Gestaltungsprinzipien für soziale Handlungsräume: Räumliche Konfliktprävention in der stationären Altenhilfe
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Diese Publikation fokussiert den Raum als Komplementärstruktur konflikthafter Verhaltensweisen und zeigt Möglichkeiten auf, dem entgegenzuwirken. Im Mittelpunkt stehen soziale Handlungsräume, in denen Privatheit gelebt, Gemeinschaft gefördert, Begegnung ermöglicht und Gesellschaft erlebt werden kann. Räume, die den Menschen gerecht werden. Der erste Teil der Publikation fokussiert zentrale Inhalte und verdichtet sie zu Grundsätzen. Im zweiten Teil werden acht Gestaltungsprinzipien beschrieben und Interpretationsspielräume aufgezeigt. Um Denkräume zu öffnen, werden im dritten Teil weitere Blickwinkel aufgenommen.
Der Autor Andreas Wörndl definiert den Wert der Privatheit, des Wohnens und den Maßstab häuslicher Proportionen, skizziert soziales Distanzverhalten, beschreibt soziale Distanzzonen und beschreitet einen Weg zwischen theoriegeleiteten Ansätzen und praxisnahen Beispielen.
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Gestaltungsprinzipien für soziale Handlungsräume - Andreas Wörndl
Teil I – Einführendes
1Einführendes
1.1 Stationäre Pflege und Betreuung in Niederösterreich
Als soziale Verantwortung gegenüber jenen, die durch ihre Lebensumstände nicht oder vorübergehend nicht in ihrer gewohnten Umgebung leben können, stellt sich die stationäre Pflege und Betreuung in den Dienst der niederösterreichischen Bevölkerung. Landesweit werden unter Berücksichtigung laufend durchgeführter Evaluierungen Anpassungen an das Leistungsspektrum vorgenommen und innovative Weichen gestellt. Auf Basis von soliden wissenschaftlichen Daten und Prognosen, die in regelmäßigen Abständen durch einen Bedarfs- und Entwicklungsplan, den sogenannten Altersalmanach, angepasst werden, reagiert die Sozialplanung und Steuerung des Landes Niederösterreich auf Veränderungen der Altersstruktur oder auf besondere Ereignisse.
Das Land Niederösterreich bietet ein vielfältiges Pflege- und Betreuungsangebot. Die stationäre Versorgung wird durch soziale und sozialmedizinische Pflegedienste, Beratungseinrichtungen und durch die 24-Stunden-Betreuung ergänzt. Menschen, die sich auf Grund physischer, psychischer oder kognitiver Einschränkungen für einen stationären Aufenthalt in einer Pflege- und Betreuungseinrichtung entscheiden, erhalten entsprechend ihrer Bedürfnisse Hilfe, Betreuung oder Pflege. In vielen Einrichtungen arbeiten multiprofessionelle Teams nach den Grundsätzen der personzentrierten Pflege und Betreuung. Der Schwerpunkt liegt auf einer selbstbestimmten und eigenverantwortlich gestaltbaren Lebensführung, die gemeinsam mit der Einbindung der An- und Zugehörigen Unterstützung findet. Das Pflege- und Betreuungsspektrum reicht von der Langzeit-, Tages- und
IllustrationAbbildung 1: Bevölkerungsstruktur in Niederösterreich 2019 nach Geschlecht und Alter (Quelle: eigene Darstellung, Datengrundlage: Land NÖ, 2020, p. 9)
IllustrationAbbildung 2: Sozialhilfe-Ausgaben des Landes NÖ 2019 nach Aufgabenbereichen (Quelle: eigene Darstellung, Datengrundlage: Land NÖ, 2020, p. 29 f.)
Kurzzeitpflege über Sonderformen, wie beispielsweise Schwerst-, Hospiz- oder Palliativpflege, bis hin zu psychosozialen und gerontopsychiatrischen Betreuungsformen an ausgewählten Standorten. Die Übergangspflege ist ein Angebot an Menschen, die nach einer medizinischen Akutversorgung rehabilitative Unterstützung benötigen. Diese Unterstützungsleistung wird innerhalb eines Jahres bis zu 12 Wochen gewährt. Menschen mit Demenz erhalten spezielle Angebote. Der Schwerpunkt liegt auf der validierenden Pflege. Im Vordergrund steht der Aspekt eines lebensunterstützenden Umfeldes (Land NÖ, 2020).
Niederösterreich ist das flächengrößte Bundesland in Österreich. Mit einer Bevölkerungszahl von rund 1,68 Millionen Personen wächst Niederösterreich nach der Bundeshauptstadt Wien am zweitstärksten. 26,5 Prozent der Wohnbevölkerung sind über 60 Jahre alt (vgl. Land NÖ, 2020, p. 9). Für Menschen mit stationärem Pflegeund Betreuungsbedarf stehen insgesamt 9.359 Plätze (vgl. Land NÖ, 2020, p. 45) zur Verfügung, in denen im Jahr 2019 13.320 Menschen im Jahr 2019 (vgl. BMSGPK, 2020, p. 170) betreut wurden. Von den 894 im Bericht des Rechnungshofes „Pflege in Österreich" erwähnten stationären Pflege- und Betreuungseinrichtungen befinden sich 106 Standorte in Niederösterreich (vgl. Rechnungshof Österreich, 2020, p. 31).
Das Sozialhilfebudget des Landes NÖ umfasst Maßnahmen und Leistungen nach dem NÖ Sozialhilfegesetz 2000. Mit etwa 1,04 Mrd. EUR brutto beträgt der Anteil der Sozialhilfeausgaben rund 9 % am Gesamtbudget. Mit der stationären Pflege und Betreuung (42,6 %), den ambulanten Diensten (10,8 %) und der 24-Stunden-Betreuung (4,1 %) nimmt die „Hilfe für alte Menschen" mit 57,5 % den größten Teil des Sozialhilfebudgets in Anspruch. Der Anteil der stationären Versorgung beträgt nach Rechnungsabschluss 2019 rund 444 Mio. EUR (vgl. Land NÖ, 2020, p. 29 f.). Insgesamt erhalten in Niederösterreich per Stichtag 31.12.2019 92.935 anspruchsberechtigte Personen Pflegegeld, 62,5 % Frauen und 37,5 % Männer (vgl. BMSGPK, 2020, p. 132).
IllustrationAbbildung 3: Stationäre Pflege- und Betreuungseinrichtungen in Österreich 2020 (Quelle: eigene Darstellung, Datengrundlage: Rechnungshof Österreich, 2020, p. 31)
IllustrationAbbildung 4: Leistungserbringende nach Rechtsträgerschaft in Österreich 2020 (Quelle: eigene Darstellung, Datengrundlage: Rechnungshof Österreich, 2020, p. 31)
Die Leistungserbringung im Bereich der stationären Pflege und Betreuung erfolgt in den Bundesländern auf unterschiedliche Weise und in den meisten Fällen durch verschiedene Rechtsträgerschaften (Länder, Fonds, Sozialhilfeverbände, Gemeinden, private Betreiber). Von den für Niederösterreich genannten 106 Pflege- und Betreuungseinrichtungen werden 48 Einrichtungen durch das Land, 3 von Gemeinden und 55 von privaten Anbietern1 getragen (vgl. Rechnungshof Österreich, 2020, p. 31).
IllustrationAbbildung 5: Entwicklung stationäre Pflegeplätze in Niederösterreich 2010 bis 2019 gesamt (Quelle: eigene Darstellung, Datengrundlage: Land NÖ, 2020, p. 45)
IllustrationAbbildung 6: Entwicklung stationäre Pflegeplätze in Niederösterreich 2010 bis 2019 öffentlich/privat (Quelle: eigene Darstellung, Datengrundlage: Land NÖ, 2020, p. 45)
Ein wichtiger Teil des sozialen Netzwerks in Niederösterreich sind die NÖ Pflege- und Betreuungszentren. Mit 48 Standorten, 5.874 Pflege- und Betreuungsplätzen und 3.937,5 Dienstposten (= Vollzeitäquivalenten), die durch 1.640 ehrenamtlich tätige Personen begleitet und unterstützt werden, ist das Land Niederösterreich der größte Anbieter im stationären Segment. Vertraglich abgesicherte Pflege- und Betreuungsplätze stehen sowohl in NÖ Pflege- und Betreuungszentren als auch in privaten Einrichtungen Personen mit Sozialhilfeanspruch zur Verfügung (vgl. Land NÖ, 2020, p. 49).
1.2 Bauliche Infrastruktur
Gesamtheitlich betrachtet zeigt die bauliche Infrastruktur der stationären Altenhilfe in Niederösterreich vielschichtige Erscheinungsbilder und Ausdrucksformen mit generationstypologisch2 geprägten Merkmalen. Alle Einrichtungen stehen im Zeichen von Diversität und einer individualisierten Gesellschaft vor der Herausforderung, sowohl den Bewohnerinnen und Bewohnern als auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein zeitgemäßes Wohn- bzw. Arbeitsumfeld zu bieten. Die baulichen Strukturen werden laufend evaluiert und konsequent an räumliche und organisatorische Bedarfe herangeführt. Der Wandlungsprozess – weg von der Institution, hin zu einem Leben in Privatheit – wird weiter forciert. Die Implementierung zeitgemäßer Pflege- und Betreuungskonzepte führt in der Regel zu Veränderungen in den bestehenden Gebäudefunktionen. Anpassungen sind durch bauliche Maßnahmen zwar möglich, in der Praxis und unter Berücksichtigung betrieblicher Prozesse aber oft schwer durchzuführen und mit erheblichen Aufwendungen und logistischen Herausforderungen verknüpft. Baulich und organisatorisch inhomogene Strukturen wirken sich nicht nur auf das Wohlbefinden und Verhalten der Bewohnerinnen und Bewohner aus, sondern auch auf die Arbeitszufriedenheit des Pflegepersonals. Das räumliche Umfeld ist eng mit den Anforderungen aus der Pflege verbunden. Neue Konzepte folgen nicht nur pflegewissenschaftlichen Grundsätzen und praxisnahen Erkenntnissen, sie sind zunehmend unter räumlichen Gesichtspunkten zu betrachten. Angesichts dieses Umstandes sowie des Forschungsinteresses werden wir zunächst versuchen, mögliche Problemlagen in der stationären Pflege und Betreuung zu identifizieren.
1.3 Problemanalyse
Problemlagen in der stationären Altenhilfe stützen sich auf eine multidimensionale Misere, die auf Grund eines Impulses/Auslösers, wie beispielsweise eines Umzugs in eine institutionelle Wohnform, ein defizitäres Bild bei den Betroffenen verursachen kann. Wir gehen davon aus, dass diese Mehrschichtigkeit sowohl auf verhaltensgebundenen Dimensionen (Verlust der Privatsphäre, Verlust sozialer Beziehungen und gewohnter Rituale, Rückzug aus der sozialen Interaktion, soziale Beengungssituationen, Verlust der Ortsidentität usw.) als auch auf raumgebundenen Dimensionen (Verlust der vertraut-häuslichen Umgebung, Verlust territorialer Raumbindungen, Verlust der individuellen Gestaltungsfreiheit, räumliche Beengungssituationen, Verlust der Ortsbindung usw.) beruht. Beide Perspektiven stehen in einer wechselseitigen Wirkung zueinander, die uns die Mensch-Raum-Beziehung verdeutlicht. Bevor wir uns dieser Beziehung widmen, wollen wir auf die Herausforderungen, die ein Umzug in eine Pflege- und Betreuungseinrichtung mit sich bringen kann, eingehen. Die Problemlagen werden vorrangig aus Sicht der Bewohnerinnen und Bewohner vorgenommen. Auf die Perspektive der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wird an dieser Stelle nicht näher eingegangen.
Ein Umzug in ein institutionelles Umfeld konfrontiert Betroffene mit dem Verlust grundlegender emotionaler und territorialer Bindungen3. Die vertraut-häusliche und soziale Umgebung wird verlassen, die neue Umgebung wirkt fremd. Der Verlust an Individualität, Privatsphäre und Selbstbestimmung führt – verbunden mit räumlichen und sozialen Beengungssituationen – zu unterschiedlichen Ausprägungen sozialer Konflikte. Territoriale Bedürfnisse, individuelle Privatheitsvorstellungen, soziale und räumliche Gefüge beeinflussen das zwischenmenschliche Handeln in der Institution. Verletzungen des privaten und intimen Raums führen vielfach zu Stress. Stress zu Aggressions- und Gewaltverhalten, Ruhelosigkeit und zum Rückzug aus der sozialen Interaktion. Pflegehandlungen sind besonders sensible Interaktionen, die in intime Distanzzonen eingreifen und bei unklarer Kommunikation zwischen den Beteiligten zu konflikthaften Situationen führen können. Im hybriden Geflecht der Institution entsteht ein Potenzial, das Verhalten formt. Neben sozialen Konflikten kommt es zu Angst, Orientierungslosigkeit und Unsicherheit und daraus folgend zu einem Mehraufwand in der Pflege und Betreuung. Insgesamt können wir von einer multidimensionalen Problemlage ausgehen, die sich im Wesentlichen auf Verhaltensweisen der Individuen zurückführen lässt. Neben dem Verhalten ist das räumliche Umfeld eine weitere Dimension, die eine bedeutende Rolle übernimmt. Soziale Interaktionen finden in Räumen statt. Insofern können wir die Annahme treffen, dass wir durch die räumliche Umgebung Einfluss darauf nehmen können, wie sich unser Zusammenleben gestaltet. Durch geeignete Interventionen kann Raum als Komplementärstruktur hilfreich sein.
IllustrationAbbildung 7: Ablaufdiagramm Problemanalyse (Quelle: eigene Darstellung)
1.4 Annäherungen
Die diskutierten Problemlagen werden in weiterer Folge durch theoriegeleitete Ansätze verfestigt und in eine themenfokussierte Argumentation eingebettet. Insofern können wir die nachfolgenden Annäherungen als maßgeblich betrachten.
Territorien als Voraussetzung für Autonomie, Selbstbestimmtheit und Individualität
Das Verlassen der häuslichen Umgebung, der Entzug von Territorien (Lyman & Scott, 1967; Altman, 1970) und der Verlust von Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten (Welter, 1997; Sowinski, 2005; Radzey, 2014) auf die unmittelbare räumliche und soziale Umgebung kann in Zusammenhang mit einer verdichteten Alltagsrealität, wie am Beispiel stationärer Pflege- und Betreuungseinrichtungen deutlich wird, entweder zu sozialen Konflikten (Glasl, 2013) oder zur völligen sozialen Isolation und zum Rückzug aus der Gemeinschaft (Michell-Auli & Sowinski, 2013) führen. Territorien, der Einfluss interpersoneller Distanzen (Hall, 1966, 1976) sowie individuelle Privatheitsvorstellungen (Westin, 1970; Pastalan, 1970; Altman, 1975) manifestieren sich als identitätsbildende Strukturen (Flade, 2008) und schaffen die Voraussetzung für selbstbestimmtes Handeln. Die Entwicklung der individuellen Identität lässt sich unter anderem darauf zurückführen, wie und in welcher Art und Weise und Intensität Kontrolle (Altman, 1975) auf ein begrenztes und klar definiertes Territorium ausgeübt werden kann. In diesem Zusammenhang wird der Begriff des Wohnens genannt, der als Teil der Wesensbestimmung des Menschen (Bollnow, 2010) beschrieben wird.
Privatheit als Voraussetzung für Kontaktbereitschaft
Der Verlust sowie Verletzungen der Privatsphäre haben gravierende Auswirkungen auf gewohnte Rituale und persönliche Lebensgewohnheiten. Eine selbstbestimmte Lebensführung ist auch innerhalb institutioneller Strukturen essentiell und regelt das soziale Miteinander. Das Wesen von Privatheit ist Kontrolle, so die Privatheitstheoretiker der 1970er Jahre (Altman, 1975; Westin, 1970; Pastalan, 1970), Kontrolle darüber, wann, wie und in welchem Umfang persönliche Informationen öffentlich werden. Privatheit ist ein Prozess zwischen „für sich allein sein und „mit anderen gemeinsam sein
, daher braucht Privatheit ein ausgewogenes Verhältnis (Hellbrück & Fischer, 1999). Zu viel an Privatheit führt zu Vereinsamung, zu wenig zu Beengtheit (Altman, 1975). Der Verlust von Kontrolle über den eigenen Wirkungsbereich führt zu Konsequenzen im Zusammensein. Die Sicherstellung individueller Privatheitsansprüche ist in Verbindung mit territorialen Abgrenzungen die Voraussetzung für Kontaktbereitschaft und soziale Interaktion. Wohnen ist eine Möglichkeit, Privatheit zu erreichen (Flade, 2008). Daraus lässt sich erahnen, dass eine häusliche Wohnumgebung dem individuellen Privatheitsgedanken äußerst nahe kommt.
Konflikte, Aggression und Gewalt als Folge sozialer Verdichtung und räumlicher Enge
Die Missachtung der Privatsphäre, Verletzung von Territorien sowie der Verlust der Kontrolle über den persönlichen Wirkungsbereich stellen die Ursachen für soziale Konflikte (Glasl, 2013) dar. Konflikte treten in unterschiedlichen Ausprägungen auf, können entweder gegen sich selbst, gegen andere oder gegen die physische Umgebung gerichtet sein. Aggressionen und Gewalt in der Pflege (Zeh et al., 2009; Osterbrink & Andratsch, 2015) sind ursächlich auf die Tatsache zurückzuführen, dass zwischen den handelnden Personen sensible Interaktionen stattfinden. Soziale Konflikte stellen in der Regel eine ungünstige Ausgangslage für ein alltagstaugliches Miteinander dar. Institutionelle Strukturen lösen räumliche und soziale Dichteverhältnisse aus. Dieser Zustand führt zu Beengungssituationen, dem sogenannten Crowding (Schultz-Gambard, 1990; Hellbrück & Fischer, 1999; Hellbrück & Kals, 2012; Schönborn & Schumann, 2013). Beengungsgefühle rufen schädigende Wirkungen auf körperliche und seelische Prozesse hervor. Besonders betroffen sind Personengruppen mit eingeschränkten Handlungsalternativen, wie beispielsweise Kinder und alte Menschen (Schultz-Gambard, 1990). Beide Personengruppen werden im Anlass- bzw. Bedarfsfall institutionell betreut, sind also potenziell Betroffene.
Wohnen als emotionale und atmosphärische Wirkungsebene
Das Verlassen der häuslichen Lebensumgebung sowie der Verlust der emotionalen und auf Erinnerungen aufgebauten Raumbindung (Feddersen, 2014) führen zu Unruhezuständen, zu Orientierungslosigkeit (Kaiser, 2012) und im schlechtesten Fall zum Rückzug aus der Gemeinschaft (Michell-Auli & Sowinski, 2013). Ein häuslicher Maßstab ist im Kontext institutionell vorherrschender Rahmenbedingungen oft schwer umsetzbar. Das Wohnen steht im Spannungsfeld zwischen den individuellen Privatheitsansprüchen der Individuen und den Anforderungen der Institution (Radzey, 2014). Der Wohnbegriff steht in direkter Verbindung mit der Identitätsbildung des Menschen (Flade, 2008), mit der Erfüllung des Lebens (Bollnow, 2010) und mit Lebensqualität (Michell-Auli & Sowinski, 2013) im Allgemeinen. Wohnen ist verbunden mit sozialer Gerechtigkeit ein anerkanntes Grundbedürfnis und ein Symbol für Wohlstand und gesellschaftliche Anerkennung. Die Wohnraumgestaltung für ältere Menschen erfordert eine den individuellen Bedürfnissen abgestimmte und alltagsunterstützende räumliche Umgebung. Unter Berücksichtigung altersbedingter Mobilitätseinschränkungen sowie fortschreitender Veränderungen der Sinne müssen wir darauf achten, dass eine den Lebensumständen entsprechende Gestaltung ermöglicht wird und eine Form der Mitgestaltung und Miteinbeziehung (Welter, 1997) gefunden wird. Wohnen ist also die Grundlage für menschliches Handeln und ein Maßstab für häusliche Qualität.
1.5 Zielsetzung
Menschen reagieren auf ihre Umgebung mit ihrem Verhalten. Dieses Verhalten kann auf mehreren Ursachen beruhen und unterschiedliche Ausprägungen hervorbringen, manche davon sind konflikthaft geprägt. Raum ist ein Medium, das Verhalten beeinflusst und formt. Gerade im institutionellen Wohnen müssen wir auf Basis unterschiedlicher Interessenlagen auf diese Wirkung Bezug nehmen und darauf reagieren, wie wir dieses Potenzial in die Institution integrieren. Insofern besteht das Interesse, die Frage zu klären, ob Raum in konflikthaften Situationen präventiv wirksam werden kann und welche Gestaltungsentscheidungen dazu führen, diesen Zustand zu erreichen. Das Ziel besteht darin, Handlungsempfehlungen zu generieren und diese in Form von Gestaltungsprinzipien zu dokumentieren.
1.6 Methodisches Vorgehen
Der Fokus des wissenschaftlichen Interesses liegt auf der Generierung von Handlungsempfehlungen, wobei die wissenschaftstheoretischen Grundlagen und Aufgaben darauf aufbauen, dass die Ergebnisse im Sinne von neuen Erkenntnisgewinnen und weiterer Gestaltung bearbeitet werden. Ziel ist es, anschlussfähige Botschaften zu generieren sowie Forschungsergebnisse und Erfahrungen weiterzugeben (Berger-Grabner, 2013). Die zentralen Ergebnisse basieren zum einen auf einer breitgefächerten, strukturierten und theoriegeleiteten Recherche, die aus der Gesamtheit des Materials zentrale Inhalte reduziert und hypothesenartige Grundsätze verdichtet, zum anderen fließen Erkenntnisse qualitativ erhobener Daten in den zentralen Verdichtungsprozess mit ein. Insgesamt stellt sich ein, dass wir in Summe komplexe Themenlagen erörtern, die wir nicht unabhängig voneinander betrachten können, da diese in einer wechselseitigen Beziehung zueinander stehen. Die theoriegeleitete Recherche bildet die Basis der empirischen Untersuchung. Hypothesenartige Grundsätze führen zu einer prozesshaften Auseinandersetzung und zur inhaltlichen Gestaltung des weiteren Forschungsdesigns. Aufbauend auf den Erläuterungen dieser Grundsätze werden Kategorien gebildet, die als Teil eines Kategoriensystems in den Analysetechniken der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) Anwendung finden.
Der gesamte und vollständige Prozess wird an dieser Stelle nicht näher im Detail verfolgt, dieser ist in der wissenschaftlichen Arbeit: Territorien, Konflikte und Raum (Wörndl, 2018) vertieft beschrieben, dennoch werden die Grundlagen des Vorgehens wie folgt zusammengefasst.
Theoriegeleitete Grundlagen
Die inhaltliche Zusammenfassung der Literaturrecherche lässt uns wiederholt erkennen, dass der Raum als konkrete physische Ausdehnung eine verhaltensverändernde Größe darstellt und auf das Aggressions- und Gewaltverhalten institutioneller Lebensgemeinschaften Wirkung zeigt. Ein Teil dieser Untersuchung bringt Aufschlüsse darüber, wie das Verhalten der Menschen im Raum auf die unterschiedlichen Privatheitsvorstellungen der Individuen reagiert. Soziale und strukturelle Konfliktbegriffe und deren Auswirkungen auf den Pflegealltag sind ebenso Teil der Diskussion wie der Raumbegriff selbst, den wir auf Basis eines emotional atmosphärischen Zugangs erörtern wollen. Rückschlüsse zeigen, wie häusliche Kleinteiligkeit, der Mensch als Maßstab des Raumes und das mitgebrachte Raumempfinden in ein institutionelles Umfeld integriert werden können. Neben diesen Gesichtspunkten sind die individuelle Gestaltungsfreiheit und die Miteinbeziehung Betroffener in gestalterische Prozesse weitere Kriterien der räumlichen Konfliktprävention.
Qualitative Inhaltsanalyse
Der Auswertung qualitativer Daten wird in den Wissenschaften häufig gegenüber quantitativen Verfahren ein geringer wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn zugesprochen. Die Kritik besteht darin, dass die Ergebnisse nicht überprüfbar und nachvollziehbar seien. Eine Möglichkeit bietet – wie auch die Grounded-Theory-Methodology – die qualitative Inhaltsanalyse (Mayring, 2015), die in Hinblick auf den Erkenntnisgewinn auf einer theorie- und regelgeleiteten und methodisch kontrollierten Auswertung qualitativer Daten beruht. Die Grundlage der qualitativen Inhaltsanalyse bildet Textmaterial, das durch qualitative Interviews erhoben wird. Als Voraussetzung für die Datenanalyse gilt, dass qualitative Daten in verschriftlichter Form zur Verfügung stehen müssen. Die qualitative Inhaltsanalyse beruht auf einem systematischen, regel- und theoriegeleiteten Vorgehen. Dieses Verfahren ermöglicht Kombinationen aus qualitativen und quantitativen Verfahren und schafft darüber hinaus anschlussfähige Verbindungen. In den Abhandlungen Mayrings finden wir Hinweise darauf, dass die qualitative Inhaltsanalyse keine statische Technik ist, sondern eine flexible Herangehensweise erlaubt, die an den konkreten Gegenstand der Analyse angepasst werden kann. Die Generierung des Datenmaterials erfolgt durch die Befragung von Expertinnen und Experten in Form von Interviews (Bogner et al., 2014). Die Auswahl der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner, die in unterschiedlichen Bereichen und Netzwerken der Pflege und Betreuung tätig sind und mehrdimensionale Sichtweisen mitbringen, erfolgte auf Basis ihrer beruflichen Herkunftsdisziplin.
Leitfadengestütztes qualitatives Interview mit Expertinnen und Experten
Das Interview mit Expertinnen und Experten ist in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen als Forschungsinstrument von großer Bedeutung. Nachdem sich strukturanalytische Ansätze der 1960er Jahre aus dem sozialwissenschaftlichen Fokus zurückgezogen haben, wurde die Forschung konkreter Lebenswelten Anfang der 2000er Jahre ausgebaut. Dabei wurde die Expertin/der Experte als mehrdimensionale Möglichkeit begriffen, um Informationen zu gewinnen. Die methodologische und methodische Diskussion wird nach wie vor von der Frage begleitet, wer ist als Expertin/Experte geeignet und wer nicht und wer entscheidet über die Qualifikation einer Expertin/eines Experten. Bogner et al. (2014) beschreiben das Expertentum als praxisbezogene Zuschreibung, das heißt, die personenbezogenen Fähigkeiten sind keine Tatsache zur Kriterienerfüllung, sondern das spezifizierte Forschungsinteresse befähigt zur Expertise. Um Fachwissen zu erschließen, muss danach gefragt werden. Die Durchführung der Interviews erfolgt anhand eines strukturierten Leitfadens.
Interviewleitfaden
Als Basis der Interviewführung dient ein Interviewleitfaden. Für die Gestaltung des Interviewleitfadens integrieren wir die in der Literaturrecherche gewonnenen Kategorien und bündeln diese in vier Themenblöcke. Die Themenblöcke dienen einer strukturierten Gesprächsführung und beschreiben als Auswertungseinheit den Analyseumfang der qualitativen Inhaltsanalyse. Der Leitfaden dient im Interview der Orientierung und ist unterstützendes Mittel bei der Gesprächsführung.
Themenblöcke im Interview
Themenblock I – Privatheit, Wohnen und häusliche Umgebung – analysiert das Wesen der Privatheit, das Wohnen als Grundlage für die Entwicklung der Individuen sowie den Maßstab der häuslichen Umgebung, die in Form kleinteiliger Strukturen Raum für soziale Interaktionen schafft. Themenblock II – Territorien und Dichte – beschäftigt sich mit territorialen Aspekten innerhalb der Institution, mit Funktionsüberlagerungen und verdichteten Aktivitäten sowie mit Beengung und Stress. Im Besonderen wird dem Verlust der territorialen Bindung nachgegangen und nach Möglichkeiten gesucht, vergleichbare Strukturen in die Institution zu implementieren. Themenblock III – Konflikte, Aggression und Gewalt – betrachtet Konfliktsituationen als eine der großen Herausforderungen in der Pflege. Aggressions- und Gewalthandlungen gegen Pflegebedürftige und Pflegende basieren auf Ängsten, Überforderungen und unterschiedlichen Erwartungshaltungen. Pflege ist eine sensible Interaktion, bei der unterschiedliche Interessen aufeinandertreffen. Themenblock IV – Kreativität und Gestaltung – versteht Raum nicht nur als technische Größe, sondern hebt den emotional atmosphärischen Aspekt der räumlichen Umgebung hervor. Menschen bringen individuelle Raumvorstellungen mit in die Institution. Dieses mitgebrachte Raumgefühl löst Gestaltungsbedürfnisse aus, die durch partizipative Prozesse in die Betreuungskonzepte integriert werden sollen.
__________
1Der Bericht des Rechnungshofes „Pflege in Österreich (2020) unterscheidet für Niederösterreich drei Leistungserbringende: Land, Gemeinden, privat. Auch in Niederösterreich sind konfessionell geführte Einrichtungen Vertragspartner der Sozialplanung, diese wurden in der Statistik des Rechnungshofes in die Kategorie „privat
integriert.
2Der Begriff „generationstypologisch" bezieht sich auf die bauliche Entwicklung des Institutionsbaus in der stationären Altenhilfe in Abhängigkeit von pflegefachlichen Konzepten der jeweiligen Zeit. Die Generationenabfolge wurde unter anderem von Gudrun Kaiser (2012) beschrieben und durch das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) publiziert.
Die generationstypologische Abfolge des Alten- und Pflegeheimbaus wird in Teil