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Glück und Entfremdung: Ein amerikanischer Traum
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Ebook708 pages9 hours

Glück und Entfremdung: Ein amerikanischer Traum

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Bereits auf den ersten Seiten dieses großen in Deutschland und den USA spielenden Romans erklingt das Leitmotiv, das den Text beherrscht und den Leser in seinen Bann zieht - bis zur letzten Seite. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung erhebt das Recht eines jeden Bürgers, »sein Glück zu machen«, zu einem menschlichen Grundrecht. Gleiches findet sich in den europäischen Verfassungen nicht. Hier bestimmen Fraternité und Solidarität die politischen und moralischen Orientierungen. Hinrich Vonderau, ein 1933 in Berlin geborener Deutscher, verbringt in jungen Jahren ein Jahr als Austauschschüler in den USA und erliegt der Faszination des »pursuit of happiness«.
LanguageDeutsch
PublisherBuch&media
Release dateOct 9, 2017
ISBN9783957800954
Glück und Entfremdung: Ein amerikanischer Traum

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    Glück und Entfremdung - Jürgen Drews

    1

    Er war dankbar dafür, dass ihn der Konsulatsbeamte in einem Büro empfing, das fast wie ein persönliches Arbeitszimmer aussah. Bücher in Regalen, die bis unter die Decke reichten, hohe Fenster, durch die der Blick zwischen alten Bäumen hindurch auf einen kleinen Park fiel, eine Sitzecke mit angenehm sachlichen und doch einladenden Polstermöbeln, ein Schreibtisch ohne Fahne oder andere nationale Embleme, kein Bild eines Präsidenten, sondern ein ruhiges, farblich ausgewogenes Ölbild an der Wand hinter dem Schreibtisch. Der Beamte stellte sich vor, Vonderau verstand den Namen nicht gleich. Er wollte nicht nachfragen, es war ja auch egal, wie dieser Mann hieß. Dazu bin ich heute zu müde, dachte Vonderau, wobei das Wort erschöpft oder ausgelaugt es vielleicht besser trifft, und dabei so beschädigt, dass von außen angebotene Anregungen oder Angebote in seinem Inneren nichts auslösten.

    Bitte, er möge doch Platz nehmen. Der Beamte wies auf einen Polsterstuhl auf der Besucherseite des Schreibtisches, während er selbst in seinem Schreibtischsessel Platz nahm.

    »Kaffee?«

    Als Vonderau »bitte, ja« sagte, griff Mister Joshua Rauenthal – oder Rosenthal? – zum Telefon und bestellte zwei doppelte Espressos. Dann schlug er die Akten auf, die vor ihm lagen, blätterte ein wenig, blieb an einer Seite hängen und blätterte weiter. Offenbar hatte er keine Eile, das Gespräch, zu dem das Generalkonsulat Hinrich Vonderau eingeladen hatte, zu beginnen. Vonderau war hier nicht erschienen, um Freundlichkeiten auszutauschen. Eigentlich wollte er es kurz machen. Sein Anliegen hatte er bereits schriftlich übermittelt. »Renunciation of nationality« hieß das für diesen Zweck benutzte Formular. Wozu das alles noch einmal wiederholen? Ein paar zusätzliche Begründungen könnte er immerhin anbieten, zum Beispiel die, dass er jetzt, in fortgeschrittenen Jahren, zu seinen Anfängen zurückkehren und nicht mehr auf zwei Hochzeiten tanzen wolle. Es wird mir einfach zu viel, wenn Sie verstehen, was ich meine.

    Der Mann, der ihm gegenüber saß, war ihm sympathisch. Er erinnerte ihn an jemanden. Ein schmales Gesicht, eine lange Nase, Lider, die schwer auf die dunklen Augen herabhingen und Rauenthal oder Rosenthal dazu zwangen, seinen Kopf ein wenig höher zu heben als üblich, um sein Gegenüber ins Auge zu fassen. Weißes, sorgfältig gescheiteltes Haar. Über fünfzig muss er sein, entschied Vonderau und beobachtete die rechte Hand des Beamten, mit der dieser in den Akten blätterte. Eine schlanke, leicht gebräunte, noch glatt wirkende Hand. Keine gefüllten Adern auf dem Handrücken. Treibt wohl Sport, und vielleicht ist er ja noch nicht sechzig.

    Jemand klopfte an die Tür. »Come in«, rief der Konsulatsbeamte, ohne seinen Blick von den Papieren zu nehmen. Eine ältere Dame in einem rosa Kostüm betrat den Raum durch eine Verbindungstür und brachte den Kaffee. Vonderau glaubte, ihr ein kurzes Begrüßungslächeln schuldig zu sein, zumal ihr Chef außer einem kurzen »Danke« keine Notiz von ihr nahm, worauf die Dame das leere Silbertablett mit beiden Händen wie ein Steuer vor sich hielt und im Frankfurter Dialekt sagte: »Wenn Se sonst noch was benötesche, melde Se sisch bitte!«

    »Ja, danke, Frau Wittig (oder Fittich?)« Der Konsulatsbeamte sprach ein reines Hochdeutsch, aber Vonderau hatte den Namen der Sekretärin ebenfalls nicht verstanden. Er wartete, bis die Dame den Raum verlassen hatte. Dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück und musterte Vonderau.

    »Sprechen wir Deutsch?«

    Vonderau nickte. »Wie Sie wollen.« Er zog seine Kaffeetasse näher an sich heran. Vielleicht würde ihn der Espresso ein wenig aufmöbeln.

    »Sie waren also siebzehn Jahre alt, als Sie zum ersten Mal in die USA kamen?«

    »Ja. Vor mehr als fünfzig Jahren. Ein halbes Jahrhundert.«

    »Und das war ›Liebe auf den ersten Blick‹?«

    Vonderau überlegte. »Herr Rauenthal oder Rosenthal?«

    »Rosenthal, wie die Rose.«

    »Danke, also Herr Rosenthal, Sie können sich vorstellen, wie das damals auf mich wirkte. 1950! Liebe ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort, obwohl so etwas auch dabei war, aber es war sofort eine große Sympathie, eine Art Befreiung.«

    Rosenthal nickte. »Verstehe, verstehe. Ein glückliches Jahr, dieses Schuljahr in Princeton?«

    »Man empfindet das vielleicht nicht so unmittelbar, wie Sie es jetzt sagen, nicht, wenn man drin steckt als junger Mensch. Man ist so beschäftigt. Ich war ziemlich angespannt, wollte gut reagieren, alles mitkriegen und alles richtig machen. Aber – ja: Im Nachhinein kann man es so nennen. Eine glückliche Zeit.«

    »Aber auch eine kurze Zeit.« Herr Rosenthal lächelte. »Nach einem Jahr waren Sie ja wieder in Berlin bei Ihrer Familie.«

    »Um das Abitur zu machen.« Vonderau wusste mit einem Mal, dass dieser Herr Rosenthal, der Vertreter der USA, so etwas wie eine Mission erfüllte. Natürlich hätte er den Gang des Gesprächs beschleunigen können. Hören Sie, Herr Rosenthal, ich weiß, was ich will. Ich habe mich dazu entschlossen, fortan in Deutschland zu leben oder irgendwo anders in Europa, aber eben nicht mehr in den USA, auf keinen Fall in den Vereinigten Staaten. Ich sage Ihnen auch, warum. Ich bin Ihrem Land immer noch dankbar, aber ich habe ihm eben auch einiges vorzuwerfen. Und jetzt, gegen Ende meines Lebens, wiegen die Vorwürfe schwerer als die Dankbarkeit. Denn die Haltungen und Handlungen, die ich Ihrem Land, ja, Ihrem Land, nicht mehr dem meinen, vorwerfe, haben vieles kaputt gemacht oder in Zweifel gezogen, wofür ich sonst dankbar zu sein hätte. Hier also ist mein Pass. Ich weiß, damit gebe ich mein Recht auf, in den USA zu wohnen und zu arbeiten. Lassen Sie mich ziehen!

    Aber das ging mit einem Mal nicht mehr. Mit einem anderen Beamten in einem anderen Raum oder an einem anderen Tag hätte er es fertiggebracht, so kurz angebunden und schroff auf seiner Wahl zu bestehen, aber dieser Herr Rosenthal hatte vielleicht ein Recht auf eine ausführlichere Begründung seines Wunsches nach Entlassung aus dem Land, dessen Bürger sie zu diesem Zeitpunkt beide noch waren. Natürlich, diese Atmosphäre, die zivilen Umgangsformen, vielleicht sogar die Sekretärin mit ihrem Frankfurtisch, das alles wurde ihm ja nicht ohne Absicht zuteil. Vonderau wusste das sehr wohl. Auch war ihm bewusst, dass es ihm immer schwer gefallen war, gegenüber einem freundlichen und nachdenklichen Menschen sein Recht einzufordern. Neigte er nicht zu Kompromissen, zu Aufschüben, zur Unentschlossenheit? Hatte Herr Rosenthal dies vielleicht seiner Immigrationsakte entnehmen können? Aber sei’s drum. Der Mann begegnete ihm liebenswürdig, er war ihm sympathisch, und er schien alle Zeit der Welt zu haben.

    »Was führte Sie denn wieder zurück nach Princeton?«

    »Meine Gastfamilie hatte einen Narren an mir gefressen. Sie meinten, ich passe so gut zu ihnen, vor allem zu Victoria, der einzigen Tochter. Es handelte sich bei den Tillinghasts, so hießen sie, um sehr wohlhabende Leute. Ein großes Haus in Princeton, ein Haus am Meer in South Carolina, Reisen nach Südamerika, nach Europa, die besten Schulen für die Kinder, Theaterbesuche, Musikabende zu Hause. Carl Tillinghast war ein guter Geiger – ungewöhnlich für einen Industriellen. Auch die drei Kinder spielten Instrumente. Und Victoria, Vicky, wie sie genannt wurde, hatte sich in den Kopf gesetzt, mich zu heiraten. Ja, ich sollte geheiratet und der Familie einverleibt werden.«

    »Und Sie? Wollten Sie das auch?«

    »Ich nahm das Ganze nicht so ernst.« Vonderau sah, dass Rosenthal sich in seinem Sessel bequem zurückgelehnt hatte, die Arme auf die Lehnen gestützt und die Hände gefaltet. Sein Blick war schräg nach unten gerichtet. Aber gelegentlich hob er den Kopf und lehnte sich noch ein wenig weiter nach hinten, um sein Gegenüber etwas schläfrig, aber voller Teilnahme anzublinzeln.

    »Wissen Sie, ich war einfach zu naiv, um zu begreifen, dass ich mich diesen Leuten verpflichtete, wenn ich die Gefälligkeiten annahm, die sie mir erwiesen. Sie kamen im Sommer 1952 nach Berlin, um meine Eltern kennen zu lernen. ›Reizende Leute‹, fand meine Mutter, und mein Vater meinte, dies sei eine wunderbare Gelegenheit, um sein Schulenglisch aufzufrischen. Mich nahmen die Tillinghasts anschließend mit nach Wien, nach Rom, an die Côte d’Azur, um mich dann wohlbehalten in Berlin wieder abzuliefern und meiner Mutter eine weitere Gelegenheit zu bieten, die Gäste mit selbst gebackenem Kuchen zu füttern − ›absolutely delicious, Henriette‹ − und willig, die Englischübungen meines Vaters zu ertragen: ›You are coming along very nicely, Fritz‹.«

    Ja, und im nächsten Jahr dürfte ich doch nach Princeton kommen, um mit der Familie an die Atlantikküste zu fahren?

    Rosenthal lachte. Die Geschichte amüsierte ihn. »Klingt, als hätte man Sie ganz schön eingewickelt. Aber wer hätte solchen Liebenswürdigkeiten widerstanden?« Er warf Vonderau einen listigen Blick zu. »Und das Töchterchen?«

    »Vicky? Die blieb harmlos. Wir waren ja noch so jung. Vicky hatte, als die Tillinghasts zum ersten Mal nach Berlin kamen, noch nicht einmal die High School abgeschlossen. Und ich? Ich hatte gerade begonnen, Medizin zu studieren, ohne ganz sicher zu sein, ob ich dabei bleiben würde.«

    »Verstehe«, sagte Rosenthal, »aber das Mädchen hatte doch sehr deutliche Vorstellungen von seiner Zukunft?«

    »Kindliche Vorstellungen, die erst allmählich festere Umrisse annahmen. Aber sie hatte es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, mich zu heiraten, und sie war ein verwöhntes Kind, das erwartete, dass man ihm jeden Wunsch erfüllte.«

    »Wann kamen Sie denn wieder zurück nach Princeton?«

    »1954 fing ich dort an Biologie zu studieren, am Department für Molekulargenetik. Mich reizte die Wissenschaft mehr als die klinische Medizin.«

    Rosenthal fing wieder an, in den Akten zu blättern.

    »Und von da an ging es steil aufwärts mit Ihnen, Herr Vonderau. 1958 Master of Science in Princeton, vier Jahre später der Doktortitel und bald danach eine Professur in New Port. Dann eine glanzvolle Karriere in der Industrie, Gründung einer erfolgreichen Firma, Reichtum …«

    »Wohlstand«, korrigierte Vonderau.

    »Also Wohlstand, jedenfalls viel Geld, fast so viel, wie Ihr einstiger Gönner, Carl Tillinghast, eingeheimst hatte. Preise, Anerkennung. Aufnahme in ›Who is Who in America‹, und so geht es weiter.« Rosenthal lehnte sich wieder in seinem Sessel zurück.

    »Beklagen können Sie sich wirklich nicht, Herr Vonderau. Ihre Karriere ist eine typische amerikanische Erfolgsgeschichte. Und so jemand will dem Land den Rücken kehren, das ihm so viel gegeben hat, das gut zu ihm war? Nicht wahr, Mister Vonderau, dieses Land war doch gut zu Ihnen?«

    Hinrich Vonderau will sich ja nicht beklagen. Er hat nicht vergessen, dass sich viele seiner Träume in Amerika erfüllt haben, aber er weiß auch, dass vieles in ihm zerstört worden ist, ausgelöscht.

    »Herr Rosenthal, ich weiß nicht, wie alt Sie sind. Vermutlich sind Sie erst nach dem Krieg geboren worden − ich war schon sechs Jahre alt, als der Krieg begann. Und ich habe Erinnerungen an die Kriegsvorbereitungen der Nazis. Damals, 1938, als das Sudetenland ›heimgeholt‹ werden sollte. ›Egerländer, halt´ zusammen, nun dauert’s nimmer lang, bald marschieren Soldaten ein, die holen euch wieder heim‹. Es klang wie eine Marschpolka, und jeden Morgen, während mein Vater frühstückte, saßen wir, mein Bruder und ich, auf dem Sofa im Wohnzimmer und hörten das mit an. Natürlich verstand ich nicht alles. Vor allem mit dem Wort ›Egerländer‹ konnte ich nichts anfangen. Dann kapierte ich, dass es sich um Deutsche handelte, die in der Tschechei wohnten. Im Sudetenland, wie man damals sagte. In den Nachrichten gab es täglich Berichte über Zwischenfälle. Mit einem Mal schienen die Tschechen an der Grenze verrückt geworden zu sein. Ihr Sinnen und Trachten schien nur noch darauf gerichtet zu sein, Zwischenfälle zu provozieren. Und die Kommentare: Unerträgliche Zustände, einer Großmacht unwürdig, so viele Male habe der Führer den Tschechen die Hand zur Versöhnung gereicht und genau sooft seien alle Friedensangebote zurückgewiesen worden … bis, na ja, den Rest kennen Sie.«

    »Aber was hat das mit unserem Thema heute zu tun?« Rosenthal schien wirklich erstaunt zu sein. »Möchten Sie noch einen Kaffee?«

    »Ja, gern.«

    Vonderau nickte und fuhr fort, während Rosenthal mit seiner Sekretärin telefonierte. »Ich will Ihnen sagen, was das mit unserem Thema zu tun hat, Herr Rosenthal. Was damals im Einzelnen gesagt wurde, weiß ich nicht mehr. Aber ich erinnere mich an das Gefühl, verstehen Sie? Dieses Gefühl, dass ein Unheil herbeigeredet wird, dass hier nichts mehr zu verhandeln oder auf friedliche Weise zu regeln ist, das habe ich damals kennen gelernt. Was sich da zusammenbraute, als verbale Drohkulisse, war doch längst beschlossene Sache. Ein ungutes Gefühl, eine Ankündigung von Unheil. Etwas Böses, dabei Geheimnisvolles, lag in der Luft. Die Vorahnung des Todes, das muss es wohl gewesen sein, Herr Rosenthal. Natürlich verstehen Kinder das noch nicht. Nicht konkret jedenfalls, aber jede Kreatur spürt den Tod, wenn er ums Haus schleicht oder um die Städte. Schon Kinder haben dafür einen Instinkt. Und dieser Instinkt hat uns ja auch nicht getrogen.«

    »Ja, ja.« Rosenthal wusste immer noch nicht, worauf Vonderau hinauswollte. »Ich weiß das auch von meinen Verwandten, die 1938 noch aus Deutschland herausgekommen sind, gerade noch.«

    Frau Wittig oder Fittich stand plötzlich in der Tür. Sie sammelte das alte Geschirr ein und stellte frisch gefüllte Kaffeetassen auf Rosenthals Schreibtisch.

    »Ich gehe dann?«, fragte sie. Rosenthal hob seine Hand zum Einverständnis.

    »Und wissen Sie, wenn ich heute die Kommentatoren von NBC höre oder von Fox News, dann beschleicht mich wieder das gleiche beklemmende Gefühl wie damals, als mein Bruder und ich, noch im Nachthemd und von Bettzeug umgeben, auf dem Sofa saßen. Ich sehe dann das Gesicht meines Vaters im Profil. Er kaute an seinen Broten und sah starr geradeaus durch das Fenster unseres Wohnzimmers in die große Gärtnerei, die sich hinter dem Haus erstreckte, als erwarte er, dass sich das Unheil von dieser Seite nähern werde. Ich sehe das kleine, schmucklose Radio, einen einfachen schwarzen Kasten zur Verbreitung von Propaganda mit einem runden Schirm aus grauem Stoff und zwei Knöpfen, einen zur Senderauswahl und einen zur Regelung der Lautstärke, und ich höre das Stimmenstakkato der Kommentatoren. Die von Hass und Kriegsentschlossenheit triefenden Stimmen, die gleichen Worte und Sätze, immer wieder.«

    »Das können Sie doch nicht vergleichen!« Herr Rosenthal klang aufgebracht.

    »Es vergleicht sich von allein, ich vergleiche gar nichts. Es ist einfach meine Erinnerung. Die Bilder und Stimmen von damals, von heute. Die Parallelen, Herr Rosenthal, sind erschreckend.«

    Während er sprach, bemerkte Vonderau, dass Rosenthals Gesicht seinen liebenswürdigen, schläfrigen Ausdruck veränderte. Jetzt blickte er auf seine Armbanduhr und musterte Vonderau mit einer Mischung aus Nachsicht und Distanz. So wie ein Arzt einen Patienten beobachtet, der sich sträubt, seine Anweisungen zu befolgen.

    »Ich glaube«, Rosenthal schloss die vor ihm liegenden Akten, »wir sollten das Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufnehmen. Zu manchen Entscheidungen, die man treffen will, braucht man Zeit. Es treibt Sie doch niemand.«

    Vonderau nickte. Der Gedanke, dass man sich ein zweites und vielleicht sogar ein drittes Mal sehen würde, war ihm nicht unsympathisch. Er hatte nie Freude an Konfrontationen gehabt. Zeit aufzuwenden, um einer Auseinandersetzung aus dem Wege zu gehen, war für ihn immer der leichtere Weg gewesen. In seiner derzeitigen Verfassung fühlte er sich zu einem energischen Auftritt auch gar nicht im Stande. Außerdem erinnerte ihn irgendetwas in Aussehen und Sprechweise Rosenthals, der so gut Deutsch sprach, an jemand anderen. Während er versuchte, diese Erinnerung zu präzisieren, sagte ihm ein Gefühl, dass hier vielleicht ein Zusammenhang verborgen läge, der für ihn und für seine Entscheidung wichtig werden könnte.

    »Haben Sie einen Terminvorschlag für ein zweites Gespräch?«, fragte er Rosenthal.

    »Heute in einer Woche?«

    Vonderau schaute in seinen Taschenkalender, eine Angewohnheit aus der Zeit, in der er so fest in das Netzwerk beruflicher und menschlicher Beziehungen eingewoben war, dass er in seinem Kalender kaum einen freien, unbeschriebenen Streifen Papier entdecken konnte. Er wusste, dass auf den Seiten seines Kalenders nicht mehr viel stand. Die Tage ohne Eintragungen überwogen sogar. Dennoch studierte er seinen Kalender und blätterte hin und her, als müsste er seinem Gesprächspartner zeigen, dass er immer noch gefragt war und ihm immer noch nicht so viel freie Zeit zur Verfügung stand, wie er es sich in diesem Lebensabschnitt vielleicht gewünscht hatte.

    »Also, in einer Woche.«

    Vonderau hatte sich erhoben. Vor den Fenstern dämmerte es. Die Konturen des kleinen Parks traten noch klar hervor, aber das herbstliche Bild hatte seine Farben verloren.

    »Ich bringe Sie zum Fahrstuhl.« Herr Rosenthal trat aus seinem Büro und hielt seinem Gast die Tür auf. Jetzt, wo er seine offizielle Mission beendet hatte und das schöne Herbstwetter lobte − »endlich einmal«, sagte er und überließ es dem Besucher, diese Worte als Unzufriedenheit mit dem Frankfurter Klima zu verstehen −, verstärkte sich Vonderaus Eindruck noch, Rosenthal schon einmal begegnet zu sein. Das Nachdenken über diese Frage nahm ihn ganz in Anspruch, sodass er auf Rosenthals gut gelaunte Ausblicke auf das bevorstehende Wochenende, das er mit seiner Familie auf dem Land zu verbringen hoffte, nur einsilbig reagierte. Er drehte sich, als er im Fahrstuhl stand, noch einmal um und sah, wie Rosenthal die Hand hob, um ihm nachzuwinken.

    Ungewöhnlich, dachte Vonderau, dass ein Konsulatsbeamter sich so viel Mühe mit ihm geben wollte. Oder wusste Rosenthal etwas von ihm, was Vonderau in dieser Anwandlung einer Erinnerung nur spürte? Er trat auf die Straße hinaus, sog die kühle, feuchte Luft ein und nahm dabei den Geruch von moderndem Laub wahr, der ihm für diese Zeit und für diese Stadt immer als so typisch erschienen war. November, dachte er und nahm sich vor, seinen Freund Fred Califano anzurufen, um für das kommende Wochenende einen Flug in den Süden zu planen. Ein Wochenende in Südfrankreich könnte mir gut tun, dachte er und machte sich auf den Weg nach Hause.

    2

    »Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit!«, rief Mrs. McKee, drehte sich auf dem Absatz um und zeigte mit der linken Hand auf die drei Worte, die sie gerade an die Wandtafel geschrieben hatte. Sie strahlte ihre Klasse an, als seien diese Postulate just in diesem Augenblick zum Besitz der dreiundzwanzig Jungen und Mädchen geworden, die da vor ihr saßen. Da stand sie, wie immer voller Energie, mit blitzenden grünen Augen, die heftig mit ihrem roten Kostüm kontrastierten.

    »Wer kann mir sagen«, Mrs. McKee legte ihren linken Zeigefinger an die Nase, als denke sie angestrengt nach, »worin sich die Grundforderungen der französischen Verfassung von unserer Verfassung und der Unabhängigkeitserklärung unterscheiden?«

    Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Vor den Fenstern schien ein makellos blauer Himmel die leuchtenden gelben und roten Farbtöne der herbstlichen Vegetation zu beruhigen. Da nahm Mrs. McKee den Finger von der Nase, trat einen weiteren Schritt auf ihre Klasse zu und sagte: »Denkt an die Unabhängigkeitserklärung − an den zweiten Absatz.« Den hatte Mrs. McKee im Englischunterricht bereits durchgenommen.

    »Na, Henry?« Hinrich Vonderau war als Austauschschüler für ein Jahr an die Schule gekommen. Mrs. McKee nannte ihn Henry, alle nannten ihn Henry. Henry also stand auf und wurde rot.

    »Du musst hier nicht aufstehen, wenn du etwas sagst. Allerdings räkeln wir uns auch nicht so disziplinlos herum, wie so manche in dieser Gruppe es gerne tun. Jim Tenney zum Beispiel.« Mrs. McKee warf einen giftigen Blick auf einen dunkelhaarigen schlaksigen Jungen, der sich so weit in seinem Stuhl zurückgelehnt hatte, dass er fast zu liegen schien. Als er sich nun aufrichtete, war er plötzlich ein Sitzriese, der dem hinter ihm sitzenden Mädchen den Blick nach vorn versperrte.

    »Ich sehe nichts mehr!«, rief Elisabeth Browning.

    »Musst du auch nicht. Zuhören genügt.« Mrs. McKee wandte sich wieder an Henry, der sich inzwischen hingesetzt hatte.

    »Brüderlichkeit, das, was die Franzosen ›Fraternité‹ nennen, fehlt in der Unabhängigkeitserklärung.«

    »Ist das alles? Der ganze Unterschied?«

    »Das Streben nach Glück fehlt dagegen in Frankreich − The pursuit of happiness.«

    »So weit würde ich nicht gehen«, erwiderte Mrs. McKee. »In Frankreich streben die Menschen wohl genauso nach dem Glück, wie sie es hier tun?«

    »Oh ja«, flötete Elisabeth.

    Henry fing den Blick auf, den Elisabeth ihm hinter dem breiten Rücken von Jim Tenney zuwarf und errötete zum zweiten Mal. In Berlin hatte er ein Gymnasium für Jungen besucht. An Mädchen, die im Unterricht flirteten, musste er sich erst gewöhnen.

    »Ich meine, der Hinweis auf das Streben nach Glück findet sich in der französischen Verfassung nicht.«

    »Sehr gut, Henry, so wird ein Schuh draus.« Mrs. McKee ging wieder zur Wandtafel, zog mit einem Stück Kreide einen senkrechten Strich neben die zuvor untereinander geschriebenen drei Worte und schrieb auf die andere Seite der vertikalen Linie: Gleichheit, Leben, Freiheit und das Streben nach Glück.

    »Fehlt uns Amerikanern der Sinn für Brüderlichkeit?«

    Mrs. McKee ließ die grünen Augen über die Köpfe ihrer Schüler wandern. Zu einer zusammenhängenden Antwort wollte sich niemand aufraffen.

    »Na? Niemand?« Mrs. McKee spielte die Enttäuschte, obwohl sie eigentlich ganz froh darüber war, die Antwort selbst geben zu dürfen.

    »Natürlich kennen wir Brüderlichkeit, aber in einem anderen Sinn als die Franzosen oder die übrigen Europäer. Brüderlichkeit wird uns von unserer Religion nahe gelegt.« Sie schwieg und prüfte, ob sich nicht doch eine Hand hob. »Brüderlichkeit ergibt sich aus der Nächstenliebe – das hört ihr doch jeden Sonntag in der Kirche. Aber Fraternité bedeutet etwas anderes als Brüderlichkeit«, dozierte sie. »Nicht etwas völlig anderes, aber doch etwas anderes …«, sie hielt Ausschau nach einem ausgestreckten Arm.

    »Na, dann gebe ich euch einen Hinweis. Es gab den Adel, das Bürgertum und die Besitzlosen, hart arbeitende, vom Adel ausgenützte, fast rechtlose Menschen. Also?«

    »Schluss mit der Klassengesellschaft!«, rief Henry. Mrs. McKee nickte erfreut, sprach aber weiter. »Also Solidarität zwischen den Klassen.«

    Sie blieb plötzlich stehen. »Wie unterschied sich denn die Situation in Frankreich von den Verhältnissen bei uns, als Jefferson und seine Freunde die Unabhängigkeitserklärung verfassten? Henry, du kommst doch aus Europa. Wie war denn dort 1776 die Lage, als sich die Kolonien von England trennten?«

    Diesmal blieb Henry sitzen. Auch vermied er, in die Richtung von Elisabeth Browning zu schauen, die ihn vermutlich wieder aus dem Konzept bringen wollte.

    »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Wir haben in der Schule über diese Zeit nicht viel gehört. Aber darf ich sagen, wie ich mir die Situation vorstelle?«

    Mrs. McKee nickte und lächelte. Die Klasse schwieg. Dass ein Schüler eine Frage mit ›Ich weiß es nicht‹ beantwortete und dann doch zu einer längeren Antwort ansetzte, war neu. Mal sehen, was der jetzt von sich gab. Ganz blöd war er ja wohl nicht, sonst hätten sie ihn nicht ausgewählt für dieses Stipendium.

    »Ja.« Henry versuchte, Ordnung in seine Überlegungen zu bringen. »Ich stelle mir vor, dass die Leute hier das Leben unter der Kolonialherrschaft satt hatten. Sie waren hierhergekommen, weil es in England so ähnlich zuging wie vor der Revolution in Frankreich, weil es ebensolche Unterschiede zwischen dem Adel gab, der die Macht hatte, und den einfachen Leuten. Da waren sie nun, hatten ihr Leben riskiert, um hierherzukommen, und saßen in einem riesigen Land, das noch ganz wild und ursprünglich war und große Chancen bot, vielleicht sogar Reichtümer. Und trotzdem sollten sie immer noch so tun, als hätte dieser George«, er zögerte einen Augenblick, »der Dritte …?« Mrs. McKee nickte.

    »Ja, als seien sie immer noch Untertanen dieses Königs, als hätte dieser George drüben in England ihnen noch irgendetwas zu sagen.«

    Henry fand, dass er schon zu lange gesprochen hatte, denn er schwieg plötzlich, ließ seine Lehrerin aber nicht aus den Augen.

    »Ja? Sprich nur weiter.«

    »Ich finde, dieses ›pursuit of happiness‹ besagt, dass die damaligen Siedler den Anspruch erhoben, selbst ihr Glück zu machen, ohne König und ohne Obrigkeit, außer der, die sie selbst wählten für eine begrenzte Zeit.«

    »Und Brüderlichkeit?«

    »Die übten sie ja schon. Solidarität war von Anfang an eine Notwendigkeit gewesen, das mussten sie nicht extra in die Unabhängigkeitserklärung oder in die Verfassung schreiben.« Jetzt hatte Henry seine Ausführungen wirklich beendet. Er nickte noch einmal zur Bestätigung und lehnte sich zurück.

    »Henry, das war eine sehr gute Stellungnahme. Ich hätte gar nicht vermutet, dass du dich so gut in die Lage unserer Vorfahren versetzen kannst.«

    »Henry ist eben ein Mensch mit Einfühlungsvermögen!«, rief Elisabeth.

    »Wohin führt denn das Streben nach Glück?«, fragte Mrs. McKee.

    Einige Hände fuhren in die Höhe.

    »Tim.«

    »Wettbewerb.« Die Lehrerin nickte. »Richtig, wozu noch?«

    »Egoismus?«, fragte eine Mädchenstimme leise aus dem Hintergrund.

    »Ja, Carol, erklär das vielleicht ein wenig näher, wenn du dir das zutraust.«

    Carol strich sich mit beiden Händen ein paar braune Locken aus der Stirn und räusperte sich. Sie gehörte zu den Stillen der Klasse, obwohl sie hübsch war. Tim Henderson und Henry hatten sich einige Tage zuvor sogar darauf verständigt, dass sie das hübscheste Mädchen im ganzen Jahrgang war. »Sie hat keinen Freund«, hatte Tim angemerkt, als sie beim Lunch saßen, »vielleicht kannst du bei ihr landen?«

    Henry hatte sich geschmeichelt gefühlt, obwohl er zunächst keine Vorstellung davon hatte, wie er bei Carol landen könne. Er mochte das ruhige Mädchen, das von allen mit Respekt behandelt wurde, obwohl es sich nie vordrängte.

    »Ich habe mir überlegt, wohin das führt«, sagte Carol nun mit lauterer Stimme.

    »Ruhe«, mahnte Mrs. McKee, weil ein Teil der Klasse sich über andere Dinge unterhielt.

    »Wohin was führt?«, fragte die Lehrerin. »Sprich lauter, Carol, manche Leute in dieser Klasse haben schlechte Manieren.« Sie warf wieder ein paar giftige Blicke auf Jim Tenney und Elisabeth Browning.

    »Darf man auch nach dem eigenen Glück streben, wenn man damit das Glück anderer zerstört oder zumindest gefährdet?«

    »Nenn uns Beispiele.«

    »Darf man oder durften wir den Indianern das Land, das sie schon viel länger bewohnt hatten als wir und das sie zu ihrem Lebensunterhalt benötigten, wegnehmen, um unser eigenes Leben zu entfalten und Reichtum zu erwerben?«

    »Kannst du auch aktuellere Beispiele nennen?«

    »Viele«, antwortete Carol.

    »Ihr Vater ist Pastor an der lutherischen Kirche«, raunte Tim seinem Freund Henry vorsichtig zu, um bei Mrs. McKee keinen Anstoß zu erregen.

    »Na, denn mal los.«

    Carol räusperte sich. »Kann ein Unternehmer hohe Gewinne machen und seinen Arbeitern nur einen kleinen Lohn zahlen? Darf man eine schöne Landschaft, die doch allen gehört, mit Häusern zubauen, damit einige gut Betuchte dort wohnen können? Oder ganz einfach: Darf jemand in seinem Haus oder Garten so viel Lärm machen, dass seine Nachbarn belästigt werden?« Carol hatte sich ereifert. »Wir sind doch ein Volk von Egoisten, Mrs. McKee, unser Streben nach Glück ist immer das Streben nach unserem eigenen. Nie oder nur selten machen wir uns Sorgen um das Glück der anderen. Und das hat etwas mit unseren Anfängen zu tun. Dieses ›Streben nach Glück‹ war eine unglückselige Formulierung. Sie ist eigentlich eine Aufforderung zum Egoismus.«

    Die Klasse war unruhig geworden. »Ein Ausschnitt aus der Sonntagspredigt!«, rief Jim Tenney, und Elisabeth setzte die Reihe der Fragen, die Carol gestellt hatte, für einen kleinen Kreis von Zuhörern fort: »Darf ich meiner Freundin ihren Freund ausspannen, wenn ich doch weiß, dass ich sie damit kränke?«

    »Natürlich darfst du«, raunte Jim, der sich nach hinten lehnte, um von Elisabeth besser gehört zu werden. »Du bist einfach besser als die Freundin. Du bist überhaupt die Beste.«

    »Halt die Klappe.«

    »Ruhe!« Mrs. McKee verschaffte sich wieder Respekt. Sie klatschte in die Hände. »Ihr solltet über diese Fragen nachdenken und euch an der Diskussion beteiligen, denn irgendwann in nächster Zeit lasse ich euch eine Arbeit über dieses Thema schreiben. Und wer dann Mist abliefert, bekommt eine schlechte Zensur.«

    Der Lärm verebbte. Mrs. McKee lächelte wieder. »Carol hat schon Recht«, sagte sie, »die Freiheit, sein Glück zu suchen, ist ein hohes Gut, aber es kann auch zum Fluch werden. Henry!«

    »Ja?«

    »Was ist denn die Kehrseite der Fraternité? Gibt es da auch Konflikte?«

    Henry brauchte immer Zeit zum Nachdenken. Diese Lehrerin hatte eine unverblümte Art, schwierige Fragen zu stellen.

    »Na, was passiert denn, wenn man es mit der Brüderlichkeit übertreibt.«

    »Man teilt alles, was man hat«, rief eine piepsige Stimme aus der ersten Reihe. Sie gehörte Francesca Nelly, einem kleinen, dünnen Mädchen, das Minny genannt wurde.

    »Na und?«, ließ sich Carol aus dem Hintergrund vernehmen.

    Minny wandte sich um. »Ich meine«, rief sie nun mit etwas kreischender Stimme, »man kann es auch übertreiben. Alles gehört allen, wie bei den Kommunisten. Wollen wir denn das?« Sie hatte alarmiert geklungen, so, als stünde die Zwangsaufteilung ihres Besitzes unmittelbar bevor.

    »Henry?« Mrs. McKee ließ nicht locker.

    »Ich glaube, Minny hat Recht. Teilen ist gut, aber wer mit wem teilt und wie viel er teilt und was er behalten darf, muss gut überlegt sein. Fraternité bedeutet nicht, dass allen alles gehört.«

    »Passt auf!«, rief Mrs. McKee in die Klasse. »Dieser Junge kommt aus einer Stadt, die von einem kommunistischen Regime umgeben ist. Er weiß, wovon er spricht.«

    »Die Menschen haben es gut hier in Amerika, in Princeton.« Henry fühlte sich zu weiteren Äußerungen ermutigt. »Freiheit, nach dem eigenen Glück zu suchen, aber auch Gesetze, die dafür sorgen, dass dieses Streben nicht zu Ungerechtigkeiten führt. Jedenfalls nicht so oft. Keine zerstörten Städte, keine Russen im Land, keine Not, keine Diktatur. Jeder kann sagen, was er will. Es sollte so bleiben.«

    »Nein, Henry, es sollte noch besser werden, denn dass es noch an so manchem fehlt, wirst du schon noch merken, wenn du ein wenig länger hier bist. Aber wir sind auf gutem Wege. Wir und unsere Freunde, zu denen du nun auch gehörst.«

    Sie meint es wohl ehrlich, dachte Henry.

    Die Glocke schellte. Fürs Erste waren die Erörterungen über das Streben nach Glück und Brüderlichkeit beendet.

    »In der nächsten Stunde«, Mrs. McKee erhob ihre Stimme, um sich gegen den aufkommenden Lärm durchzusetzen, »werden wir über den Einfluss der amerikanischen und der Französischen Revolution auf das politische Leben in anderen Ländern sprechen.« Sie wandte sich zum Gehen. Dann sah sie sich noch einmal um, als sei ihr etwas eingefallen. »Elisabeth und Jim!«, rief sie, aber die beiden hatten sich bereits aus dem Staub gemacht.

    »Die sind schon weg«, meinte Tim und grinste: »Pursuit of happiness.«

    3

    Die Tage und Wochen hatten ihren eigenen Rhythmus in Princeton, das hatte Henry schnell herausgefunden. Fünf Tage lang dominierte die Schule. Der Unterricht begann um acht Uhr. Um elf gab es eine kurze Pause, dann ging es weiter bis eins. Von eins bis zwei traf man sich in der großen Cafeteria zum Mittagessen. Ab zwei Uhr begannen die sogenannten extracurricularen Aktivitäten, die zwar nicht zum Unterricht, wohl aber zur Ausbildung gehörten. Man konnte musizieren, malen, Theater spielen. Die meisten Schüler allerdings trieben nachmittags Sport, Football oder europäischen Fußball. Die Mädchen spielten Hockey. Wer wollte, schloss sich der Leichtathletik-Gruppe an. Der Sport begann um zwei Uhr, manchmal, wenn Freistunden eingeschoben wurden, in denen man seine Schulaufgaben machen oder lesen konnte, auch erst um drei. Um fünf Uhr war Schluss. Wer vom Sport kam, duschte, schlüpfte wieder in seine Kleider und machte sich auf den Heimweg. Viele bestiegen einen der gelben Schulbusse, die all ihre Insassen nach Hause brachten, einen nach dem anderen. Wenn man Pech hatte, dauerte es eine Stunde, bis der Bus schließlich vor dem Haus der Tillinghasts hielt. Aus diesem Grunde zog Henry es vor, bei schönem Wetter zu Fuß zu gehen.

    Zunächst hatte er den langen Schultag als Einengung empfunden. In Berlin hatte er viel mehr Zeit für sich selbst und seine Freunde gehabt. Jedenfalls kam es ihm so vor. Aber dieses Unbehagen verflog rasch. Alles verlief so entspannt. Man blieb auch nicht immer im selben Klassenraum sitzen, sondern wanderte zu jeder Stunde in ein anderes Zimmer, wo man auch anderen Gesichtern begegnete. Außerdem fand Henry es unterhaltsam, nach einer Englischstunde seine Bücher zu greifen, die breiten Gänge der Schule, die nur zwei Stockwerke, dafür aber lange, weit ausladende Flügel im neugotischen Tudorstil aufwies, entlangzuwandern. Wie auf einer breiten Straße, dachte er manchmal. Eine lose formierte Kolonne ging rechts, die andere kam einem links entgegen. Zwischendurch blieben kleine Gruppen stehen, um sich zu unterhalten, hin und wieder ein Pärchen, das sich an einem Fenster traf. Dort stand es nebeneinander, schaute nach draußen auf die Wiesen und versuchte in aller Eile, die Missverständnisse auszuräumen, die sich bei seinem letzten Date ergeben hatten, oder verabredete sich für das kommende Wochenende neu.

    Henry hatte es sich angewöhnt, einen Teil seiner Bücher in seinem Schließfach zu lassen, wenn er sie nicht brauchte. Dort lagen auch seine Fußballschuhe, die Trainingssachen und die Mannschaftskleidung: schwarze Hosen und ein blaues Jersey mit der Aufschrift ›Princeton‹ und der Nummer auf dem Rücken, die dem Trainer die Arbeit erleichterte. An den Schließfächern traf Henry auch Mitschüler oder Mitschülerinnen, mit denen er sich in den Pausen unterhalten konnte. Natürlich beobachteten sie ihn. Er war ja ein Fremder, kam aus Deutschland − »our former enemy«. Jim Tenney, der dunkelhaarige lange Schlaks, der es liebte, sich im Unterricht mit Elisabeth Browning zu kabbeln, hatte seinen Schrank gleich neben Henrys. Carol, die sanfte, nachdenkliche Tochter des Pfarrers, bewahrte ihre Schulsachen ein paar Türen weiter links von ihm auf.

    »Ich höre, du bist ein guter Rechtsaußen«, ließ sich Jim vernehmen, der seiner Größe wegen Basketball spielte. Er konnte den Ball ohne große Mühe von oben in den Korb werfen. »Wird auch Zeit, Henry, dieses Soccer-Team taugte bisher nichts. Jetzt kommen endlich ein paar verdammte Ausländer und zeigen denen, wie das gemacht wird. Nur weiter so, Mann, nur weiter so.« Damit knallte Jim die Tür seines Blechschranks zu, hängte sein Zahlenschloss ein und grinste: »Du und Rob McKinney, der Schotte. Die anderen kannst du vergessen.« Henry wollte bescheiden abwehren, aber Jim hatte keine Zeit zuzuhören, er musste weiter. Wenn er sich schlenkernd und schlurfend die Gänge entlang bewegte, konnte man ihn für körperlich behindert halten. Seine langen Beine und Arme waren ihm im Wege, und da er fast alle um einen Kopf überragte, musste Jim sich jedes Mal nach vorn oder zur Seite beugen, um seine Gesprächspartner besser zu verstehen, wodurch seine Koordination noch mehr durcheinandergeriet. Nur, wenn Jim auf dem Basketball-Platz den Ball vor sich hertrieb, trotz oder wegen seiner Länge die Abwehrspieler des gegnerischen Teams danebengreifen oder ins Leere laufen ließ und sich dann unter dem gegnerischen Korb streckte und emporschraubte, um den Ball mit einem kleinen Ruck von oben in den Korb zu werfen, schienen alle seine Glieder einer Harmonie zu gehorchen, die seinen Bewegungen sonst vollkommen abging.

    »He, Henry, you did okay in history class today. Hast den Nagel genau auf den Kopf getroffen. Die alte Ziege war ganz beeindruckt. Gut gemacht«, krähte eine fröhliche Stimme. Henry hatte gerade seinen Schrank verschlossen. Er drehte sich um und erblickte Tom Cardinale, der rasch an der Fensterseite des Ganges vorbeiging und ihm einen Gruß zuwinkte. Nur Carol, die ein paar Schranktüren weiter neben ihm stand, ließ sich ein wenig mehr Zeit. Carol, die Pfarrerstochter.

    »Wie geht es dir denn, Henry, hast du schon Freundschaften geschlossen?« Henry erzählte von seiner Gastfamilie, den Tillinghasts, von Victoria und den beiden Brüdern, von denen einer bereits aufs College ging. Jetzt stand Carol bei ihm und sah ihn an. Einen kleinen Stoß Bücher und Hefte hielt sie mit beiden Armen vor der Brust. Sie trug einen weinroten Pullover mit einem runden Ausschnitt und eine Bluse mit einem blütenweißen Kragen.

    Ich könnte sie jetzt eigentlich für den Samstagabend ins Kino einladen, dachte Henry, der in den wenigen Wochen, die er nun hier war, die Sitte des ›Datings‹ zwar kennen gelernt, aber noch nie praktiziert hatte. Er wäre gern einen ganzen Abend mit Carol zusammen, mit ihrem runden, freundlichen Gesicht, den großen braunen Augen, den Lippen, die immer zu einem Lächeln bereit schienen, mit dem leicht gewellten, kurz geschnittenen braunen Haar, mit ihrer Stimme. Ich mag sie, dachte Henry und fühlte, wie dieses Gefühl ihn innerlich löste und gleichzeitig anspannte.

    »Du, Carol, hättest du am Samstag …?«

    Sie unterbrach ihn. »Du bist vielleicht noch ein wenig einsam, kennst noch nicht so viele Leute?«

    Alle ihre Sätze klangen, als stellte sie eine Frage. »Meine Eltern haben gedacht, es wäre schön, wenn du mal zu uns kämst am Nachmittag zum Tee? Mein Vater würde sich gern mit dir unterhalten. Hättest du Lust am Samstag? Sagen wir um vier?«

    Henrys Geistesgegenwart ließ noch zu wünschen übrig. Er sagte einfach ja, ja gern, das sei sehr nett von ihren Eltern, und er wisse auch, wie er zu ihrem Haus komme, er gehe gern zu Fuß, nein, zu weit sei es nicht, nicht für einen Sportler wie ihn. Zwar bemerkte er, wie Carol bei diesen Worten ein wenig rot wurde und sich zu freuen schien, aber aus dieser Reaktion die richtige Konsequenz zu ziehen, fiel ihm nicht ein. Gehen wir dann anschließend noch ins Kino? Im Atlantis gibt es einen neuen Film, ›Born yesterday‹ heißt er, hast du den schon gesehen? Es wäre so leicht gewesen, aber er vergaß es einfach zu sagen. Erst, als Carol sich verabschiedete mit »So long, see you on Saturday«, wusste Henry, dass er wieder eine gute Gelegenheit verpasst hatte. Er wollte Carol noch nachrufen, aber da war sie bereits um die Ecke verschwunden. Und ihr nachlaufen wollte er nicht, lieber haderte er mit sich selbst.

    Seiner Pflegemutter, die er bei ihrem Vornamen Martha anreden durfte, erzählte er am Abend von der Einladung, wobei er mehrfach betonte, dass die Familie des Pfarrers ihn eingeladen habe und nicht seine Mitschülerin Carol.

    »Oh, das ist aber reizend von den Pfarrersleuten«, meinte Martha Tillinghast und bot Henry an, ihn am Samstag um vier Uhr zu den Prusiners zu fahren.

    Henry saß am Küchentisch, während Martha in irgendeinem Topf rührte. »Natürlich sind sie an dir auch als Mitglied der lutherischen Gemeinde interessiert«, sagte sie. »Bei uns«, sie meinte die Presbyterianer, denen die Familie Tillinghast angehörte, »bist du ja nur zu Gast.«

    »Ich hoffe, sie rechnen nicht damit, dass ich jeden Sonntag in diese lutherische Kirche gehe.« Henry war etwas beunruhigt.

    »Doch, doch, Junge. Natürlich rechnen sie damit. Ich habe dem Pfarrer auf seine Fragen hin erzählt, dass du evangelisch-lutherisch bist.«

    »Aber es bedeutet mir nichts oder wenig.« Martha lachte.

    »Dies ist ein freies Land«, sagte sie, »jeder kann machen, was er will. Du kannst in die Kirche gehen oder lange schlafen oder Sport treiben. Ganz, wie du willst.«

    »Cindy?« Martha rief nach ihrer Küchenhilfe und gab dem schwarzen Mädchen, das prompt erschien und sich mit »Yes, Ma’am« meldete, einige Hinweise. Dann wandte sie sich wieder Henry zu. »Aber du hast da ein Problem, scheint mir.« Sie setzte sich zu ihm an den Küchentisch. »Geht ihr zu Hause nie in die Kirche? Ich meine, alle zusammen am Sonntag?«

    »Nein.«

    »Fühlt ihr euch auch nicht als Christen?«

    »Nicht besonders.« Dann überlegte er. Die Weihnachtsabende fielen ihm ein. Seine Mutter hatte vor der Feier regelmäßig einen Gottesdienst besucht, und fast immer hatten er und sein jüngerer Bruder Dieter sich ihr angeschlossen. Ostern, natürlich die Osterkonzerte, die Passionsmusiken.

    »Doch, Christen sind wir wohl, meine Mutter und wir Brüder jedenfalls, aber keine Kirchgänger. Wir mögen die Kirche nicht besonders.«

    »Was hast du denn gegen die Kirche?«

    »Heuchelei, Unaufrichtigkeit, autoritäres Verhalten.«

    »So?« Martha lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und betrachtete ihren Gast.

    »Das sind schwere Vorwürfe.«

    »Ja.«

    »Und worauf beruhen sie?«

    »Erfahrungen.« Henry übte sich in Einsilbigkeit. Eine lakonische Sprechweise und Einsilbigkeit wirkten gut, fand er. Bei Humphrey Bogart jedenfalls hatte ihm dieses wortkarge Auftreten gefallen. Martha allerdings ließ sich davon nicht abschrecken.

    »Komm, Henry, mach den Mund auf. Was gefällt dir nicht?«

    Pastor Kramer fiel ihm ein. Der schwere, silberhaarige Mann mit dem ostfriesischen Tonfall und den breiten Händen, mit denen er nicht nur im Katechismus blätterte, sondern auch Ohrfeigen austeilte, hatte nicht nur Henry den Eintritt in die lutherische Kirchengemeinde verleidet.

    »Ich hatte einen Pastor, der den Kindern die Zehn Gebote mit allen lutherischen Erklärungen eingeprügelt hat. Buchstäblich. Wenn einer seine Sprüchlein nicht auswendig runterleiern konnte, gab es Ohrfeigen.«

    »Wirklich?«

    »Wenn ich es dir sage, Martha. Pastor Kramer hieß er, Wilhelm Kramer, stockdumm, würdevoll und jähzornig.«

    »Und wie hast du dich verhalten?«

    »Ich bin weggeblieben.«

    »Du bist nicht konfirmiert worden?« Henry schüttelte den Kopf.

    »Und deine Eltern?«

    »Die haben dem heiligen Mann einen Brief geschrieben und ihm mit einer Anzeige gedroht.«

    Martha stand auf und blickte in einige Töpfe, die auf dem Herd standen.

    »Na dann«, sagte sie, sprach aber nicht weiter. Henry erhob sich. Er steckte noch in seiner Schulkleidung, und zum Abendessen trug man bei den Tillinghasts ein sauberes Hemd und ein Jackett.

    »Geh trotzdem zu den Prusiners!«, rief sie Henry zu, bevor er die Küche verließ. »Es sind nette Leute, und Pastor Prusiner …« Der ist ganz anders, ergänzte Henry im Stillen, als er die Treppe zum ersten Stock emporstieg. Ja, der wird schon anders sein. Dennoch ärgerte er sich, dass er seine Einladung an Carol, mit ihm ins Kino zu gehen, nicht im richtigen Moment ausgesprochen hatte.

    Henry wollte sich nicht zu den Prusiners fahren lassen. Die ständigen Hilfestellungen seiner Gastfamilie nahmen ihm zu viel von seiner Selbstständigkeit. Also spazierte er am Samstagnachmittag die lange Einfahrt entlang, die vom Haus der Tillinghasts durch Wiesen und an einer Pferdekoppel vorbei zur Landstraße führte, und ging dann rasch nach Norden. Er wusste, dass diese Straße nach zwei Kilometern zur lutherischen Kirche führte und dass es von da nur noch wenige Schritte zum Pfarrhaus waren. Er ging auf der linken Straßenseite, um die entgegenkommenden Autos zu sehen und ihnen ausweichen zu können. Die Leute fuhren langsam. Wenn sie ihn bemerkten, hielten sie an, kurbelten ihre Scheiben hinunter und fragten, ob er mitfahren wolle.

    »Nein danke, ich muss in die andere Richtung.«

    Die sich von Süden zur Stadt hin bewegenden Fahrer bemerkten ihn ebenfalls. Einige von ihnen hielten auch an und stellten ihm die gleiche Frage.

    »Nein, danke, es ist nur ein kurzer Weg, die frische Luft tut mir gut.«

    Die evangelische Kirche, ein aus hellem Kalkstein errichteter Bau, lag auf einer kleinen Anhöhe. Gleich dahinter erkannte er das große, weiße, von hohen Bäumen umstandene Pfarrhaus, alles genauso, wie Carol es ihm beschrieben hatte.

    Carol, da stand sie auch schon auf der Veranda, die den vorderen Teil des Hauses umgab, und winkte. Eine ältere Frau mit einem roten Pullover stand neben ihr und winkte ebenfalls. Ihre Mutter? Henry näherte sich auf der mit buntem Herbstlaub bedeckten Zufahrt den beiden Frauen. Das Laub raschelte bei jedem Schritt. Es hatte lange nicht geregnet.

    »Das ist meine Mutter«, stellte Carol die Dame im roten Pullover vor. Sie sah ihrer Tochter ähnlich. Das gleiche runde Gesicht mit weit auseinanderstehenden braunen Augen, das kleine runde Kinn, die rosige Haut. Nur das Haar unterschied sich. Mrs. Prusiners Locken zeigten viele graue Strähnen, die mit dem noch dunkelbraunen Haar einen unruhigen Kontrast erzeugten. »Willkommen!«, rief sie und streckte Henry ihre Hand entgegen. »Ich bin Lisa Prusiner.« Sie bewegte sich sehr rasch und geschmeidig, sodass Henry sie eher für Carols ältere Schwester gehalten hätte, wenn sie ihm nicht als ihre Mutter vorgestellt worden wäre.

    »Dies ist Henry Vonderau. Er kommt aus Deutschland, aus Berlin«, erklärte Carol.

    »Wie interessant, wie aufregend! Komm rein, Henry, du musst uns viel erzählen«, rief Frau Prusiner und hielt ihm zuerst eine mit einem engmaschigen Fliegengitter bespannte Tür und danach die Haustür auf. Dahinter lag eine große Küche, in der sich das Leben der Familie Prusiner abzuspielen schien. Henry stolperte bereits beim Eintreten über einen am Boden liegenden Gegenstand und wäre hingefallen, wenn die flinke Frau Prusiner ihm nicht zu Hilfe gekommen wäre.

    »Das war dein Auto«, erklang eine Stimme vom Küchentisch.

    »Hast du’s kaputt gemacht?«, fragte eine andere, hellere Stimme, die zu einem blonden Jungen gehörte. Sechs Jahre alt mochte er sein, schätzte Henry, der besorgt nach seinem Spielzeug Ausschau hielt. Er nahm das Modellauto in die Hand und betrachtete es argwöhnisch von allen Seiten.

    »Hätte dir nicht geschadet, wenn es kaputt wäre.« Frau Prusiner schien an solche Vorfälle gewöhnt zu sein. »Wie oft habe ich dir gesagt, deine Sachen nicht überall herumliegen zu lassen, Philipp.«

    Philipp gab Henry die Hand. »Ich bin dir nicht böse«, beruhigte er ihn, »es ist alles okay.«

    Der größere Junge, der am Küchentisch saß, hieß Paul. Er wirkte untersetzt und kräftig. »Wie alt bist du, Paul?«, fragte Henry ihn, als sie sich begrüßten.

    »Vierzehn«, antwortete Paul, »aber ich spiele schon Football. Junior Varsity.«

    Ein Hund beschnupperte den Gast, ein schwarzer Labrador, vermutete Henry, jedenfalls etwas in dieser Richtung.

    »Ja, ein Labrador«, bestätigte Carol. »Er heißt Skip.«

    »Wir gehen nach nebenan ins Wohnzimmer«, entschied Mrs. Prusiner. »Amy?« Eine beleibte Schwarze, die zu ihrem schwarzen Kostüm ein weißes Häubchen und eine blütenweiße Schürze trug, stand plötzlich in der Küche.

    »Amy, wir hätten gern etwas Tee.« »Yes, Ma’am.«

    Im Wohnzimmer herrschte Ruhe. Allerdings verrieten herumliegende Spielsachen und Hockeyschläger, dass dies wohl eher ein Ausnahmezustand war. Frau Prusiner ignorierte die Unordnung und ging zu einem runden, von gepolsterten Stühlen umgebenen Tisch, der in einem hellen Erker stand.

    »Hier haben wir angebaut«, erklärte Carol.

    »Eine Art Wintergarten?« Henry erinnerte sich an den verglasten Balkon einer Wohnung, die seine Eltern früher einmal bewohnt hatten.

    »Wo ist der Vater?«, fragte Frau Prusiner ihre Tochter.

    »Vielleicht in seinem Studio?« Genau wusste es Carol nicht.

    »Ich will nachsehen, vielleicht hat er etwas Zeit für uns.« Frau Prusiner entfernte sich. Carol sagte: »Setz dich doch«, und ließ sich auf einem Stuhl Henry gegenüber nieder. Da waren sie nun wieder allein, und Henry überlegte, wie er Carol aus dieser Familienburg entfernen und in ein Kino verschleppen könnte. Er lächelte sie an. »Ein schönes Haus – und groß.«

    »Wir sind ja auch zu fünft.«

    »Zu fünft?«

    »Philipp, Paul, meine jüngere Schwester Cheryl, die jetzt zehn Jahre alt und ein Bruder, der schon im College ist. Ja und ich.«

    Henry nickte verständnisvoll, obwohl ihn diese Mitteilungen eher beunruhigten. Diese vielen Brüder und Schwestern würden seine Bemühungen um Carol nicht erleichtern.

    »Hast du danach noch Zeit?«, wollte er fragen. Aber da kam schon Amy mit dem Tee. Sie haben hier alle eine schwarze Hausangestellte, dachte Henry. Die Tillinghasts hatten sogar mehrere.

    »Warum haben die Leute hier alle schwarze Angestellte?«, fragte er Carol, nachdem Amy den Tee abgestellt hatte.

    »Sie sind billiger als die Weißen, denke ich.«

    »Wollen wir nachher noch ins Kino gehen?« Endlich hatte er sich getraut, aber da ging die Tür an der Breitseite des Wohnzimmers auf und herein trat ein hoch gewachsener, blonder Mann, den Henry eher für einen Holzfäller oder einen Landarbeiter gehalten hätte als für einen Pastor.

    »Welcome, my boy«, dröhnte er und trat auf Henry zu, um ihm die Hand zu drücken. »Willkommen«, wiederholte er dann auf Deutsch und fügte noch hinzu: »Ich bin in Deutschland gewesen lange vor die sweite Weltkrieg und habe da Theologie studiert in Tübingen. War eine sehr schöne Seit.«

    Es klang gar nicht schlecht, fand Henry und sagte es seinem Gastgeber. Der wollte nichts davon wissen. »Alles vergessen, aber wenn du kommst öfter, ich werde wieder lernen.« Damit war es genug und Bert Prusiner sprach wieder Englisch. »Nenn mich Bert«, wehrte er ab, als Henry ihn mit Pastor Prusiner anredete.

    »Wie geht’s in Deutschland?«

    Henry erzählte. Es würde wohl bald besser werden, auch in Berlin, jetzt, wo die Blockade vorbei sei und es in Deutschland wieder bergauf gehe.

    »Aber Berlin?«, fragte der Pastor. »Können wir es halten gegen die Russen?«

    »Ja, natürlich.« Also, das hatte er drauf. Die offizielle Zuversicht, nein, nicht nur die offizielle. Die meisten Berliner hatten ja den Mut nicht verloren.

    »Die Menschen stehen hinter den Amerikanern«, versicherte er dem Pastor. Er wusste, das klang ein wenig altklug, aber so war es schließlich.

    »Wir sind jetzt Freunde«, sagte der Pastor bedeutungsvoll und fuhr dann fort: »Wie gefällt es dir hier, Henry, wie findest du Amerika?«

    Auch das hatte Henry gelernt in den wenigen Wochen seines Aufenthalts. Auf eine allgemeine Frage, so allgemein, dass sie schon ein bisschen dumm war, durfte man ruhig genauso allgemein antworten und sich damit der gleichen Dummheit schuldig machen. Niemand nahm Anstoß daran.

    »Es gefällt mir«, antwortete er. »Ja, es ist einfach fantastisch.«

    »Hattest du noch nie Heimweh?« Frau Prusiner wollte Henry seine gute Laune nicht ganz abnehmen. »Noch nie? Keinen Augenblick?«

    Aber Henry blieb standhaft. »Alle sind so nett zu mir, entgegenkommend. Außerdem habe ich so viel zu tun. Ich hätte gar keine Zeit für Heimweh.«

    »So ist’s am besten.« Der Pastor schien von Henrys Antwort sehr befriedigt. »Wer sich einsetzt, hat gar keine Zeit für die Anwandlungen der Schwäche und des Zweifels. Das war auch immer meine Maxime. Darüber will ich auch morgen in meiner Sonntagspredigt sprechen. Willst du nicht kommen, Henry?«

    Mit einem solchen Überfall hatte Henry nicht gerechnet. Er hatte Marthas Hinweise wohl nicht ernst genug genommen.

    »Ich weiß nicht.« Er wollte ein wenig Zeit gewinnen. »Morgen ist eigentlich der Tag, an dem ich Briefe nach Hause schreibe und lese.«

    »Der Gottesdienst dauert nur neunzig Minuten. Lisa holt dich zu Hause ab und bringt dich wieder zurück. Du lernst viele nette Menschen kennen, sehr nette Leute, du wirst sehen. Ich kann dich im Gottesdienst vorstellen.«

    »Alle sind ein wenig neugierig«, ergänzte Lisa Prusiner. »Sie wollen doch wissen, wie die jungen Deutschen heute denken.«

    »Also gut, dann komme ich.« Henry, der Kirchenfeind, war überredet und fügte noch hinzu: »Vielen Dank für die Einladung.« Der Pastor und seine Frau schienen hoch erfreut, und Carol verstand, dass sich hier eine Chance für sie bot. Für sie und für Henry.

    »Henry würde mich heute Abend gern ins ›Atlantis‹ ausführen«, sagte sie.

    »Was wird gespielt?« Die Stimme des Pastors klang um eine Spur distanzierter.

    »Born yesterday.«

    »Guter Film, sehr amüsant. Hat einen guten Kern, dieser Film. Du wirst einiges über dieses Land erfahren, Henry.«

    »Wie kommt ihr hin?« Frau Prusiner interessierte sich für die praktische Seite.

    »Du kannst sie doch fahren«, schlug der Pastor vor und fragte dann seinerseits: »Und wie kommt ihr wieder nach Hause?«

    »Mit dem Bus, oder wir nehmen ein Taxi.« Carol sah da kein Problem.

    »Nicht später als zehn Uhr.« Der Pastor fixierte seine Tochter. Einen Augenblick lang war all seine Jovialität verflogen, doch dann lächelte Carol: »Wenn wir um sechs Uhr gehen, sind wir schon früher wieder zu Hause.«

    »Aber dann müsst ihr euch beeilen, ich hole den Wagen.« Frau Prusiner stand auf.

    »Und ich muss zurück an meine Predigt.« Der Pastor schüttelte Henry die Hand. »Ich freue mich auf morgen, Junge. Du wirst sehen, eine wunderbare Gemeinde.« Carol murmelte etwas und verschwand zusammen mit ihrem Vater nach draußen. Frau Prusiner holte den Wagen aus der Garage.

    Mit einem Mal war Henry allein. Er stand vor den großen Fenstern und sah hinaus in den bunten Garten, der in der Dämmerung schnell an Leuchtkraft verlor. Aus der Küche drang der Lärm der Brüder Philipp und Paul. Ein Lufthauch wehte einen zarten Duft an ihn heran. Er drehte sich um. Da stand Carol. Sie hatte sich umgezogen und trug nun ein blaues Strickkleid und kleine Ohrringe. Außerdem hatte sie, oder täuschte er sich, ihre Lippen mit einem Anflug von Rot versehen. »Ich bin so weit.«

    Sie gingen durch das Wohnzimmer, durchquerten die Küche, in der Amy sich am Herd zu schaffen machte, Paul etwas schrieb und Philipp auf dem Boden mit Spielzeugautos herumrangierte. »Wiedersehen«, rief Carol. Henry winkte zum Abschied.

    »Viel Spaß, have fun«, antwortete Paul. Philipp nahm keine Notiz von ihnen.

    Draußen wartete Frau Prusiner in einem alten Chrysler. Sie passten zu dritt auf die vordere Bank, Carol flankiert von ihrer Mutter am Steuer und von Henry,

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