Das ist der Liebe Zaubermacht
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Das ist der Liebe Zaubermacht - Hedwig Courths-Mahler
Hedwig Courths-Mahler
Das ist der Liebe Zaubermacht
Saga
Das ist der Liebe Zaubermacht
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1924, 2022 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726950526
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
1
Käthe Lindner ging mit zielsicheren Schritten zwischen den Arbeitern dahin, die in Massen das Carolawerk verließen und ihren bescheidenen Heimen zustrebten.
Sie erwiderte hier und da einen Gruß, gab auf eine Frage Bescheid. Obwohl sie sich den Arbeitern zugehörig fühlte, fiel sie doch durch ihre freie, stolze Haltung, durch die beherrschte Anmut ihrer Bewegungen und den ruhigen, klaren Blick ihrer Augen auf.
Noch ehe sie an das große Tor kam, erreichten sie zwei Männer, die sie sofort in ihre Mitte nahmen.
»Da sind wir auch, Käthe, guten Abend«, sagte der Ältere.
Mit freundlichem Lächeln sah sie die beiden an, nickte ihnen zu und reichte ihnen die Hand.
»Guten Abend, Vater — guten Abend, Heinz! Habt ihr’s geschafft?«
»Wie du, Käthe. Bist du müde?« fragte Heinz, Käthes Bruder.
Sie reckte die jungen, schlanken Glieder.
»Nicht sehr, Heinz, nur gerade genug, um mich auf die Feierabendstunden mit euch zu freuen. Aber du bist müde, lieber Vater?«
Friedrich Lindner richtete seine breitschultrige Gestalt mit einem straffen Ruck empor.
»Ich nehme es schon noch auf mit euch zwei Jungen«, sagte er lächelnd und blickte mit väterlichem Stolz auf seine beiden Kinder, die elastisch neben ihm herschritten.
Käthe legte die Hand auf den Arm des Vaters und sah liebevoll zu ihm auf.
»Wir sind doch nicht aus der Art geschlagen, der Heinz und ich, Vater.«
Er schmunzelte.
»Ein wenig doch, Käthe. Du und Heinz, ihr seid schon ein wenig feiner geartet als ich, seid schon ein paar Sprossen weiter emporgeklettert auf dem Weg zur Höhe. Ihr habt halt mehr gelernt als euer Vater.«
»Und wem verdanken wir das, Vater? Hättest du nicht allezeit so fleißig geschafft, dann hättest du uns nicht eine so gute Schulbildung zuteil werden lassen können.«
»Nun, nun«, wehrte der Vater fast verlegen ab, »das habt ihr mehr eurer guten, seligen Mutter zu verdanken als mir. Ich wäre wahrscheinlich gar nicht darauf gekommen, daß es nützlich für euch sein könnte, wenn ihr Französisch und Englisch lerntet. Ich hätte euch im gewohnten Trott dahingehen lassen, wie meine Eltern mich gehen ließen. Aber eure Mutter hat mir keine Ruhe gelassen. Immer wieder sagte sie: Das Beste, was du deinen Kindern geben kannst, ist eine gute Erziehung, sie müssen etwas Tüchtiges lernen, denn es sind kluge, aufgeweckte Kinder. Und wenn sie etwas Ordentliches gelernt haben, können sie sich selbst vorwärts helfen. Du kannst deine Ersparnisse nicht besser anlegen, als wenn du sie für eine gute Schulausbildung der Kinder ausgibst. Ja, ja, sie war eine kluge Frau und eine gute Mutter! Und sie hat mich dazu gebracht, selbst ein bissel über alles das nachzudenken, und da hab’ ich gefunden, daß sie recht hat. Und so ist es gekommen, daß ich euch lernen ließ, was es nur zu lernen gab. Eurer Mutter müßt ihr es danken — ich hab’ das wenigste dazu getan.«
»Halt, halt, Vater«, sagte Heinz Lindner munter, »stelle nur dein Licht nicht gar zu sehr unter den Scheffel! Uns kannst du nichts vormachen, wir glauben dir nicht — das nicht. Wärst du nicht dein Lebtag so fleißig und solid gewesen, dann hättest du nichts zurücklegen und wir hätten nicht eine so gute Schulausbildung erhalten können. Und wenn du uns nicht durch dein Beispiel gelehrt hättest, die Arbeit zu lieben, dann hätten wir dir nicht nachgeeifert. Die gute Schulbildung allein macht es nicht, sonst müßten ja alle Menschen, die eine gute Schule gehabt haben, Tüchtiges leisten. Und das ist doch nicht so. Der Fleiß ist die Hauptsache — und die Freude an der Arbeit.«
Der Vater nickte.
»Ja, ja, Heinz, da hast du recht. Ich habe in dieser Hinsicht auch so meine Erfahrungen gemacht. Hier im Werk hat man die beste Gelegenheit dazu. Da gibt es viele unter meinen Kameraden, auf denen der Segen der Arbeit ruht — weil sie freudig ihre Pflicht tun. Aber manche arbeiten auch nur, weil sie müssen. Sie tun es verdrießlich und schimpfen auf die verfluchte Arbeit, statt sich an der gesegneten Arbeit zu freuen. Das färbt dann auch auf ihre Kinder ab.«
»So ist es, Vater. Auch ich habe das beobachtet. Wo man die Arbeit liebt und sie freudig tut, herrscht Zufriedenheit, Heiterkeit und Wohlstand. Wo man sie haßt, würdigt man sich selbst zum Sklaven herab. Und deshalb können wir dir, lieber Vater, nie genug danken, daß du uns die Arbeit lieben lehrtest. Das ist das Beste, was du für uns getan hast.«
Käthe drückte den Arm des Vaters.
»Heinz spricht mir aus der Seele, Vater, seine Ansicht ist die meine.«
Mit seinen guten, klaren Augen sah Friedrich Lindner auf seine Kinder.
»Ich freue mich über eure Ansicht. Manche meiner Kameraden haben mich freilich einen Obenhinaus gescholten, weil ich euch eine bessere Erziehung zuteil werden ließ, als ich sie selbst genossen hatte. Sie haben mich verhöhnt, wenn ich nicht mit zum Biertisch ging und ein gut Teil meines Lohns für zweifelhafte Genüsse hingab. Ich habe dann lieber friedlich in meinem Gärtchen gebastelt. Andere haben mir aber recht gegeben und es mir nachgetan. Und die haben alle den Segen der Arbeit an sich und ihren Kindern gespürt.«
Die drei Menschen schwiegen und sahen mit hellen, frohen Augen um sich.
Die Menge, in der sie dahinschritten, hatte sich mehr und mehr gelichtet. Nach allen Seiten waren die Menschen in den Straßen der Arbeitersiedlung verschwunden. In diesen Straßen standen die kleinen Häuser, die alle von Arbeitern der Werke bewohnt waren. Die ganze Siedlung lebte von den Werken, direkt und indirekt. In den kleinen Läden kauften die Arbeiter ihre Bedürfnisse ein, und alles hing mit den Werken zusammen.
Lindners wohnten ein Stück weiter, wo die Straßen breiter wurden. Es kam ihnen nicht darauf an, einige Minuten weiter zu laufen. Ihr Häuschen lag ziemlich frei, von einem Stück Garten umgeben.
Als Friedrich Lindner noch jung war, hatte er sich zusammen mit dem Vater, der auch in den Werken beschäftigt gewesen war, dieses Häuschen selbst gebaut. Es umfaßte drei Zimmer und eine Küche im Erdgeschoß und ein Giebelstübchen, zu dem außen an der Rückseite des Hauses eine Holztreppe emporführte.
In diesem Giebelstübchen wohnte und schlief Heinz Lindner. Seine Schwester Käthe hatte ihr Schlafzimmerchen zwischen dem Wohnzimmer und dem Schlafzimmer ihres Vaters. Sie teilte es mit Tante Anna, der Schwester ihres Vaters, die, seit sie Witwe war, den Haushalt ihres Bruders besorgte.
Das Häuschen war einfach weiß getüncht, und wilder Wein rankte sich an ihm empor. Rechts und links neben der Haustür standen große Fliederbüsche, die bereits dicke Blütentrauben angesetzt hatten. Einige begannen schon aufzublühen.
Als der Vater mit seinen Kindern vor der Haustür anlangte, zog Käthe eine der aufgeblühten Fliederdolden zu sich herab und sog ihren Duft ein.
»Es ist Frühling geworden, Heinz. Sieh nur, der Flieder fängt an zu blühen! Prachtvoll werden unsere Büsche wieder aussehen!«
Heinz nickte.
Hinter dem Vater betraten sie den schmalen Hausflur. Hier legten sie ihre Überkleider ab, und während Vater und Sohn das Wohnzimmer betraten, eilte Käthe in die Küche, wo Tante Anna am Herd hantierte.
»Guten Abend, Tante Anna! Kann ich dir etwas helfen, oder wirst du allein fertig?«
Frau Anna Bauer, die ihrem Bruder so ähnlich sah, wie eine Frau nur einem Mann ähnlich sein kann, blickte vom Herd auf, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Sie wendete in einer großen Pfanne Bratkartoffeln um.
»Guten Abend, Käthe! Ich werde schon allein fertig. Seid ihr alle drei zu Hause?«
»Ja, Tante, und wir haben einen Bärenhunger mitgebracht«, erwiderte Käthe lachend.
Die Tante nickte. »Dem wollen wir schon zu Leibe gehen. Da, nimm die Suppenterrine mit hinein! Der Tisch ist schon gedeckt. Ich komme gleich mit den Bratkartoffeln nach.«
Käthe zog das Näschen kraus. »Hm! Wie das duftet!«
Damit verschwand sie mit der Terrine im Wohnzimmer.
Wie in der blanken Küche blitzte und blinkte auch hier alles vor Sauberkeit und Frische. Die Möbel waren gut gepflegt. Auf dem Sofa lagen weiße Schutzdecken, und am Fenster hingen die weißen Gardinen, in zierliche Falten gerafft.
An einem der beiden Fens!er stand ein Nähtisch, an dem anderen ein altmodischer, hoher Lehnstuhl, dessen Lehnen ebenfalls mit Schutzdecken belegt waren. Inmitten des freundlichen Zimmers stand ein viereckiger Tisch mit vier Stühlen. Der Tisch war mit einem grobgewebten, sauberen Tischtuch bedeckt. Das war ein Luxus, den erst Käthe und Heinz, seit sie erwachsen waren, in dem Häuschen eingeführt hatten. Früher aß die Familie hier an einer blankgescheuerten Tischplatte. Blauweißes Steingutgeschirr stand auf dem Tisch, und schlichte Eßbestecke lagen neben den Tellern.
Etwas fiel in diesem Arbeiterhaus besonders auf — das war ein großes, hohes Bücherregal an der Wand, auf dem Reihen von Büchern aufgestapelt waren. Da standen die meisten Klassiker in Reih und Glied, daneben einige Werke von Gustav Freytag und Felix Dahn. Außerdem gab es Fachwerke, die Heinz Lindner gehörten, und ein Lexikon sowie verschiedene englische und französische Bücher.
Über dieses Bücherregal hatte man in der kleinen Arbeitersiedlung viel gesprochen. Auch hielt man sich ein wenig darüber auf, daß Lindners am gedeckten Tisch aßen, ganz wie »Herrschaften«. Die Bücher und der gedeckte Tisch fielen eben aus dem Rahmen. Überhaupt waren Lindners schon manchmal Gesprächsstoff gewesen. Daß Friedrich Lindner seinen Sohn Ingenieur werden ließ und daß seine Tochter fremde Sprachen erlernte, das sah doch sehr nach Überheblichkeit aus. Aber daß die Geschwister Lindner trotzdem in bescheidener Freundlichkeit mit allen verkehrten, versöhnte doch wieder. Und als Heinz mit einem guten Gehalt in den Werken als Ingenieur angestellt wurde und Käthe einen gut bezahlten Posten als Korrespondentin erhielt, rechneten die anderen aus, daß Friedrich Lindner doch seine Ersparnisse gut angelegt hatte, und man hätte es ihm nun gern gleichgetan.
Käthe hatte die Suppe auf den Tisch gestellt. »Komm, Vater, komm, Heinz, es gibt Biersuppe und nachher Bratkartoffeln!« lud sie Vater und Bruder zum Essen ein.
Der Vater erhob sich aus seinem Lehnstuhl am Fenster und Heinz aus der Sofaecke. Sie traten an den Tisch und ließen sich nieder. Käthe füllte die Teller mit der duftenden Suppe.
Und dann trat Tante Anna mit einer Schüssel voll Bratkartoffeln ein. Es wurde mit gesundem Appetit gegessen, wie ihn fleißige Menschen nach getaner Arbeit entwickeln. Aber man unterhielt sich munter und angeregt dabei. Auch als die Mahlzeit beendet war und Käthe und Tante Anna den Tisch abgeräumt und in Ordnung gebracht hatten, saß man noch eine Weile plaudernd zusammen. Der Vater rauchte dabei ein Pfeifchen, Heinz eine Zigarre. Man besprach die Ereignisse des Tages.
Später nahm Vater Lindner die Zeitung zur Hand und Tante Anna den Strickstrumpf.
Da sagte Heinz zu seiner Schwester: »Kommst du noch ein halbes Stündchen mit mir ins Freie, Käthe?«
Sie erhob sich bereitwillig. »Gern, Heinz. Ich bin froh, wenn ich mich noch ein wenig auslaufen kann.«
Die Geschwister verabschiedeten sich vom Vater und der Tante, legten im Flur ihre Mäntel wieder an und traten ins Freie.
Tief atmeten sie die köstliche Frühlingsluft ein, die noch ein wenig herb, aber voller Düfte war.
Sie schritten vollends hinaus aus der kleinen Arbeiterstadt, am Ufer des Flusses entlang, der die Carolawerke von der Arbeiterkolonie schied und zwischen beiden dahinrauschte. Die Geschwister plauderten von ihren Zukunftsplänen und von allem, was junge Menschenherzen bewegt.
Käthe wußte, was Heinz vorläufig nicht einmal dem Vater anvertraut hatte, daß er seit zwei Jahren an einer Erfindung arbeitete. Alle seine Mußestunden waren diesem Werk gewidmet. Jeden Sonntag arbeitete er daran und jeden Abend, bis ihn die Müdigkeit zwang, sein Lager aufzusuchen. In seinem Giebelstübchen saß er täglich einige Stunden an seinem Werk. Und Käthe teilte seine Hoffnungen und Wünsche und war mit ihrem ganzen Interesse dabei. Heinz Lindner erhoffte viel von dieser Erfindung und wollte noch diesen Sommer damit zu Ende kommen.
Vorläufig war er so ziemlich der jüngste Ingenieur der Carolawerke. Er wollte aber vorwärtskommen, und seine Erfindung sollte ihm dabei helfen. Im Lauf des Gesprächs sagte Heinz: »Denke dir, heute blieb Herr Georg Ruhland lange bei mir stehen und sah meiner Arbeit zu. Und dann sprach er auch mit mir. Du weißt doch, daß er sonst ungemein hochmütig ist, im Gegensatz zu seinem Vater, dem Herrn Kommerzienrat, der stets freundlich und höflich ist. Bis heute hat mich Herr Georg nie beachtet. Heute zeigte er mir zu meinem Erstaunen ein ganz besonderes Interesse. Er schien ganz vergessen zu haben, daß ich nur der Sohn eines Arbeiters bin. Sonst hat er mich das immer in ziemlich unartiger Weise fühlen lassen. Ich möchte wissen, weshalb er plötzlich so verändert war!«
Käthes Stirn hatte sich zusammengezogen.
»Vielleicht ist es ein Unrecht, Heinz, aber ich halte nicht viel von dieser Freundlichkeit. Es mag töricht sein, daß ich bei seinem Anblick immer das Gefühl habe, als sträube sich alles in mir gegen ihn. Jedenfalls habe ich das sichere Empfinden, daß er kein guter Mensch ist.«
Heinz zuckte die Achseln. »Dieses Empfinden habe ich auch. Leider habe ich auch schon zuviel Böses über ihn gehört. Er hat kein Herz für die Arbeiter. Und so gerecht und großmütig sein Vater ist, so ungerecht und kleinlich ist er. Nur eins muß man ihm lassen — er ist ein tüchtiger Geschäftsmann, und als solcher weiß er zu beurteilen, ob man den Werken nützlich ist oder nicht. Deshalb hat man nichts von ihm zu befürchten, wenn man wirklich etwas leistet.«
»Das glaube ich auch. Aber wenn mir ein Mensch unsympathisch ist, so ist er es. Und soviel ich sonst von allen Familienmitgliedern unseres Chefs halte, von ihm halte ich nichts.«
Heinz nahm den Hut ab und ließ den Frühlingswind um seine Stirn wehen.
»Es ist ganz gut, daß du nichts von ihm hältst, Käthe. Du bist ein schönes Mädchen, und Herr Georg Ruhland gilt als ein Don Juan ärgster Sorte. Er hat in dieser Beziehung wohl viel auf dem Gewissen. Hoffentlich ist sein Bruder von anderer Art. Ich hörte, seine Heimkehr stehe bevor. Seit vier Jahren ist er den Carolawerken fern gewesen und soll die halbe Welt bereist haben. Soviel ich mich erinnere, war er ganz anders geartet als sein älterer Bruder. Hoffentlich hat sich das in den vier Jahren seiner Abwesenheit nicht geändert.«
In Käthes Gesicht stieg ein rosiger Schimmer. Aber Heinz sah das nicht, da es dunkel geworden war.
»Ich glaube, er ist mehr nach seiner Schwester geraten. Fräulein Ruhland ist sehr liebenswürdig. Sie ist zu allen Arbeitern freundlich, und so habe ich ihren jüngeren Bruder auch im Gedächtnis«, sagte Käthe.
Ihr Bruder sah eine Weile schweigend vor sich hin. Als Käthe von Fräulein Ruhland sprach, hatte es seltsam in seinen Augen aufgeleuchtet. Die Geschwister blieben jetzt am Flußufer stehen und sahen nach dem anderen Ufer hinüber. Da lag die große, vornehme Villa Ruhland, die der Chef der Carolawerke mit seiner Frau und seiner Tochter bewohnte. Etwas abseits davon lag eine kleinere Villa. Die bewohnte jetzt der älteste Sohn des Kommerzienrats Ruhland, Georg, ganz allein. Aber sie war zugleich als Wohnung für seinen jüngeren Bruder Gert bestimmt. Georg bewohnte das Hochparterre der Villa Carola, und für Gert war die erste Etage reserviert.
Der Kommerzienrat hatte seinen Söhnen möglichst viel Freiheit schaffen wollen, als er ihnen die Villa Carola bauen ließ.
In der Villa Ruhland waren fast alle Fenster erleuchtet, in der Villa Carola nur wenige im Hochparterre. Heinz Lindners Augen suchten die hellen Fenster in der Villa Ruhland. Und sein Herz klopfte unruhig. Hinter welchem dieser Fenster mochte wohl Rose Ruhland weilen?
Er sah sie im Geist ganz deutlich vor sich, die schlanke Gestalt, ihr feines, zartes Gesicht, die großen, dunklen Augen mit dem sanften, freundlichen Ausdruck, den blütengleichen Teint, die schlanken, feinen Hände und die vornehm graziöse Haltung. All diese Einzelheiten hätte er aus dem Gedächtnis malen können, wäre er ein Maler gewesen. So oft schon war sie an ihm vorübergegangen oder -gefahren, in kostbare Gewänder gehüllt, umflossen von dem undefinierbaren Hauch, der die Frauen der bevorzugten Gesellschaftsklasse umgab. Er war bezaubert worden vom Anblick der jungen Dame. Aber am meisten hatten ihn der gütige Ausdruck ihres Gesichts und ihr freundliches Lächeln entzückt. Wenn er an dieses Lächeln dachte, wurde ihm das Herz warm und weit. Und einige Male hatte das Lächeln auch ihm gegolten, ihm allein, und das hatte ihm schlaflose Stunden bereitet.
Einmal hatte sie auch mit ihm gesprochen. Es war an einem Sonntag. Er hatte mit seiner Schwester zusammen einen Ausflug ins Freie gemacht, und Käthe hatte den Arm voll Feld- und Wiesenblumen gehabt. Auf dem Heimweg durch den Wald, unweit dem Parktor, das den zur Villa Ruhland gehörigen Park abschloß, waren sie Rose Ruhland begegnet. Sie war lächelnd stehengeblieben, als die Geschwister auf sie zukamen. Wohlgefällig hatte sie die Eintracht der beiden bemerkt. Die Geschwister hatten Rose Ruhland schon immer interessiert, nicht nur die schöne, sympathische Käthe, sondern auch Heinz Lindner, dessen schlanke, sehnige Gestalt und dessen kluges, interessantes Gesicht ihr wiederholt aufgefallen waren. Mit Käthe hatte sie schon einige Male gesprochen. Sie redete sie auch an jenem Sonntagmorgen an.
»Was haben Sie für herrliche Blumen gepflückt, Fräulein Lindner? Danach haben Sie sicher weit laufen müssen, denn hier blühen sie nicht.«
Käthe hatte freimütig gelächelt. »Zwei Stunden sind wir gewandert, mein Bruder und ich, gnädiges Fräulein, ehe wir die Blumen fanden. Nun sollen sie unsere Zimmer schmücken.«
Rose hatte nach einer besonders schönen Sternblume gefaßt. »Sehen Sie nur, wie köstlich diese Feldblumen sind! Sie sind mir lieber als alle Garten- und Treibhausblumen.«
»Dürfen wir Ihnen einen Strauß davon anbieten, gnädiges Fräulein?« hatte Heinz gefragt.
Rose hatte ihn unschlüssig angesehen. »Ich möchte Sie und Ihr Fräulein Schwester nicht berauben.«
Aber Käthe und Heinz hatten schnell die schönsten Blumen ausgesucht, und Heinz reichte sie Rose mit einer Verbeugung. »Sie machen uns eine Freude, wenn Sie die Blumen annehmen, gnädiges Fräulein.«
Lächelnd hatte Rose nach den Blumen gefaßt. Dabei hatte ihre Hand leicht die seine berührt. Und einen Moment trafen die beiden Augenpaare ineinander. Seltsam hatte es darin aufgeleuchtet. Und in Rose Ruhlands Wangen und in Heinz Lindners Stirn war jäh das Blut geschossen.
»Ich danke Ihnen herzlich«, hatte Rose gesagt und war dann schnell davongeschritten.
Am nächsten Tag aber hatte ein Diener für Käthe Lindner einen großen Strauß Rosen abgegeben. Auf einer Visitenkarte, die angeheftet war, hatte gestanden:
»Als Revanche für die reizenden Feldblumen, die mein Zimmer schmücken, mit freundlichem Gruß
Rose Ruhland.«
Daß Heinz Lindner eine dieser Rosen heimlich an sich genommen hatte und noch heute in seiner Brieftasche verwahrte, wußte außer ihm kein Mensch. Niemand ahnte, mit welchen Gefühlen er an Rose Ruhland dachte und wie ihm das Herz klopfte, wenn er ihr einmal begegnete.
Und nun hing sein Blick mit einem sehnsüchtigen Ausdruck an den erleuchteten Fenstern da drüben. Einer der Schatten, die sich dahinter bewegten, mußte der Rose Ruhlands sein.
Während Heinz Lindner stumm nach der Villa Ruhland schaute, blickte Käthe in Gedanken verloren auf die dunklen Fenster im ersten Stock der Villa Carola. Dort würde Gert Ruhland wohnen, wenn er von seiner Weltreise zurückkehrte
Käthe konnte sich seiner noch ganz genau erinnern. Oft hatte sie ihn an sich vorüber gehen, fahren und reiten sehen. Und eines Sonntagmorgens, kurz bevor er seine Weltreise antrat, war er ihr hoch zu Roß begegnet, als er von einem Spazierritt heimkehrte.
Käthe war damals siebzehn Jahre gewesen. In Trauerkleidern war sie vom Friedhof gekommen, wo sie das Grab ihrer kürzlich verstorbenen Mutter besucht hatte.
Gert Ruhland hatte sein Pferd dicht neben ihr angehalten und hatte sie mit seinen guten, offenen Augen freundlich und teilnahmsvoll angesehen.
»Sie haben einen schweren Verlust erlitten, Fräulein Lindner.«
Unsicher hatte sie zu ihm aufgesehen. »Ja, Herr Ruhland, meine Mutter habe ich verloren«, hatte sie geantwortet.
Da hatte er ihr vom Pferd herab die Hand gereicht. »Gestatten Sie mir, Ihnen meine herzlichste Anteilnahme auszusprechen.«
Mit großen, ernsten Augen hatte sie zu ihm aufgesehen. »Ich danke Ihnen, Herr