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Wo Jugendliche sind, sind Wege (E-Book): Impulse für eine motivierende Berufsorientierung
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Wo Jugendliche sind, sind Wege (E-Book): Impulse für eine motivierende Berufsorientierung

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About this ebook

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen.

Dieser Band bietet vielfältige methodische Impulse zur Begleitung des Berufsfindungsprozesses. Lehrpersonen, Sonderpädagoginnen und -pädagogen, Sozialarbeitende und Coaches finden hier Anregungen für fünf relevante Themenbereiche: Ressourcen entdecken, Visionen entwickeln, Entscheidungen fällen, im Prozess bleiben, Emotionen einbeziehen. Die Impulse öffnen den Blick für ungewohnte Wege und stossen Entwicklungen an. Sie ergänzen bestehende Lehrmittel und lassen sich frei kombinieren.
LanguageDeutsch
Publisherhep verlag
Release dateAug 1, 2022
ISBN9783035521719
Wo Jugendliche sind, sind Wege (E-Book): Impulse für eine motivierende Berufsorientierung

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    Book preview

    Wo Jugendliche sind, sind Wege (E-Book) - Annamarie Ryter

    Vorwort

    Von Zygmunt Bauman stammt die schöne Formel, dass Modernsein bedeutet, in Bewegung zu bleiben. Unruhig. Flexibel. Mobil. Dynamisch. Innovativ. Und so weiter. Diese Modernitätsdynamik treibt auch jeden einzelnen Lebenslauf an und verpflichtet dazu, in Bewegung zu bleiben. Kurz: Moderne Lebensläufe müssen am Laufen gehalten werden. Und zwar von jeder Lebensläuferin beziehungsweise jedem Lebensläufer selbst. Ein Leben lang. In Bewegung bleiben, nicht ins Stocken geraten, sonst drohen rasch: Misserfolg, Desintegration, Prekariat. Nun gehört es allerdings zu den Modernitätserfahrungen, dass man durchaus ins Straucheln geraten kann, ins Schleudern, dass es wenig braucht, um zu stocken. Ein kritisches Lebensereignis. Ein folgenschwerer Unfall. Eine lange Krankheit. Eine schwierige Trennung. Und so weiter. Deshalb haben moderne Gesellschaften zahlreiche und ganz unterschiedliche Lebenslaufhilfen entwickelt.

    Denn erstens kommt kein einziger Lebenslauf ganz alleine in Bewegung – es «läuft» ja in der Regel so: Lebensläuferinnen und Lebensläufer lernen im Familienraum der frühen Kindheit das Laufen. Das freie Gehen. Drei Viertel aller Kinder wagen zwischen elf und fünfzehn Monaten ihre ersten Schritte. Kinder lernen im Familienraum wichtige Fähigkeiten wie Selbstwirksamkeit, Selbstvertrauen, Selbstverantwortung. Mit der frühen Sprachbildung beginnen auch erste Selberlebensbeschreibungen. So lernen die Kinder, im Leben zu laufen.

    Und zweitens braucht die grosse Mehrheit aller Lebensläufe hie und da, über einen kürzeren oder längeren Zeitraum hinweg, mehr oder weniger intensive Lebenslaufhilfen. Zusammengefasst: Lebensläuferinnen und Lebensläufer brauchen einen guten Start und geeignete Hilfestellungen. Denn Modernsein bedeutet eben auch: Atemlosigkeit, ins Straucheln geraten, vom Weg abkommen, das Ziel aus den Augen verlieren, aus dem Tritt geraten. In Bewegung bleiben, heisst also durchaus: Wieder in Bewegung kommen! In besonderem Masse gilt das für die sogenannten Übergänge. Das sind die Schlüsselstellen in modernen Lebensläufen. Und davon gibt es gerade in modernen Lebensläufen unzählige. Lebensläuferinnen und Lebensläufer reihen Übergang an Übergang.

    Ein zentraler Übergang ist jener von der obligatorischen Schulzeit in die nachobligatorische Berufsbildung. Ein Übergang, der für den weiteren Lebenslauf überaus entscheidend ist. Nur mit einem Abschluss der Sekundarstufe II erhalten Jugendliche und junge Erwachsene den Zugang zur Tertiärstufe oder zum Arbeitsmarkt. Er gilt daher als zentrale Voraussetzung für eine nachhaltige Integration in die Wirtschaft und die Gesellschaft. 2020 verfügten etwas mehr als 90 Prozent der rund 82500 jungen Erwachsenen im Alter von 25 Jahren in der Schweiz über einen Abschluss der Sekundarstufe II. Dies geht aus einer topaktuellen Studie des Bundesamtes für Statistik (BFS 2022) hervor, in der die Bildungsverläufe aller Jugendlichen, die 2010 fünfzehn Jahre alt wurden, über einen Zeitraum von zehn Jahren beobachtet wurden. Die wichtigsten Einflussfaktoren für einen erfolgreichen Abschluss der Sekundarstufe II sind: die soziale Herkunft, der Bildungsverlauf in der obligatorischen Schule und die Aufenthaltsdauer in der Schweiz. Auch die statistischen Ergebnisse zeigen also: Es braucht einen möglichst guten Start und dann und wann eine geeignete Hilfestellung. Insbesondere an Übergängen, zu denen es ja durchaus gehört, dass Lebensläuferinnen und Lebensläufer stehen bleiben, die (Bildungs-)Landschaft prüfen, zögern, zurückschauen, nachdenken, zweifeln, einen ersten möglichen Weg ausprobieren, vielleicht den Mut verlieren, sich dann doch entscheiden und wieder ins Grübeln geraten und so weiter. Und mit jedem Übergang auch das Hinübergehen üben. Lebenslaufkompetenz ist auch Übergangskompetenz. Für ein ganzes Leben lang. In Bewegung bleiben heisst: übergänglich sein!

    Lehrerinnen und Lehrer, Sonderpädagogen, Berufsberaterinnen, Sozialarbeiter, Sozialpädagoginnen, Berufsintegrationscoachs, die Jugendliche im Berufswahlprozess unterstützen, müssen diese Übergangskompetenzen kennen, berücksichtigen, in Rechnung stellen. Dann sind sie in der Lage, Übergänge so mitzugestalten, dass sie zwar schwierig und anspruchsvoll bleiben und gerade deshalb Entwicklungen fordern und ermöglichen. Und nicht: überfordern, deprimieren, ohnmächtig machen. Wer Lebensläuferinnen und Lebensläufer begleitet, braucht erstens Sensibilität für Übergangskompetenz. Und zweitens: ein Set an methodischen Möglichkeiten, um diese Kompetenzen zu fördern, zu stärken und zu vermitteln. Lebenslaufhilfen laufen vielleicht ein Wegstück lang mit. Oder sie zeigen eine Karte mit den möglichen Wegen. Oder sie installieren Wegmarken und Meilensteine. Und stets: sensibel, angemessen, methodisch geschickt. Der Band «Wo Jugendliche sind, sind Wege» nimmt junge Lebensläuferinnen und Lebensläufer in den Blick und leistet genau hierzu eine überaus wichtige Hilfestellung. Es handelt sich um methodisch-konzeptionelle Hilfen, um die Lebenslaufgestaltung zu unterstützen. Denn auch Fachpersonen sollen in Bewegung bleiben.

    Zürich, den 05.03.2022

    André Woodtli, Amtschef, Amt für Jugend und Berufsberatung, Bildungsdirektion des Kantons Zürich

    Zu diesem Buch

    «Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten kann angesichts der Hindernisse der Umweg sein.» (Bertolt Brecht, Schriftsteller, 1898–1956)

    Dieses Buch liegt heute dank zahlreicher Fachpersonen, die uns mit ihren Ideen, Anliegen und Arbeiten bereichert und so zu seinem Entstehen beigetragen haben, vor. Seit 15 Jahren bieten wir Weiterbildungen [1] für Lehrpersonen, Sozialarbeitende, Sonderpädagogen und Sonderpädagoginnen, Jobcoaches sowie andere Fachpersonen an. Diese arbeiten mit verschiedenen Zielgruppen an unterschiedlichen Orten – in der Regelschule, in Brückenangeboten, Motivationssemestern oder anderen Berufsintegrationsangeboten. Was sie verbindet, ist die Aufgabe, Jugendliche und junge Erwachsene im Prozess der Berufsfindung [2] zu begleiten (vgl. Ryter & Schaffner 2015, 2020).

    Eine berufliche Ausbildung zu haben, ist unter gegenwärtigen Bedingungen des Arbeitsmarktes eine zentrale Voraussetzung für eine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt und lebenslanges Lernen. Zugleich sind die Übergänge in die Erwerbsarbeit länger und in der Bewältigung anspruchsvoller geworden (u.a. Meyer 2018; Neuenschwander & Nägele 2017). Das fordert die Jugendlichen heraus – insbesondere dann, wenn persönliche, soziale oder strukturelle Voraussetzungen die Berufsfindung erschweren. Erfreulich ist: Der beruflichen Ausbildung wird gegenwärtig hohe Bedeutung beigemessen. Leitend ist das bildungspolitische Ziel, wonach 95 Prozent der jungen Menschen bis zum 25. Altersjahr einen Abschluss auf der Sekundarstufe II erwerben sollen (vgl. EDK 2020). Damit verbunden gewinnt die Begleitung bei der Berufsfindung zunehmend an Gewicht. Berufliche Orientierung wurde im Lehrplan der Regelschule verankert, die Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung ausgebaut. Im Übergang in die Berufsbildung stehen vielfältige Zwischenlösungen und Angebote zur Unterstützung und Beratung im Berufsfindungsprozess bereit. Vielfältige Lehrmittel für unterschiedliche Zielgruppen sind verfügbar und berufswahlrelevante Informationen werden auch online angeboten.

    Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Braucht es noch einen weiteren Methodenband? Bestehende Lehrmittel und Informationsmaterialien bieten eine gute Grundlage für die Berufsorientierung. Sie strukturieren den Prozess, bieten eine Übersicht über relevante Themen sowie konkrete Unterrichtseinheiten. Strukturierte Lehrmittel, lineare Prozessmodelle und Informationsvermittlung reichen allerdings oft nicht aus. Denn der Berufsfindungsprozess verläuft individuell, und nicht immer lässt sich so einfach eine Passung zwischen individuellen Voraussetzungen und beruflichen Anforderungen herstellen. Fachpersonen in der Weiterbildung fragen häufig: Was können wir tun, wenn Jugendliche auf ihren Berufswünschen beharren, offerierte Ausbildungsmöglichkeiten ablehnen, zu hochgegriffene Wünsche haben oder ihre Energie für andere Entwicklungsthemen benötigen? Dann – so unsere Erfahrung – wird es interessant und die Fachpersonen können ihr pädagogisches Knowhow einbringen. Uns Autorinnen wurde im gemeinsamen Denken und im Austausch mit Fachpersonen und Jugendlichen klar: «Wo Jugendliche sind, sind Wege.» Prozesse können zwar ins Stocken geraten oder Umwege erforderlich machen, doch Entwicklung geschieht immer und sorgt oft für Überraschungen.

    Berufsfindung ist zu einem hohen Anteil Persönlichkeitsentwicklung. Diese verläuft individuell, offen, selten idealtypisch, kann beschleunigt erfolgen oder verzögert. Sie wird durch biologische Veränderungen, oft aber durch äussere Anforderungen und Krisen ausgelöst: «Krisen sind Angebote des Lebens, sich zu wandeln», so die Schriftstellerin Luise Rinser. Entwicklung braucht daher manchmal Zeit. In der Weiterbildung hören wir jeweils: «Aber diese Zeit haben wir nicht.» Die engen Zielvorgaben und der knappe Zeitrahmen sind tatsächlich herausfordernd. Wir sind jedoch überzeugt, dass Entwicklung Zeit und Raum braucht, ebenso Auseinandersetzung und die Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln. Daher ist es wichtig, die Jugendlichen in ihrer individuellen Entwicklung zu begleiten und den Druck durch arbeitsmarktliche Erwartungen und Normalitätsvorstellungen zu Lebensläufen etwas zu vermindern.

    Und noch etwas: Berufsfindungsprozesse werden zwar individuell durchlaufen, aber nicht losgelöst vom sozialen Kontext. Jugendliche finden über Eltern, Fachpersonen und Peers idealerweise Unterstützung und Orientierung. Zugleich wird ihnen durch konkrete Erfahrungen im Alltag, in der Schule, im Integrationsangebot oder im Betrieb bewusst, welche Erwartungen, Chancen, Benachteiligungen oder gar Diskriminierungen bestehen. Es geht in diesem Entwicklungsprozess daher auch um komplexe Abstimmungsprozesse zwischen inneren und äusseren Möglichkeiten und Begrenzungen. Dieser Prozess kann auch zu Frustrationen führen, ja Krisen auslösen und gerade dadurch Entwicklung anstossen. Hier ist Begleitung und Beratung wichtiger als Informationsvermittlung, wie auch die Forschung zeigt (vgl. Neuenschwander 2018).

    Die Begleitung von Berufsfindungsprozessen erfordert daher ein umfassendes Entwicklungsverständnis und das Bewusstsein, dass Entwicklung grundsätzlich nicht geplant oder verfügt werden kann. Fachpersonen können Impulse setzen, Erfahrungen und Auseinandersetzungen mit Wünschen und Bedürfnissen ermöglichen, Reflexionen anregen und Strategien zur Bewältigung anspruchsvoller Erfahrungen anbieten. Und sie können Jugendliche im Umgang mit strukturellen Bedingungen, Erwartungen und Zuschreibungen stärken. Das heisst, «wir ziehen nicht am Gras, damit es wächst», sondern adressieren Jugendliche in ihren Ressourcen, unterstützen sie dabei, eigenverantwortlich zu handeln und ihren Weg zu finden.

    Wir Autorinnen sind der Überzeugung, dass eine entwicklungsorientierte, offene Haltung wichtig ist. Dabei orientieren wir uns an

    Coaching-Ansätzen, um die Jugendlichen in ihrer Eigenverantwortung zu stützen,

    ressourcen- und kompetenzorientierten Ansätzen zur Auseinandersetzung mit ihren Fähigkeiten und ihrem Potenzial,

    systemisch-lösungsorientierten Ansätzen, die auf motivationale Ziele und die Umsetzung bezogen sind,

    handlungsorientierten Ansätzen, die die Notwendigkeit von eigenen Erfahrungen betonen und das Tun in den Vordergrund stellen,

    diversitätsbewussten Ansätzen, die anerkennen, dass «wir gleich und anders sind» (Pat Parker),

    spielerischen, künstlerischen und humorvollen Zugängen, weil es Jugendlichen damit leichter fällt, sich auf Entwicklungsthemen einzulassen und Neues zu erproben.

    All diese Ansätze basieren auf einer wertschätzenden, ressourcenorientierten Haltung. Sie können Jugendliche motivieren, im Prozess zu bleiben oder wieder einzusteigen – wenn sie erleben, dass es um sie selbst geht. Ein als gemeinsam verstandener Prozess stärkt nicht nur die Selbstverantwortung der Jugendlichen, sondern auch die Beratungsbeziehung und das Gruppenklima. Der vorliegende Band «Wo Jugendliche sind, sind Wege» bietet eine Sammlung von methodischen Impulsen für eine entwicklungsorientierte Begleitung von Berufsfindungsprozessen.

    Einleitend wird unser Verständnis der Berufsfindung als Prozess ausgeführt und im Sinne einer «Beratungs-Toolbox» eine knappe Einführung zu den methodischen Ansätzen angeboten. Dann folgen die methodischen und teilweise thematischen Impulse, die in fünf für den Berufsfindungsprozess zentrale Bereiche gegliedert sind.

    Zu jedem dieser Bereiche gibt es eine kurze Einführung. Die einzelnen Impulse lassen sich frei kombinieren und einsetzen. Es ist deshalb nicht notwendig, den Methodenband systematisch von vorne bis hinten zu lesen. Die Impulse können situativ gewählt werden – nämlich dann, wenn es etwas anderes braucht, wenn Kreativität und neue Zugänge nötig sind. Die Impulse können auch leicht mit bestehenden Lehrmitteln für die Berufsorientierung kombiniert werden. Einsetzen lassen sie sich sowohl in der Einzelberatung als auch in der Arbeit mit Klein- und Grossgruppen. Sie beziehen sich nicht nur auf den Berufsfindungsprozess, sondern können auch in anderen Kontexten genutzt werden, um Persönlichkeitsentwicklung anzustossen. Wir grenzen uns explizit ab von psychotherapeutischen Ansätzen. Hier gilt es, sorgfältig zu prüfen, wann Jugendliche mit einer bestimmten Problematik die Hilfe von spezialisierten Fachpersonen benötigen.

    Entwicklungen im Kontext der Berufsorientierung zeigen, dass die Digitalisierung auch hier Auswirkungen hat: Berufsportraits, Berufsmessen und Informationsmaterialien, aber auch Bewerbungstools werden zunehmend digital aufbereitet und online angeboten. Dagegen existieren noch wenig didaktische Hilfestellungen, wie diese vielfältigen Materialien und Technologien genutzt werden können. Einige Impulse im Methodenband bieten daher Ideen und Anregungen zum Einbezug von digitalen Medien. Wichtig ist jedoch: Es geht um das Tun, das Sammeln von Erfahrungen und um Reflexion. Die Informationen allein stossen kaum Entwicklungsprozesse an.

    Die methodischen Impulse eignen sich für die Begleitung aller Schülerinnen und Schüler [3] , Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Berufsfindungsprozess. Die vielfältigen Erfahrungen mit verschiedenen Zielgruppen zeigen, dass sie sich gerade auch für junge Menschen mit herausfordernden Verläufen eignen: für Schüler und Schülerinnen mit besonderen Bedürfnissen, für junge Erwachsene mit komplexen Problemlagen oder für spätmigrierte Jugendliche. Sie sind aber auch für Regelklassen und leistungsstarke Jugendliche attraktiv, weil sie andere, ganzheitliche Zugänge bieten, die Entwicklung anregen. Sie lassen sich fächerübergreifend einsetzen und erweitern, trotz knapper Ressourcen für die Berufsorientierung in der Regelschule. Die methodischen Impulse können und sollen an die jeweiligen Kontexte (Alter, kognitive Fähigkeiten, Aufmerksamkeitsspanne, Sprachfähigkeiten etc.) angepasst werden. Hier vertrauen wir auf die Fachpersonen, die wissen, was ihre Zielgruppen brauchen.

    Dank

    An dieser Stelle sei allen Fachpersonen gedankt, die Ideen zu den methodischen Impulsen beigesteuert haben, die Methoden ausprobiert und uns Feedback gegeben haben. Es sind dies: Antonio D’Agostino, Doris Bachmann, Nicole Boruvka, Stella Gött, Daniel Keiser, Jonas Meyer, Claudia Moritz-Stähelin, Brigitte Rey, Dorothee Schneider, Nadia Schoop, Evelin Studer und Fabiano Von Felten. Ebenso danken wir den Jugendlichen, die über die Fachpersonen Rückmeldung an uns gaben. Und schliesslich geht ein besonderer Dank an den Berufslernenden Tobias Tim, der die Illustrationen für die fünf Kapiteleinleitungen gezeichnet hat. Mit seiner «Mops-Figur» hat er den Blick eines Jugendlichen auf die Themenbereiche eingebracht. Als Letztes bleibt uns noch, den «Sponsoren» zu danken: der Ernst Göhner Stiftung.

    Vertiefen

    EDK (2020). Tätigkeitsprogramm 2021–2024. Online: https://www.edk.ch/de/themen/berufsbildung [Zugriff: 22.02.2022].

    Meyer, Thomas (2018). Von der Schule ins Erwachsenenleben: Ausbildungs- und Erwerbsverläufe in der Schweiz. In: Social Change in Switzerland, Nr. 13.

    Neuenschwander, Markus, P. & Nägele, Christof (Hrsg.) (2017). Bildungsverläufe von der Einschulung bis in den ersten Arbeitsmarkt. Theoretische Ansätze, empirische Befunde und Beispiele. Wiesbaden: Springer VS.

    Neuenschwander, Markus, P. (2018). Wirksame Berufsorientierung. In: Bildung Schweiz, 163(10), S. 32–33.

    Ryter, Annamarie & Schaffner, Dorothee (Hrsg.) (2015). Wer hilft mir, was zu werden? Professionelles Handeln in der Berufsintegration. Bern: hep.

    Schaffner, Dorothee & Ryter, Annamarie (2020). Jugendliche im Übergang professionell begleiten: Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Professionsverständnis in einem interprofessionellen Handlungsfeld. In: Brüggemann, Tim & Rahn, Silvia (Hrsg.). Berufsorientierung. Ein Lehr- und Arbeitsbuch (2. überarb. und erw. Auflage). Münster: Waxmann, S. 541–547.

    Berufsorientierung als Prozessbegleitung

    «Zu wissen, dass Veränderung möglich ist, und der Wunsch, Veränderungen vorzunehmen, dies sind zwei große erste Schritte.»

    Virginia Satir, Psychologin und Familientherapeutin, 1916–1988

    Berufsfindung als Entwicklungsaufgabe des Jugendalters

    Jugendliche im Übergang von der Schule zum Beruf stehen vor einer ebenso bedeutsamen wie herausfordernden Aufgabe. Berufsorientierung heisst ja nicht nur, über eigene Wünsche und Fähigkeiten nachzudenken, sondern nach vielen Jahren die vertraute schulische Lebenswelt zu verlassen und den Schritt in ein neues, noch unbekanntes Umfeld zu wagen. Damit verbunden ist die Zunahme von Selbstbestimmung, also die Übernahme von Verantwortung für die eigenen Entscheidungen und Handlungen. Je nach sozialen, familiären und persönlichen Voraussetzungen stellt dies eine grosse Hürde dar und löst Verunsicherung aus. Meist wissen Jugendliche nicht genau, welche Anforderungen im künftigen Beruf an sie gestellt werden und was in der Arbeitswelt auf sie zukommt. Sie fürchten vielleicht den Verlust von Freiheiten, eigenes Versagen oder Ablehnung. Sie fragen sich: «Werde ich in der neuen Umgebung von Vorgesetzten und Mitarbeitenden angenommen und bestehen können? Wird es mir dort auch wirklich gefallen?» Gerade in der sensiblen Lebensphase der Adoleszenz mit vielen anderen Entwicklungsaufgaben sollen Jugendliche auch noch den «richtigen» Beruf bzw. die «richtige» Ausbildung finden. In dieser Phase sind sie zudem mit Erwartungen ihrer Eltern konfrontiert. Jene haben zuweilen klare, auch statusorientierte Vorstellungen, was erreicht werden soll. Nicht selten nehmen Eltern grosse Entbehrungen in Kauf, um ihren Kindern eine «bessere» Ausbildung zu ermöglichen. Ausbildungen der Kinder sind deshalb oft auch Familienprojekte.

    Unter Druck von allen Seiten?

    Der Zeitpunkt, an dem Jugendliche eine berufliche Entscheidung fällen müssen, unterscheidet sich je nach Ausbildungsweg. Jugendliche in allgemeinbildenden Ausbildungsgängen treffen ihre Studienwahl mit 18 oder 20 Jahren. Ihnen wird eine längere Phase zugestanden, in der sie sich selbst kennenlernen und ihre Möglichkeiten erkunden können. Wer jedoch direkt in die Berufsbildung einsteigt, muss sich bereits mit 15 Jahren kennen, einen Entscheid fällen und einen Ausbildungsplatz suchen. Für Jugendliche, die in belasteten Lebenssituationen aufwachsen, ist das besonders herausfordernd. Sie kommen zuweilen von vielen Seiten unter Druck und erfahren auch systembedingte Widersprüche hautnah. Das bereits genannte bildungspolitische Ziel, dass 95 Prozent der Jugendlichen einen Abschluss auf Sekundarstufe II erreichen, ist begrüssenswert. Zugleich finden gerade Jugendliche mit Mehrfachproblematiken nicht ohne Weiteres einen geeigneten Ausbildungsplatz. Sie verfügen für die hochtechnologische Arbeitswelt (noch) nicht über jene Fähigkeiten, die der aktuelle Ausbildungsmarkt sucht und verlangt. Das gilt besonders – aber nicht nur – für Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen und Spätmigrierte. So erleben viele Jugendliche die angebliche «Berufswahl» als sehr eingeschränkt, sie müssen Rückschläge in Kauf nehmen, Kompromisse eingehen und doch den Selbstwert erhalten. Sie brauchen Mut, auch mal «Nein» sagen zu dürfen und äusserem Druck zu widerstehen, wenn es um ihr Leben geht. Denn wer sich zu sehr verbiegt, um «irgendeinen» Ausbildungsplatz zu bekommen, wird dort unglücklich und den Ausbildungsvertrag schon bald wieder auflösen.

    Wie oben bereits dargelegt, ist Berufsfindung damit ein komplexer, anspruchsvoller Entwicklungsprozess – und zwar für die Jugendlichen selber, für ihre Eltern wie auch für die begleitenden Fachpersonen. Der Titel dieses Buches kann daher auch als Ermutigung verstanden werden, nämlich zuversichtlich darauf zu vertrauen: «Wo Jugendliche sind, sind Wege.»

    Begleitung heisst Beziehung

    Vertrauen und Zutrauen, Wohlwollen und Hoffnung bilden die Basis für eine gelingende Prozessbegleitung: Jugendliche brauchen Erwachsene, die ihre Verhaltensweisen zu verstehen versuchen (statt rasch zu urteilen), die sie partizipieren lassen und mit ihnen zusammen kreative Lösungen suchen. Sie brauchen Rückendeckung in ihrem Unterfangen oder mit den Begriffen von Bauer und Hegemann gesprochen: Erwachsene, die die «Versorgung» im «Base Camp sicherstellen» und gelassen mit widersprüchlichen Signalen und «Wetterwechseln» umgehen können (2021, S. 42f.). Es gilt, Jugendliche ernst zu nehmen und zugleich den Humor zu pflegen, denn systemisches Arbeiten «ohne Humor ist nicht nur witzlos, sondern auch fast chancenlos» (ebd., S. 43). Begleitung heisst also in erster Linie, eine kooperative Beziehung aufzubauen und Wertschätzung auch in Konflikten beizubehalten. Das ist nicht immer einfach, weil Fachpersonen oft unterschiedliche Rollen innehaben.

    Unterschiedliche Rollen pädagogischer Begleitpersonen

    Fachpersonen, die Jugendliche im Berufsfindungsprozess begleiten, sind vielfältig gefordert und übernehmen unterschiedliche Aufgaben (vgl. Schaffner & Ryter 2015). Sie vermitteln Fachwissen im Hinblick auf Berufe, das Bildungssystem und den Bewerbungsprozess. Gleichzeitig begleiten und fördern sie individuelle Entwicklungs- und Berufsfindungsprozesse, arbeiten mit Fachstellen zusammen und vernetzen sich mit Betrieben. Als Vertretung der Institutionen setzen sie gegenüber den Jugendlichen auch Regeln durch und zeigen Grenzen auf. Sie sind also je nach Situation Fachvermittelnde, Coaches, Vernetzende und Kontrollierende zugleich, handeln unter vier unterschiedlichen «Hüten». Das erfordert eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Rollen und Transparenz gegenüber den Jugendlichen. Weil es sich bei der Berufsfindung um einen Entwicklungsprozess handelt, lässt sich Berufliche Orientierung auch nicht einer reinen Fachlogik folgend vermitteln. Vielmehr geht es um ein Coaching von Lernprozessen, weshalb hier auch der Begriff «Berufsintegrationscoaching» verwendet wird (Ryter & Schaffner 2015, 2017). Begleitende Fachpersonen brauchen für diese Aufgabe – neben der Fähigkeit, gezielt Lernprozesse anzuleiten, Erfahrungen zu ermöglichen und Jugendlichen Struktur zu geben – Coachingkompetenzen.

    «Coaching» als professionelle Orientierung für Fachpersonen

    Gelingendes Coaching basiert auf einer entsprechenden Haltung. [4] Zentral ist die Einsicht, dass alle Menschen Expertinnen und Experten ihres eigenen Lebens sind. Auch für die Berufsintegration gilt: «Die Kunst im Coaching besteht darin, die Jugendlichen mit gezielten Fragen zu ermächtigen, ihre Ziele selber zu setzen.» (Ryter & Schaffner 2017). Die Jugendlichen wissen meist besser, was sie können bzw. realistisch anpacken werden. Strategien werden daher mit ihnen zusammen entwickelt, das ist deutlich wirksamer, als «Rat-schläge» zu geben. Ein Coach hört neugierig zu, hilft zu klären und unterstützt die Jugendlichen, an sich selbst zu glauben und ihren eigenen Weg zu gehen. Ein Coach würdigt die bisher unternommenen Schritte,

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