich der innere kam. Alles verschwimmt ein wenig, Konturen verlieren an Schärfe, Sicherheiten an Solidität, und gelegentlich berühren neuere Standpunkte damals verworfene Ansichten. Auch das Tempo hat sich geändert, alles ist langsamer geworden, man sieht Details und Nischen, die beim jugendlichen Durchmarschieren übersehen wurden. Deshalb fallen auch kompakte Antworten schwer, so die auf die Frage, weshalb ich denn eigentlich gekommen sei. Das jugendliche Auf-den-Punkt-Bringen ist mühsam geworden und scheint kaum noch angemessen, jetzt, wo das Schnurgerade sich in die Fläche dehnt, der Fluss vor der Mündung in ein Delta zerfließt und sich in Rinnsalen verliert.

    So tritt an die Stelle einer Antwort die kleine Zuversicht: Vielleicht wird sich ein Kreis schließen, vielleicht wird der Herbst mit dem Kaleidoskop der Bilder hier lebendiger sein als in der stämmigen Schwabenmetropole, wo der Oberbürgermeister die Parole »Let’s putz Stuttgart« ausgab und sich unter Bürgerbeifall an der Schüleraktion beteiligte.

    Die Taxifahrt, welch ein Empfang! Verflogen Reisemüdigkeit und Grübelei. Das Herz schlägt höher. Geschafft! Einzug durch den Triumphbogen der Porte Saint-Denis und mein heimlicher Triumphzug durch das nächtliche Paris. Still sitze ich auf dem Rücksitz, kann es kaum fassen und schwelge für einen Moment im Gefühl, an diesem Abend sei die ganze Pracht für mich allein.

    »Ah, schön! Alles noch da …«, halblaute Bemerkung beim Anblick der angestrahlten Türme von Notre-Dame, der Seine-Brücken, des blinkenden Eiffelturms, der Kuppel des Institut de France, der Conciergerie mit Uhrturm, der Paläste am Quai und der weißen Wölbungen von Sacré Cœur auf dem Hügel.

    »Aber ja, Madame! Das ewige Paris! Wollten Sie das sagen?«, fragt der Fahrer.

    »Ja! Genau das, Monsieur.« Die begeisterte Antwort ist ein bisschen peinlich, doch es tut gut, überhaupt etwas zu sagen in diesem Glücksmoment. Stummes Glück, gibt es das? Stilles Glück schon, doch das ist etwas anderes.

    Der Mann spricht mit Akzent, ich frage nach seiner Herkunft, und die kleine Unterhaltung reicht, bis wir in der Rue Pierre Leroux ankommen, Seitenstraße der stolzen Rue de Sèvres im 7. Arrondissement. Im malerischen Gitterfahrstuhl, wie er gern in Filmen vorkommt, presse ich mich neben den Riesenkoffer ins Eck, die Türen schließen mit einem Knall und rumpelnd geht es aufwärts. Das telefonisch angemietete Studio entpuppt sich als Salon-Imitat: nachgemachte Stilmöbel, goldgerahmte Spiegel, Portieren und Bettüberwurf im gleichen Dessin, Tischchen mit Lämpchen ohne Glühbirnen. Bettzeug wäre mir lieber gewesen als der Firlefanz. Die Concierge hilft aus. Um die Hochglanzpolitur zu schonen, breite ich Handtücher aus, lege das Nötigste darauf und lösche zwei Stunden später das Licht, im naiven Glauben, das meiste sei überstanden.

    Am Morgen heißt die Devise: rasch die Tausender auf ein Konto, dann Wohnungssuche. Doch für eine Kontoeröffnung verlangt die Postfiliale einen Mietvertrag, ebenso die Bank nebenan. »Hab ich nicht, ging alles telefonisch über eine Agentur.« Dann müsse die Vermieterin das Mietverhältnis bestätigen mit Eigentumsnachweis, die Stromrechnung genüge. Die sei auf den letzten Mieter ausgestellt, antwortet die Besitzerin, es könne dauern. Eine freundliche Inderin bringt das Geld auf einem Sparbuch in Sicherheit, eigentlich auch nur mit fester Adresse erlaubt.

    Im De Particulier à Particulier, kurz P à P, findet der maklerfreie Teil des überhitzten Wohnungsmarktes statt, übersichtlich nach Arrondissements und Größe geordnet. Ahnungsloses Durchforsten der Kleinanzeigen, es muss schnell gehen, das Appartement ist verkauft und muss zum Monatsende geräumt sein. Da ich mehr als nur ein Lieblingsviertel habe, soll es erst einmal ein Studette werden, um in Ruhe zu überlegen, wo ich wohnen will. Diese Studentenbuden sind vormalige Dienstmädchenkammern, die in rentable Miniwohnungen umgebaut wurden: sechste Etage, neun bis vierzehn Quadratmeter, Kochecke, Dusche, Klo auf dem Flur, Kaltmiete vier- bis sechshundert Euro. On est à Paris!

    Bereits nach wenigen Besichtigungen ist klar, wie heiß umkämpft gerade diese Studettes sind, nicht nur unter Studenten, und dass in diesen Dachzimmern Aufteilung und Möblierung entscheidend sind. Ein Hochbett kann beispielsweise so ein Minidomizil in ein kleines Wohnzimmer verwandeln. Mir bleibt allerdings diese Lösung vorenthalten. Eine Vermieterin auf High Heels bringt es auf den Punkt: »Aber Madame, wenn Sie da herunterfallen und womöglich tot sind, habe ich die Polizei am Hals.« Was ich denke, schickt sich nicht zu sagen: Pass’ lieber du auf, sonst brichst du dir noch den Hals auf deinen Stelzen.

    Rasch gewöhne ich mich daran, mehrmals täglich meine Bonität zu dokumentieren, und ebenso rasch wird klar, dass das nichts nützt. Einstimmige Reaktion der Vermieter: Madame, Ihr Geld muss auf einem französischen Konto sein, sonst können Sie keine Überweisungen tätigen, keine Schecks ausstellen und keine Bankkaution hinterlegen. Und wenn Sie keinen französischen Bürgen haben, ist eine Jahresmiete erforderlich.

    »Gut, kein Problem. Das Geld ist im Lande.« Vergeblich zücke ich das französische Postsparbuch und die Vermögensauskunft meiner Hausbank. Nix da, es muss ein Girokonto sein und eben das wird mir weiterhin standhaft verweigert. Als Kaution könne ich Bargeld hinterlegen, so mein Angebot. Fehlanzeige. Das ist gesetzlich verboten! Langsam springe ich im Quadrat, die Zeit läuft und die Vermieterin hat die Stromrechnung noch immer nicht geschickt. Der Hauptmann von Köpenick fällt mir ein: Haste keen Pass, kriegste keene Arbeet, haste keene Arbeet, kriegste keene Wohnung, haste keene Wohnung, kriegste keen Pass!

    Täglicher Anruf bei der Vermieterin, die sich entweder dumm stellt oder es tatsächlich ist, denn sie wirft mir vor, die carte bleue nicht von Deutschland aus besorgt zu haben, und behauptet schließlich, die Stromrechnung sei abgeschickt, an der Verzögerung seien Streiks schuld.

    »Welche Streiks, Madame? Es gibt keine Streiks gegenwärtig.«

    Madame wirft den Hörer hin.

    Sonntag, Verschnaufpause. Das 7. Arrondissement, von Taxifahrern »Vatikan« genannt, hat außer Kirchen, Klöstern und einem Wallfahrtsort in der Rue du Bac auch reichlich Profanes zu bieten, allem sonstigen voran die eiserne Lady, benannt nach Eiffel, ihrem Konstrukteur; davor das Marsfeld mit Militärschule, den Invalidendom mit Napoleon-Sarkophag, Museen, das Palais Bourbon, Sitz der Nationalversammlung, bombastische Ministerien, erlesene Boutiquen. Auf dem Weg zum Musée d’Orsay werde ich vor den vergoldeten Einschüchterungstoren des Außenministeriums mit einer abschätzigen Handbewegung verscheucht. Unser vormals Steine werfende Außenminister fällt mir ein. Wie oft mag Monsieur durch dieses Prachtgitter stolziert sein, die Heldenbrust voran? Und unsereins darf nicht einmal kurz stehen bleiben und schauen. Die Lust auf ein großes Museum ist mir vergangen; eine Woche Würstchendasein und dann noch verjagt werden wie ein Hund, kann aufs Gemüt schlagen.

    Der Garten der Rodin-Villa nimmt mich freundlich auf; eine Sonnenbank zwischen dem Denker und den ausgemergelten Bürgern von Calais, aneinander gekettet, in schlotternden Hemden, auf dem Weg in den Tod.

    Ach, grüß Gott auch! So trifft man sich wieder. Bin leider grade nicht disponibel. Ihr versteht das doch? Ein Dach über dem Kopf muss her, das braucht der Mensch, dann die Kunst, »zuerst das Fressen …« Das Mühlrad im Kopf geht weiter, noch zwei Wochen, dann sitze ich auf der Straße oder muss mit den nachgeschickten Überseekoffern, zu groß für ein Taxi, den Umzug ins Hotel organisieren. Durch eine »geliehene« Adresse bin ich zwar inzwischen Kontoinhaberin, doch das ist auch schon alles.

    Verzagt hocke ich zwischen den weltberühmten Kunstwerken und schaue sie nicht an. Müde wandert der Blick hinüber zum Invalidendom, zitternde Konturen vor tief blauem Himmel, ein Traum aus Gold und Blau. Doch unter der Goldkuppel starren dunkle Fenster mit kalten Augen zurück. Hohngelächter erschallt: Selbst schuld! Das hast du alles dir selbst zuzuschreiben! Wie hast du dir das denn vorgestellt? Kam, sah, siegte etwa? Das gibt’s hier nicht! Hat sich rumgesprochen.

    Moment mal, muss ich mir das anhören? Mit Wohnungsnachweis wäre alles anders gelaufen. Nur dass ihr es wisst: Madame vermietet an der Steuer vorbei an Ausländer. Deshalb rückt sie die Rechnung nicht raus! So sieht’s aus! Ich könnte sie anzeigen, in der Wohnung bleiben und gemütlich weitersuchen. Ein Makler sagte mir, ihr drohe sogar Gefängnis unter diesen Umständen. Außerdem: Gebt doch nicht so an! Die ach so große Bedeutung des kleinen Korporals unter der Kuppel da drüben: alles Geschichtsklitterung, der ganze Heldenpopanz! Bloß weil er halb Europa unterworfen hat! Und zu welchem Preis? Sein Marmorsarkophag auf dem Riesensockel steht nicht nur hoch über dem Boden des Kaiserdoms, sondern auch über dem der historischen Fakten. Jedenfalls ist das meine Meinung. Und ich teile sie!

    Niemand hat nach deiner Meinung gefragt.

    Und wozu die ganzen Siegesgöttinnen? Gut, es gab Siege! Und was ist mit den Niederlagen? Dem kleinen, angeblich großen Mann kann euer Kult sowieso nicht mehr helfen in seiner Verbannungseinsamkeit, und erst recht nicht den gefallenen Soldaten. Da redet keiner davon, vom Drama des Rückzugs über die Beresina, bei dem die halb erfrorenen Söldner in Pferdebäuche krochen; vom Gemetzel der Nachhut unter Marschall Ney; vom großen Blutvergießen der bei Leipzig zusammengetrommelten Völker und von der letzten Schlacht bei Waterloo, wo das Blut von Hunderttausenden die Ebene tränkte, bloß weil der abgedankte Imperator es noch einmal wissen wollte, trotz komfortabler Exilbedingungen auf Elba. Da war es dann vorbei mit dem Siegen. Und während Zehntausende starben, ließ der kaiserliche Revolutionsgeneral verkünden, seine Majestät sei wohlauf. Und wie viele haben schließlich das Gnadenbrot gekriegt, da drüben in der Herberge für Invaliden?

    Ob die Engländer ihn tatsächlich vergiftet haben auf seiner letzten Insel, euren kleinen Gernegroß mit der zynischen Menschenverachtung? Das Einzige, was ihn von anderen Verbrechern der Weltgeschichte unterscheidet, war seine Präsenz im Heer. Seine Franzosen verstand er mit ein paar bürgerlichen Freiheiten des Code civil derart zu betäuben, dass sie, an Unterdrückung gewöhnt, erst einmal aufgeatmet haben und die Wunden nicht mehr spürten, die sein Größenwahn ihnen schlug, in fast jeder Familie übrigens! Und diese bürgerlichen Freiheiten galten wenig, wenn sie der Staatsräson entgegenstanden. Da hat dann seine Majestät höchstpersönlich Unrecht gesprochen und vollstrecken lassen. Jawohl!

    Jetzt treten die Augen stechend unter der Kuppel hervor: Unerhört! Verschwinde! Oder nimm zur Kenntnis, was hier gilt. Wir haben noch Tabus hierzulande! Eine ganze Reihe sogar! Und Napoleon ist tabu! Verstanden?

    Aha! Und das, obwohl er für Farbige die Sklaverei wieder eingeführt und bei Cholerakranken Giftgas eingesetzt hat? Ein gewisser Claude Ribbes, Historiker seines Zeichens, hat Monsieur Bonaparte kürzlich mit Hitler verglichen! Was sagt ihr dazu? Und was soll der Wallfahrtsort da drüben? Und dieses Forschungsinstitut, wo kein Normalsterblicher Zutritt hat?

    Aus den Glasaugen blitzt der Widerschein der Abendsonne: Es reicht! Du wirst sowieso bald packen, da drüben. Wir sind noch immer die Grande Nation, verstanden? Hau doch ab, wenn’s dir nicht passt! Und was hast du, bitteschön, in unseren Spezialbibliotheken zu suchen?

    Etwas Besseres fällt euch nicht ein? Euer forscher Innenminister, Nicolas Sarkozy, schlägt die gleichen Töne an: Wer das Land nicht liebt, soll gehen! Gemeint sind jene jungen Franzosen, die in den Vorstädten hocken und vor ihrer Zukunftslosigkeit. Sie können die Farbe ihrer Haut nicht ändern und sind deshalb dabei, massenhaft aus derselben zu fahren; mit beträchtlichem Kollateralschaden.

    Geht dich nichts an. Verschwinde!

    Nein! Ich liebe diese Stadt und werde mich nicht vertreiben lassen! Und genau wie damals werde ich mich mit erfundenem Forschungsinteresse in euren heiligen Spezialbibliotheken einnisten. Jedem seine kleinen Sünden.

    Bedrückt trete ich den Heimweg an, ohne die Museumsvilla betreten zu haben, in der auch Rilke lebte, als Sekretär Rodins. »Paris ist schwer, eine Galeere«, stöhnte er, und er war nicht der Einzige, der sich hier als Verdammter fühlte. Baudelaire hatte damit angefangen, der erste poète maudit. Auch Camille Claudel gehört zur Familie der verzweifelten Künstler, allerdings nicht wegen der Stadt, sondern wegen Monsieur Rodin, dem geliebten Lehrer. Schließlich landete die junge Künstlerin wegen der Grausamkeiten des doppelt so alten Meisters im Irrenhaus. Die eigene Mutter lieferte sie ein. Längst hatte sie mit der Tochter wegen ihrer Liaison mit Rodin gebrochen. Da war ein nichtiger Grund gerade recht: Die Ärmste war menschenscheu geworden, sprach nur noch mit ihren Katzen und der Concierge. Das reichte der Frau Mama, sie in die Irrenanstalt zu bringen, einem Schreckensort, wo sie noch dreißig Jahre leben musste, so lange wie unser Hölderlin im Turm. Nur war er liebevoll umsorgt, während sie dahinvegetierte, ohne Besuche, mit schrecklichem Fraß, unter kreischenden Menschen, die Grimassen schnitten, sich mit Kot beschmierten, schrien und tobten.

    Und heute? Überall Ausstellungsplakate, in Métrogängen, an Hauswänden und Werbeflächen. Ja, Camille, ich werde kommen! Deine Werke kenne ich nicht, ich weiß nur, dass Rodin dein Talent dem eigenen gleichstellte. Wenigstens da war er fair. Übrigens, Dora Maar und Olga Chochlowa, zwei der Picasso-Geliebten, sind auch wahnsinnig geworden, Marie-Thérèse Walter hat sich erhängt und Jaqueline Roque jagte sich eine Kugel durch den Kopf. Kleiner Privatfriedhof für den großen Künstler. Warum nicht? Schließlich war er ja der Meinung, immer wenn er sich eine neue Frau nehme, wäre es besser, die Vorgängerin zu erschießen, um seine Ruhe zu haben. Da war es doch ganz praktisch, wenn die Damen das selbst erledigten.

    Andererseits: Frauen lieben zu sehr. Vielmehr: Sie lieben falsch. Bisher. Wie viele sind an gebrochenem Herzen gestorben? Friederike Brion zum Beispiel, die Pfarrerstochter aus Sesenheim. Für den Studenten Johann Wolfgang, der aus Straßburg daherritt, war das junge Ding gerade mal Anlass, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen und daraus ein paar unsterbliche Gedichte zu machen. Ist sie genetisch oder sozial vererbt, diese Auslieferungsbereitschaft?

    Durch graue Wohnstraßen zurück zur Rue Pierre Leroux, alles ausgestorben mitten in Paris. »Ich hasse die Sonntage«, singt die Gréco und damit ist sie nicht allein. Anrufe bei den Töchtern. Tübingen, Berlin, Hamburg, Köln, Paris, das Trennungspentagon ist fühlbarer als in Deutschland. Im Hausflur kommt mir die Concierge entgegen, eine freundliche junge Frau mit Zopf, Jeans und einem weißen Knäuel auf dem Arm, ihr blindes Hündchen.

    »Macht das nicht zu viel Mühe?«, frage ich vorsichtig.

    »Ach, wissen Sie, wenn man liebt …« Madame Durant ist Vertreterin einer neuen Generation der Concierge. Aus der früheren Alleinherrscherin scheint eine diskrete Person geworden zu sein. Gelegentlich ist ein ebenso agiler Mann im Hintergrund, der tagsüber seiner Arbeit nachgeht und abends Schriftkram und Reparaturen erledigt. Damals war die typische Concierge meistens eine rundliche Portugiesin, stets auf dem Posten, mit Billigdauerwelle und Kittelschürze, entweder mürrisch oder eine Klatschbase, une vraie concierge. Gelegentlich lag außer der Katze auch noch ein Tagedieb auf dem Kanapee ihrer Loge, den sie mit ihrem schmalen Salär durchfütterte.

    Ein Treffen der besonderen Art steht an. Auf Empfehlung eines Freundes soll ich einer zweiundneunzigjährigen Dame vorgestellt werden, die für zwei Abendstunden täglich eine Gesellschafterin suche und dafür ein kleines Appartement anbiete. Absichtlich bin ich eine Stunde vor Termin im 16. Arrondissement, Métrostation Jasmin. Kaum ein Viertel löst allein über die Ordnungszahl so viele Assoziationen aus wie das Seizième. Man denkt an Figaro-Abonnenten, an Jugendstil und Luxus, an die kapriziöse Dame des Hauses und verwöhnte Kinder, die ein elitäres Gymnasium besuchen, an glanzvolle Soireen und gehetzte Ehemänner, die

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