Nach dunklen Schatten das Glück
()
Über dieses E-Book
Mehr von Hedwig Courths Mahler lesen
Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAus erster Ehe Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenSanna Rutlands Ehe Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenO Menschenherz, was ist dein Glück? Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie entflohene Braut Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDes anderen Ehre Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDu bist meine Heimat Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenUm Diamanten und Perlen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenVerkaufte Seelen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenIm fremden Land Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMein liebes Mädel Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Aßmanns Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDas Halsband Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDeines Bruders Weib Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenTrotz allem lieb ich dich Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenSein Kind Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDes Schicksals Wellen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie schöne Melusine Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenLiane Reinold Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
Ähnlich wie Nach dunklen Schatten das Glück
Verwandte Kategorien
Rezensionen für Nach dunklen Schatten das Glück
0 Bewertungen0 Rezensionen
Buchvorschau
Nach dunklen Schatten das Glück - Hedwig Courths-Mahler
Hedwig Courths-Mahler
Nach dunklen Schatten das Glück
Saga
Nach dunklen Schatten das Glück
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1929, 2022 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726950533
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
1
Auf dem bahnsteig der Jungfraubahn in Lauterbrunnen standen die beiden Schwestern Freda und Blandine Nordmann und warteten auf die Abfahrt des Zuges, der sie nach Wengen hinaufbringen sollte, wo sie im Palace-Hotel für einige Wochen wohnen würden. Sie wollten sich dort oben in der reinen Bergluft erfrischen und erholen. Nach langer, sorgenvoller Zeit konnten sie sich einmal wieder einen Sommeraufenthalt in den Bergen gönnen.
Ehe sie den schon bereitstehenden Zug besteigen durften, mußten sie die Ankunft des Gegenzuges, der von oben herunterkam, abwarten. Dieser kam aber schon bei der letzten Wendung in Sicht. Langsam, als müsse er recht bedächtig und vorsichtig fahren, kam er heran. Er war bis zum letzten Platz mit Passagieren besetzt. Das schöne, klare Wetter hatte viele Ausflügler in den letzten Tagen zu der Jungfrau hinaufgeführt, wo alle die, die nicht imstande waren, Bergtouren zu Fuß zu machen, das wunderbare Bergpanorama bewundern konnten. In einem Abteil zweiter Klasse saß am Fensterplatz ein junger Mann in elegantem, aber zweckmäßigem und durchaus nicht neuem Reiseanzug. Er lehnte mit ziemlich mißvergnügtem Gesicht in der Ecke, ohne auf seine Mitreisenden zu achten, obwohl ihm ein paar reizende und vergnügt lachende junge Damen gegenübersaßen und ihm schöne Augen machten, als seien sie nicht abgeneigt, ihn aufzuheitern.
Verstimmt sah der junge Mann zum Fenster hinaus, als der Zug nun in den Lauterbrunner Bahnhof einlief. Da erblickte er plötzlich drüben auf dem Bahnsteig die Schwestern Nordmann, die in ihren eleganten Reiseanzügen einen sehr erfreulichen Anblick boten. Er zuckte zusammen, und in seinen braunen Augen leuchtete es wie heiße Freude auf. Jäh richtete er sich empor, und alles Mißvergnügen war aus seinen Zügen verschwunden. Aber dann nahm er sich zusammen und wandte seine Blicke von den Schwestern ab, wenn es ihm auch nicht leichtfiel. Er zwang sich zu einem gleichmütig heiteren Aussehen und begann plötzlich ein auffallendes Interesse an den ihm gegenübersitzenden jungen Damen zu nehmen. Er lachte sie an, ging auf ihre übermütigen Scherze ein, half ihnen mit ritterlicher Artigkeit aus dem Wagen und verabschiedete sich, nachdem er ihnen mit großer Liebenswürdigkeit ihre Handköfferchen herabgeholt hatte, mit scherzenden Worten von ihnen. Scheinbar beachtete er dabei die beiden auf dem Bahnsteig stehenden Schwestern gar nicht, aber ein rascher verstohlener Seitenblick hatte ihn überzeugt, daß sie ihn entdeckt hatten und ihn beobachteten. Seine Galanterie gegen die fremden jungen Damen mußte ihnen auffallen, und das hatte er bezweckt.
Die Schwestern hatten ihn allerdings schon entdeckt, noch ehe der Zug hielt. Freda bemerkte ihn zuerst, Blandine wurde etwas später auf ihn aufmerksam. Sie legte hastig die Hand auf den Arm der Schwester.
»Sieh doch, Freda! Da ist doch Frieder Lienhard – dort im Kupee am Fenster. Wie kommt denn der hierher?«
Freda war es aber nicht, wie Blandine, entgangen, daß Frieder Lienhard sie beide entdeckt hatte und dann erst, aus einer verdrießlichen Haltung auffahrend, die gegenübersitzenden Damen anzusprechen schien. Sie merkte auch sehr wohl, daß er verstohlen zu ihnen herübersah, als er so auffallend den Galanten spielte, und ein leises Lächeln war um ihren Mund gezuckt.
»Wie du siehst, mit diesem Zug der Jungfraubahn, Dina«, erwiderte sie ruhig.
»Nein doch, ich meine, wie er überhaupt hierher in die Schweiz kommt.«
»Vermutlich auf dieselbe Weise wie wir. Er wird seine Sommerreise hierher gemacht haben, um sich gleich uns zu erholen. Aber während wir erst hinauf wollen, kommt er schon wieder herab. Schade, wir hätten in seiner Gesellschaft einige Ausflüge machen können.«
»Das hätte mir gerade noch gefehlt!« stieß Blandine abweisend hervor, während ihre Augen fast zornig zu Frieder Lienhard hinüberflogen, der absolut keine Notiz von ihr zu nehmen schien. Und wie er sich mit diesen scheinbar sehr zugänglichen Damen amüsierte! Die Röte stieg in ihr Gesicht.
»Aber er ist doch ein sehr amüsanter und netter Gesellschafter«, sagte Freda scheinbar gleichmütig, ein heimliches Lachen unterdrückend.
»Der Geschmack ist gottlob verschieden; ich finde ihn fade und langweilig.«
Wieder zuckte ein verhaltenes Lachen um Fredas Mund.
»Das ist aber ungerecht, Dina, wenn er dir auch leider sehr wenig gefällt, so mußt du doch zugeben, daß er allgemein beliebt ist. Sieh nur die jungen Damen an, mit denen er spricht, was die ihm für schöne Augen machen. Sie strahlen ihn sehr wohlgefällig an.«
»Mögen sie ihn anstrahlen, er wird dann noch eitler und unausstehlicher«, stieß Blandine zornig hervor. Aber es sollte gleichgültig klingen.
»Von Eitelkeit habe ich wirklich noch nichts an ihm bemerkt. Schade, daß er nicht zu uns herübersieht, er hat uns noch nicht entdeckt«, sagte Freda bedauernd, obwohl sie ganz genau wußte, daß Frieder Lienhard sie und die Schwester längst gesehen hatte. Sie ahnte, weshalb er sich den Anschein gab, sie nicht zu bemerken.
Blandine zog die Stirn kraus.
»Hoffentlich entdeckt er uns nicht noch. Komm schnell, Freda, laß uns zu unserm Zug hinübergehen, wir dürfen jetzt einsteigen.«
»Du willst ihm also absichtlich ausweichen?«
»Soll ich ihm vielleicht nachlaufen?« fragte Blandine, den Kopf trotzig zurückwerfend.
»Nein, das nicht, aber wir könnten uns ihm irgendwie bemerkbar machen.«
»Auf keinen Fall, laß ihn nur mit diesen Mädels flirten. Komm schnell hinüber zu unserem Zug.«
»Oh, du brauchst keine Angst zu haben, daß er uns entdeckt; er ist so völlig mit den reizenden Damen beschäftigt, daß er für uns keine Zeit hat.«
»Reizende Damen? Ich finde sie sehr wenig reizend, aber dafür sehr kokett. Was die ihm für Augen machen – einfach schamlos«, stieß Blandine ärgerlich hervor und zog die Schwester mit sich fort.
Diese unterdrückte wieder ein leises Lächeln und folgte der Schwester ruhig zu dem Zug. Sie warf nur noch einen forschenden Blick zu Frieder Lienhard hinüber und merkte, daß dieser sich jetzt schnell von den Damen verabschiedete.
Während die Schwestern ihren Zug bestiegen, trat Frieder Lienhard verstohlen an den von oben gekommenen Gepäckwagen heran. Hier gab er schnell Weisung, daß sein Koffer sofort wieder in den nach oben fahrenden Zug geladen würde, obwohl er eben erst herabbefördert worden war. Er hatte sehr wohl gesehen, daß die Schwestern den Zug nach oben bestiegen hatten. Er sah auf die Uhr und sprang zu dem Schalter hinüber, um sich eine neue Fahrkarte zu lösen – für die Rückfahrt nach Wengen. War er doch vor einigen Tagen nur nach Wengen hinaufgefahren in der Hoffnung, daß er dort »ganz zufällig« mit den Schwestern Nordmann zusammentreffen würde. Mit List und Diplomatie hatte er von dem Portier des Hauses, in dem die Schwestern wohnten, in Erfahrung gebracht, daß diese für alle Fälle ihre Adresse zurückgelassen hatten. Und diese Ferienadresse lautete: Wengen, Schweiz, Palace-Hotel. Er hatte gehört, daß die Schwestern dort einen mehrwöchigen Aufenthalt nehmen wollten. Daß sie erst eine Rundreise durch die Schweiz machen wollten, wußte der Portier nicht, sonst hätte er es sicherlich dem noblen jungen Herrn verraten, der ihm ein so gutes Trinkgeld gegeben hatte.
Frieder Lienhard war sofort nach Wengen abgereist, aber dort fand er zu seinem Leidwesen nicht die beiden Schwestern, auch im Palace-Hotel nicht. So nahm er an, daß sie ihre Reisepläne geändert hätten. Mißmutig hatte er deshalb heute die Rückreise wieder angetreten. Er hatte es sich so schön ausgemalt, hier wochenlang in Gesellschaft der Schwestern Nordmann zu leben, hauptsächlich in Gesellschaft von Blandine Nordmann, obwohl diese immer auf dem Kriegsfuß mit ihm stand. Nun hatte er schon die Hoffnung auf ein Wiedersehen aufgegeben. Um so größer war seine Freude, als er die Schwestern plötzlich auf dem Bahnsteig in Lauterbrunnen erblickte und sich gleich sagte, daß sie erst jetzt nach Wengen hinauffahren würden.
So hatte er sich schnell entschlossen, wieder mit hinaufzufahren. Sie durften selbstverständlich nicht ahnen, daß er eben hatte abreisen wollen, und deshalb mußte er ein wenig Komödie spielen.
Die Schwestern hatten inzwischen ein Abteil zweiter Klasse bestiegen. In diesem Abteil saß bereits ein hochgewachsener Herr von etwa vierzig Jahren. Er war eine sehr interessante und markante Erscheinung, einer jener Männer, denen man auf den ersten Blick ihre Bedeutung ansieht. Doch sein Gesicht war ernst, fast düster, so daß Blandine eine kleine Grimasse zog und der Schwester damit andeutete, daß sie diesen Herrn durchaus nicht für einen angenehmen Reisegefährten hielt. Aber Freda Nordmanns Aufmerksamkeit war durch den Fremden gleich seltsam gefesselt. Er half den Damen artig, ihr leichtes Handgepäck zu verstauen, und dachte bei sich, daß dies sehr vernünftige junge Damen sein müßten, die nicht unzählige Gepäckstücke mit sich herumschleppten. Aber er lehnte sich dann wieder in die Ecke am Fenster zurück und sah hinaus. Von den Damen nahm er weiter keine Notiz.
Freda Nordmann hatte also Muße, sein markantes Profil zu beobachten. Sie sah auch, daß er einen gutsitzenden, eleganten Reiseanzug trug, daß er braunes, kurzgeschnittenes Haar hatte und unter der schön gebauten, vorspringenden Stirn tiefliegende stahlblaue Augen. Der Mund war fest und herb geschlossen, so daß die Lippen wie ein schmaler Strich in dem fesselnden Gesicht wirkten. Das breite, feste Kinn verriet Willenskraft und Entschlossenheit, aber um den Mund hatte sich ein herber Schmerzenszug eingegraben. Als er die Reisemütze abgesetzt hatte, war sein Scheitel etwas in Unordnung geraten, aber er achtete nicht darauf, ein Beweis, daß dieser Mann keine Anlage zur Eitelkeit hatte. Freda war gewohnt, scharf zu beobachten, und nachdem sie diesen Mann eine Weile angeschaut hatte, ohne daß er es merken konnte, sagte sie sich:
Ein glücklicher Mensch ist das nicht, aber er ist sehr interessant.
Und daß er unglücklich zu sein schien, fesselte sie fast noch mehr als sein blendendes Aussehen. Sie war, gegen ihre sonstige Art, so sehr in den Anblick dieses Mannes vertieft, daß sie vergaß, auf ihre Schwester zu achten.
Diese schaute anscheinend gleichmütig zum Fenster hinaus, aber ihre Augen suchten unruhig nach Frieder Lienhard. Sie konnte ihn nicht mehr entdecken, aber die hübschen jungen Damen, mit denen er ihrer Meinung nach geflirtet hatte, standen noch wartend am Ausgang des Bahnhofs. Vielleicht warteten sie auf ihren sehr galanten Reisegefährten. Dieser Gedanke erfüllte Dina von neuem mit Zorn. Grollend behielt sie die Damen im Auge, fest überzeugt, daß Frieder Lienhard wieder neben ihnen auftauchen würde. Aber er war nirgends zu sehen.
In dem Augenblick jedoch, da das Abfahrtszeichen für den Zug gegeben wurde, stieg plötzlich ein junger Herr in das Abteil, in dem die Schwestern saßen. Er hatte sich im letzten Augenblick mit einem eleganten Satz hinaufgeschwungen, ohne daß Dina vorher sein Auftauchen bemerkt hätte. Und nun stand Frieder Lienhard, scheinbar sehr erstaunt, vor den Schwestern.
»Träum’ ich, ist mein Auge trübe?« zitierte er lachend. »Nein, ich sehe Sie wirklich leibhaftig vor mir, meine sehr verehrten Damen. Das ist ja ein reizendes Zusammentreffen. Das ist aber eine freudige Überraschung für mich.«
Dabei sah er Freda Nordmann lachend an und begrüßte sie mit einem strahlenden Blick. Dann erst blickte er auch in Dinas reizendes Gesicht, das zu ihrem Ärger bei seinem plötzlichen Auftauchen sehr rot geworden war. Er verbeugte sich vor ihr.
»Gestatten Sie mir, Sie zu begrüßen, mein gnädiges Fräulein. Wollen Sie auch zur Jungfrau hinauf? Ich glaube, Sie werden eine ausgezeichnete Aussicht haben.«
Blandine hatte nur kurz mit dem Kopf genickt, um seinen Gruß zu erwidern.
»Nein, wir fahren nur bis Wengen hinauf«, sagte sie kühl.
»Ah, bis Wengen? Wollen Sie da längeren Aufenthalt nehmen?«
Blandine wunderte sich, daß er jetzt wieder mit hinauffuhr, da er doch eben erst herabgekommen war. Aber sie antwortete mit gleicher Kühle und Sprödigkeit:
»Allerdings!«
»Ah, das trifft sich ja herrlich! Ich habe auch in Wengen einen längeren Aufenthalt genommen, ich wohne im Palace-Hotel. Bin gerade nur mit herabgefahren, um einige junge Damen, mit denen ich oben sehr reizende Stunden verlebt habe, bis Lauterbrunnen zu begleiten, um ihre Gesellschaft noch ein Stündchen länger genießen zu können«, sagte er scheinbar harmlos.
Freda glaubte kein Wort, das er sagte, verbiß aber ihr Lächeln und erwiderte ruhig:
»Das ist wirklich ein drolliger Zufall, wir haben auch im Palace-Hotel Zimmer bestellt, Herr Lienhard.«
Bei diesem Namen wandte der Herr am Fenster zum ersten Male wieder den Kopf und sah einen Moment prüfend auf die drei Personen. Aber er wandte sich gleich wieder ab und sah zum Fenster hinaus.
Frieder Lienhard tat sehr erstaunt.
»Also auch im Palace-Hotel? Das ist ja reizend. Freilich dürfte es wohl nur für mich sehr angenehm sein. Sie werden meine Freude kaum teilen, mein gnädiges Fräulein?« sagte er zu Blandine.
Diese hatte sich gefaßt. Um keinen Preis der Welt hätte sie eingestanden, nicht einmal sich selbst, daß sie sich freute, daß Frieder Lienhard auch im Palace-Hotel wohnte. Und um ihre Freude zu verbergen, sagte sie kalt, fast ungezogen:
»Man wird sich ja aus dem Wege gehen können.«
Es zuckte ein wenig schmerzlich in seinem Gesicht, und er wollte schnell etwas erwidern, aber da trafen seine Augen in die Fredas, und sie schienen zu sagen: Nimm es nicht ernst, was meine kleine Schwester sagt. Und um so liebenswürdiger sagte sie:
»Auch für uns ist es ein sehr erfreulicher Zufall, daß wir Ihnen hier begegnen. Wir sahen Sie aber mit dem Zug von oben herabkommen und nahmen schon an, daß Sie weiterreisen würden. Da Sie in Gesellschaft waren, wollten wir Sie nicht stören, sonst hätten wir uns bemerkbar gemacht.«
Beim Klang ihrer dunklen, weichen Stimme sah der Fremde am Fenster wieder für einen Moment zu ihr herüber, um dann gleich wieder zum Fenster hinauszusehen. Freda Nordmanns Stimme klang aber auch zu schön, die ganze reiche Güte ihres Wesens sprach aus ihr.
Frieder Lienhard hatte sich den Damen gegenübergesetzt, auf dieselbe Seite wie der Fremde.
»Oh, es hätte mich sehr betrübt, wenn Sie an mir vorübergegangen wären, ohne daß ich Sie gesehen hätte.«
Blandine, die immer noch zum Fenster hinaus zu den Damen sah, die auch jetzt noch am Ausgang des Bahnhofs standen, fuhr zu ihm herum.
»Die Damen, in deren Gesellschaft Sie herabkamen, stehen noch immer da drüben, um auf Ihren letzten Gruß zu warten«, spottete sie.
Seine Augen sahen groß und lachend zu ihr hinüber.
»Möglich, es waren sehr liebenswürdige Damen, die mir einige Ferientage verschönt haben«, log er übermütig, denn er hatte diese Damen zum erstenmal gesehen, als sie mit ihm im Zug gefahren waren. Und er hatte sie absolut nicht beachtet, bis zu dem Moment, da er die Schwestern erblickt hatte. Für ihn gab es nur ein einziges weibliches Wesen, das ihm Interesse abnötigte, und zwar brennendes Interesse, und das war Blandine Nordmann. Und so abweisend und widerspruchsvoll sie auch war, er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, ihre Liebe zu erringen. Denn daß sie auch keinem anderen Mann ein tieferes Interesse zugewandt hatte, wußte er.
Er wußte aber auch, daß sie nicht leicht zu erobern war, und daß sie anders, ganz anders angefaßt werden mußte als andere junge Damen. Ein wertvoller Mensch war Blandine Nordmann, ebenso wie ihre ältere Schwester. Ihre herbe Sprödigkeit hatte, wie er wußte, ihre Gründe. Diese Distanz mußte erst langsam besiegt werden, und bei flüchtigem gelegentlichem Zusammentreffen mit ihr in Berlin hatte er nie Zeit und Muße, ihr innerlich näherzukommen. Er hatte versucht, sie durch Komplimente und Aufmerksamkeiten für sich zu gewinnen, wie das bei anderen jungen Damen wirksam war, aber er hatte bald gemerkt, daß er damit nicht zum Ziel kam. Sie verabscheut den leichten Flirt, dem ihre Altersgenossinnen so viel Geschmack abgewannen, und sie hatte geglaubt, Frieder Lienhard suche auch bei ihr nur leichtes Amüsement. Er betrachtete sie vielleicht als leichte Beute, und deshalb war sie ihm mit schroffer Ablehnung begegnet.
Sehr bald hatte er bemerkt, daß Blandine auf diese Weise nicht zu erobern war, und deshalb änderte er seine Taktik. Er spielte ihr nun erst einmal eine Gleichgültigkeit vor, die er nicht empfand, und suchte sie dadurch zu fesseln. Er ahnte, daß ihm das besser gelingen würde, als wenn er sich ihr aufdrängte. Deshalb durfte sie auf keinen Fall merken, daß er ihr und der Schwester absichtlich nach Wengen gefolgt war. Er spielte ihr mit Absicht eine kleine Komödie vor, als er sie auf dem Bahnsteig erblickt hatte, und in dem Bestreben, sich bei ihr ein wenig rar zu machen, schoß er ebenfalls wieder über das Ziel hinaus.
Aber immerhin hatte er das Empfinden, die Ursache ihres Zornes sei nur die, daß er so galant gegenüber den jungen Damen gewesen war, und er spürte zum erstenmal einen leisen Hauch von Eifersucht in ihrem Wesen, der ihn beglückte. Und als sie ihn nun auf die Damen draußen aufmerksam gemacht hatte, erhob er sich und grüßte scheinbar lebhaft zu ihnen hinüber. Die Damen entdeckten ihn auch und winkten lachend zurück. Aber Frieder Lienhard sah gar nicht zu ihnen hinaus, er sah nur in Blandines Gesicht und merkte, daß ihre Lippen zuckten wie in verhaltener Erregung.
Blandine bemerkte nicht, daß er sie forschend ansah und durchaus nicht zu den Damen hinausblickte, aber Freda merkte es, und wieder huschte ein gutes, verstehendes Lächeln über ihr Gesicht.
Als Frieder sich wieder niedergelassen hatte, versuchte Blandine, ein gelangweiltes Gedicht zu machen und sah immerfort zum Fenster hinaus, wie der fremde Herr in der andern Ecke des Wagens. Frieder unterhielt sich nun anscheinend sehr angeregt mit Freda Nordmann, ohne sich um Blandine zu kümmern. Freda suchte nach Kräften das unliebenswürdige Benehmen ihrer Schwester gutzumachen und zeigte sich sehr freundlich und gütig, wie das immer ihre Art war. Aber während sie auf seine Unterhaltung einging, sah sie doch immer wieder prüfend zu dem Fremden hinüber, der ernst und düster zum Fenster hinausstarrte, während es zuweilen schmerzhaft um seine Lippen zuckte oder seine Stirn sich zusammenzog. In Fredas Herz wurde immer schnell eine Hilfsbereitschaft geweckt, wenn sie einen Menschen in Not sah, und es schien ihr, als sei dieser Mann von einer großen Herzensnot befallen. Er hätte gar nicht so interessant und bedeutend zu sein brauchen, um ihr Mitgefühl zu wecken, aber selbstverständlich verstärkten diese Eigenschaften ihr mitleidiges Interesse.
Dabei ließ sie aber auch Frieder Lienhard nicht zu kurz kommen, denn sie war klug und wußte, daß er ihre Schwester liebte und daß er unter Blandines abweisendem Wesen zu leiden hatte.
Der Wagen, in dem sie fuhren, war stark besetzt, nur in ihrem Abteil waren noch einige Plätze frei. Die einzelnen Abteile waren in diesen Wagen der Jungfraubahn nur durch halbhohe Wände begrenzt, die mit den Lehnen der Sitzbänke aufhörten. So konnte man von einem Abteil alle andern überblicken und zur Not auch aus einem in das andere hinüberklettern. Eine andere Gelegenheit, aus einem Abteil in das andere zu gelangen, hatte man während der Fahrt nicht. Aber jedes Abteil hatte rechts und links eine Tür zum Aus- und Einsteigen. Die meisten Insassen des Wagens waren Amerikaner und Engländer, von denen die Aussicht laut bewundert wurde.
Diese war auch in der Tat bewunderungswürdig. Man überblickte jetzt das Lauterbrunner Tal und sah jenseits dieses die gelben Wagen der Zahnradbahn nach Mürren hinaufkriechen. Sie wirkten bei der großen Entfernung wie Kinderspielzeug. Weiter hinten sah man die Staubbachfälle, wie sie ihre zerrissenen Wasserschleier von den Felsen hinabwehten.
Das wunderschöne Tal abschließend, standen in schweigender Majestät die gigantischen, schneebedeckten Bergriesen des Berner Oberlandes, das beginnende Jungfraumassiv. Es trat immer deutlicher hervor, je weiter die Bahnwagen aufwärtsstiegen, und der Mönch und der Eiger wurden dann auch sichtbar.
Blandine hatte anscheinend für nichts anderes Interesse als für diese wunderbare Berglandschaft, die empfänglichen Menschen eine tiefe Andacht ins Herz zaubert. Aber sie lauschte dabei doch auf das Gespräch, das ihre Schwester mit Frieder Lienhard führte. Versuchte dieser aber zuweilen sie ins Gespräch zu ziehen, dann erhielt er immer nur eine abweisende, kühle Antwort. Und als eine solche wieder einmal besonders schroff und scharf ausfiel, sagte er mit einem Seufzer zu Freda:
»Anscheinend ist es Ihrem Fräulein Schwester sehr unangenehm, daß ich Ihnen in den Weg gelaufen bin. Aber ich habe nun einmal im Palace-Hotel Wohnung genommen und muß mich darauf beschränken, Ihnen sowenig wie möglich lästig zu fallen.«
Dabei überlegte er, wie er es einrichten konnte, von neuem im Palace-Hotel Wohnung zu nehmen, ohne daß die Schwestern merkten, daß er sein Zimmer heute morgen bereits aufgegeben hatte.
Freda sah mit einem leichten Lächeln zu der Schwester hinüber.
»Ich hoffe, Sie glauben nicht im Ernst, daß uns Ihre Gesellschaft lästig sein könnte. Meine Schwester ist nur zu sehr in den Anblick des herrlichen Bergpanoramas vertieft, sonst würde sie nicht so kurz angebunden sein. Mir ist jedenfalls Ihre Gesellschaft sehr angenehm, und es kann gar keine Rede davon sein, daß sie uns je lästig fallen könne. Im Gegenteil, es ist uns ein sehr angenehmes Gefühl, daß wir an Ihnen einen männlichen Schutz haben. Wenn wir auch gewohnt sind, immer selbst für uns einzustehen, so ist es doch gerade auf Reisen sehr angenehm für alleinreisende Damen, sich unter einen männlichen Schutz stellen zu können.«
Mit einem dankbaren Blick sah Frieder sie an.
»Ich danke Ihnen für Ihre freundlichen Worte, die mich von dem Gefühl befreien, daß ich Ihnen und Ihrem Fräulein Schwester sehr ungelegen in den Weg gekommen bin.«
Blandine fuhr plötzlich zu ihm herum und wollte sagen: Meine Schwester darf nur von sich sprechen, ich bin anderer Ansicht. Aber sie brachte es doch nicht über ihre Lippen, weil Frieder Lienhard sie gerade mit einem großen, ernsten Blick ansah, der so gar nichts von seinem gespielten Übermut verriet. So preßte sie die Lippen aufeinander und schwieg.
Weiter und weiter stieg der Zug hinauf, immer neue, wundervolle Ausblicke freigebend. Freda und Frieder Lienhard plauderten angeregt, ohne dabei zu versäumen, sich an der herrlichen Landschaft zu entzücken. Aus ihrem Gespräch ging hervor, daß sowohl die Schwestern, als auch Frieder Lienhard ihr bleibendes Domizil in Berlin hatten. Der schweigsame, düstere Fremde in der Ecke sah zuweilen flüchtig zu ihnen hinüber und lauschte mit Genuß auf die weiche, dunkle Altstimme Fredas, auf ihre verständigen, freundlichen Worte, die so viel Güte und Klugheit verrieten und so gar nichts gemein hatten mit dem