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Brombeerkind
Brombeerkind
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Ebook210 pages2 hours

Brombeerkind

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About this ebook

Die Frau am Fenster – sie hat etwas erlebt, das sie belastet und worüber sie nicht sprechen kann. Stattdessen versetzt sie sich in ein grünäugiges Mädchen, das sie von ihrer Berliner Wohnung aus beobachtet und dessen nicht minder dramatisches Leben sie sich zusammenreimt. Der Plan der Frau, sich zu entfliehen, geht jedoch nicht auf. Denn da gibt es auch einen Journalisten. Er will eine Story: über jemanden, der Schuld am Tod eines Menschen hat …
Die Geschichte der Frau und des Mädchens ist berührend zart und bedrückend hart. Und sie wirft die Frage auf, was wahr ist und was erfunden und ab wann diese Frage keine Rolle mehr spielt.
LanguageDeutsch
Release dateMar 20, 2021
ISBN9783897419339
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    Brombeerkind - Waltraud Schwab

    Waltraud Schwab

    BROM

    BEER

    KIND

    Ein Roman,

    oder was man so Roman nennt

    ULRIKE HELMER VERLAG

    eISBN 978-3-89741-933-9

    ISBN 978-3-89741-450-1

    © 2021 eBook nach der Originalausgabe

    © 2021 Copyright Ulrike Helmer Verlag, Roßdorf b. Darmstadt

    Alle Rechte vorbehalten

    Covergestaltung: Atelier KatarinaS / NL

    unter Verwendung des Fotos »Frau inmitten einer geschäftigen

    Menschenmenge« © axelbueckert / photocase.de

    www.ulrike-helmer-verlag.de

    Für

    Alberta und ihre Schwestern

    ***

    Kiss, die nie anders heißen wollte

    ***

    alle Menschen, die am 11. 9. 2001 in New York starben

    ***

    Conny 1 und Conny 2, die verschwunden sind

    ***

    die Nerds, die auf pinkfarbene Turnschuhe stehen

    ***

    die Frau, die in der Togostraße in Berlin

    ihr Zwergschwein ausführt

    ***

    die Teenager aus der Extraklasse

    ***

    den jungen Volkspolizisten, der sie nicht aufhielt

    ***

    das Recht auf Verneinung

    ***

    und für

    die Kinder, die im Meer ertrinken

    ***

    1

    Was das soll? Frag nicht. Sie tut, was sie tut. Nimmt eine Prise Salz aus der Packung, die aufgerissen ist, das Papier ausgefranst, streut es über Gurken, Tomaten, Blätter, andere Blätter, holt die Schere aus einer Schublade, erschrickt, hält inne, und mit der Schere in der Hand dreht sie sich um, lauscht zur Tür – ist da wer?

    Jemand? Niemand? Sie lauscht, horcht auf, horcht auf diese Verschiebungen im Raum, die zur fremden Anwesenheit gehören, und spürt doch nur sich: den lauten Herzschlag, das rasende Blut, den Pulsschlag im Kopf. Dieser Moment, in dem jemand unsichtbar die abgestandene Luft zum Schwingen bringt und da ist, da ist, größer ist als alles andere, riesig, das Zimmer ausfüllt, das hinter der Küche liegt, jeden Winkel bis unter die mit Stuck verzierte Decke – das ist der Moment, in dem sie die Kontrolle verliert. Das Ungewisse hat sie im Griff. Mit der Schere in der Hand.

    Ist da jemand?

    Eine Sekunde, einen noch kleineren Bruchteil als eine Sekunde lang ist sie ausgelöscht. Dann spürt sie die Angst, stützt sich mit der anderen Hand auf die Ablage, auf der noch die Zwiebelschalen liegen, wischt die Finger an der Schürze ab – sie trägt so eine altmodische mit Rüschen an den Trägern –, streicht sich über die Stirn, steckt eine Haarsträhne hinters Ohr, als hätte sie ihren Körper noch unter Kontrolle.

    »Ist da jemand?«

    Keine Antwort.

    Sie macht einen Schritt zur Küchentür, zögert, lauscht, geht noch einen Schritt, noch einen. Dann, mutiger geworden, betritt sie das Zimmer hinter der Küche. Und sieht: niemanden.

    Das Fenster zum Balkon steht offen, der Vorhang bewegt sich leicht im Wind. Sie durchquert den Raum, vorsichtig greift sie nach dem Griff der anderen Tür, der zum Flur, und dann passiert es (denn so weit ist sie schon gekommen, jetzt will sie wieder Gestalt annehmen, niemand soll sie auslöschen): Sie reißt die Tür auf. Nichts.

    Doch so einfach ist das nicht. Wovor sie Angst hat, das ist noch unsagbar. Sie hat diese Mauer um sich aus dunklen Gedanken. Niemand hat sie eingerissen, ist eingebrochen, durch­gedrungen bis zu ihr. Gelingt es jemandem, ist sie verloren. Noch will sie nicht erkannt sein.

    Sie geht zurück ins Zimmer, sie spürt die Kopfschmerzen wieder, die sie schon vorher plagten, wendet sich der Balkontür zu, schiebt langsam, zu langsam, den langen weißen Vorhang zur Seite, niemand dahinter.

    Sie schaut vom zweiten Stock, in dem sie wohnt, hinunter auf die Straße. Der Blick auf die oberen Etagen der Häuser auf der anderen Seite verstellt vom Blattwerk der Bäume, die in der Mitte stehen.

    Noch einmal ist sie davongekommen. Sie atmet auf.

    Da sieht sie die vier Mädchen, die in diesem Augenblick um die Ecke kommen, rauchend. Sie hatte gehofft, dass sie da sind, hat sie gesucht an allen Ecken der Straße. Sind sie da, kann sie sich an ihnen festhalten. Die eine von ihnen, die links, die Grünäugige, ist ihr die Liebste. Die Selbstverständlichkeit, mit der diese jetzt der in der Mitte in die Rippen pufft, irritiert die Frau am Fenster und fasziniert sie doch, denn die fast schon erwachsene Autorität, die die Grünäugige ausstrahlt, ist stark. Die Mädchen kichern. Sie sind von der Schule drüben um die Ecke; sie treiben sich oft in der Straße herum. Es ist eine Mädchenstraße.

    Zwei Querstraßen weiter, dort, wo auch die Gitter sind, die den Bolzplatz einzäunen, treffen sich dagegen die Jungen ganze Nachmittage lang. Ganze Abende, Nächte. Sie hat das beobachtet, wie sie auch ihre eigene Angst und also ihre eigene Vergangenheit beobachtet und dabei niederkämpft, da sie, ließe sie die Vergangenheit zu, doch mit jeder Faser ihres Körpers spüren würde, dass sie ihr Kind vermisst.

    Die Frau, die eben noch außer sich war, geht zurück in die Küche. Jetzt schämt sie sich, dass es wieder über sie gekommen ist. Aber Scham ist sinnlos. Niemand ist da. Und es Scham zu nennen, wozu? Vielmehr, das wird jetzt klar, ist ihr Gefühl, das sie aufschrecken ließ, eins der Erwartung. Sie erwartet, dass etwas geschieht. »Ich wollte mich schälen wie eine Zwiebel«, sagt sie in die Küche hinein und erschrickt ob ihrer eigenen Stimme. Erst jetzt merkt sie, dass sie die Schere noch immer fest in der Hand hält, ihre Knöchel ganz weiß.

    Wo sie nun wieder in der Küche ist, stockt der Fortgang der Geschichte, denn so eine soll es sein; aufgeschrieben in dieser harten Sprache, in der es »Stacheldraht« heißt, hart, präzise, kalt. Nicht »stachliger Draht« als wäre es ein Tausendfüßler, ein Schlangenkaktus, eine Brombeerrute.

    Nein, Stacheldraht. Sie sieht ihn vor sich. Es ist die Sprache, die für Verordnungen taugt, sie hat das erfahren, mit Maßnahmen, Stundenplänen, Regeln. Eine Zeit lang hat das Vorgegebene sie zusammengehalten, sonst hätte sie sich aufgelöst.

    Aber ach, das Andere gibt es auch. Dass die Sprache keine Grenzen setzt, dass sie Fenster öffnet, weil man sich Zeug ausdenken kann, einfach so: Unterwasserschrank, Göttermilch, Luftröhrenweste, verrauchte Zwergenangst. Wörter, die verzaubern, bevor diejenigen, die sie lesen, sich schulterzuckend abwenden, weil die Wörter wie Träume sind. Gäbe es diese Wildheit in der Sprache nicht, wären die Leute Gefangene ihrer eigenen Sätze. Sie weiß das, denn bevor sie diese Mauer um sich gebaut hat, hat sie sich festgehalten am Unmöglichen, hat die Farben der Sehnsuchtsquallen besungen, bei Gewittern Schutz unter Schmerz­bäumen gesucht und vom karamellisierten Herzwasser getrunken. Sie war Sängerin, eine, die Lieder schreibt. Jetzt aber hat sie Angst vor dem Sprechen. Und vor dem Singen erst recht.

    Also Angst.

    Auch die Mädchen da unten auf der Straße vor ihrem Balkon kennen Angst, selbst wenn sie furchtlos tun. Die Frau hat, wenn sie langsam die Mädchenstraße entlanggeht und die Teen­ager beobachtet, wie diese sich nach der Schule hier herumtreiben – wohl wegen der Bank, die zwischen den Bäumen in der Mitte der Straße steht, fast eine Allee also –, auch die Angst im Blick der Mädchen gesehen. Und ihre Verlorenheit. Aber ihre Hoffnung, dass Großes geschehen wird, ist größer.

    Eben noch für einen Moment ausgelöscht, stiehlt sich diese Frau nun doch wieder in die zukünftigen Leben anderer hinein, in die dieser jungen Mädchen da auf der Straße, um sich vor ihrem eigenen zu verstecken. Sie weiß, dass das feige ist, schilt sich auch einen Feigling, jetzt, wo sich ihre Furcht auflöst und ihr gestocktes, gefrorenes Blut nicht in Würfel geschnitten serviert wird.

    Obwohl diese Frau, Maria F. soll sie heißen, in der Togostraße in Berlin soll sie wohnen, also die Hauptrolle spielt in diesem Zeug, das da aufgeschrieben wird, findet sie nun, dass die Geschichte eines der Mädchen von unten von der Straße – sie meint die Grünäugige, der sie manchmal sogar in einiger Distanz folgt – erzählt werden soll und nicht ihre eigene, die sie für ein paar Momente aus der Fassung gebracht hat.

    Aus der Fassung?

    Ja.

    Sie schaut, als wäre es selbstverständlich, sich so von Worten leiten zu lassen, zur Decke, von der die Glühbirne hängt, zwischen Herd und Schrank, ohne Lampenschirm, weil sie in ihrem Leben, und das dachte sie auch früher schon, keinen Lampenschirm finden wird, der ihr gefällt, da Lampenschirme wie Kraken sind, wie Zumutungen in gefasstem Barock, wie monströse blinde Augen, wie Hüte aus einem längst vergangenen Sommer.

    Sie ist jetzt froh, dass sie sich mit dem Gedanken an Lampenschirme ablenken kann. Denn eigentlich will sie, was sie zu sagen hat, einfach sagen, schmucklos wie diese Glühbirne. Nur kann sie es nicht einfach erzählen, weil sie das Ende noch gar nicht kennt.

    Aber eines ist klar: Maria F. wird trotz ihrer eigenen Schwäche, die sie erfasste, als sie nach dem Zwiebel schälen zur Schere gegriffen hatte, kein Mitleid mit dem grünäugigen Mädchen haben, zumindest nicht mit Worten.

    2

    Dieses grünäugige Mädchen also.

    Wenn die Teenager um die Bank in der Mitte der Straße, ihrer »To-go-Straße« herumstehen, kichernd, saumselig, alles wissend, Smartphones in den Händen, bleibt sie am Rand. Ihren Kopf hält sie gesenkt, ihre unruhigen Augen indes blicken stets hin und her und nach oben, als wolle sie in alle vier Richtungen gleichzeitig schauen. Das gibt ihr einen katzenhaften Blick. Sie raucht wie die anderen, sie lacht wie die anderen und sie checkt, was passiert. Männer, die etwas aus Lieferwagen ausladen, DHL, Hermes, Möbel Höffner. Autofahrer, die langsamer werden, wenn sie vorbeifahren. Manche hupen, wenn sie die Mädchen sehen. Die schauen kurz auf und dann vernichtend zur Seite. Manchmal winken sie auch. Die Grünäugige winkt nie. Sie schaut auf ihr Smartphone.

    Da, eine Nachricht.

    »Von wem?«, fragt eines der anderen Mädchen.

    »Taifun.«

    »Was sagt er?«

    »Was ich mache und so.«

    Und?

    Sie geht. »Tschau, bye-bye, haydi tschüss.«

    Das grünäugige Mädchen – ein Viertel Balkan, ein Viertel Antalya, das gesamte osmanische Reich, der Rest Berlin, also ganz Berlin, mit Hugenotten, GIs, polnischen Dienstmädchen, und die Mutter schon tot – schlendert die Straße hoch, checkt die Kreuzung, vor der die Straße verkehrsberuhigt ist, überquert den Platz, auf dem Autos parken, geht dorthin, wo die Jungen abhängen.

    Taifun, schlecht gelaunt, steht beim Bolzplatz, raucht, wirft seine Zigarette weg, als er sie sieht, steigt ins Auto, BMW, chic chic, sie steigt auf der anderen Seite ein. Die beiden fahren weg.

    Aber Maria F. weiß mehr. Sie hat das gesehen, wenn sie der Grünäugigen folgte und die sich ins Auto setzte, das abseits stand, am Ende der Sackgasse, hinter der der Zaun um den Bolzplatz anfängt, wo keine Häuser mehr sind, ein verrufener Ort, nur ein paar marode Karren stehen da, die später ausgeschlachtet werden. Und wie das Mädchen im Sitz hinunterrutscht, bis sie sie nicht mehr sehen kann.

    Maria F. ist unruhig. Sie will mehr sagen, aber sie weiß nicht, ob es richtig ist. Denn das Ganze kann ihr in die Fantasie entgleiten. Da will sie nicht hin. Sie hat sich doch vorgenommen, alles roh zu erzählen, höchstens die Schale abgezogen, wie die einer Orange, einer Banane, einer Zwiebel. Aber nichts an der Erzählung soll angeschwitzt daherkommen, geschwenkt, gekocht. Dieses Mädchen, Jungfrau übrigens, und sie achtet drauf , dass sie das bleibt, ist sowieso nicht die einzige hinten beim Bolzplatz, die sich in ein Auto setzt, dann langsam hinter der Scheibe verschwindet und wieder auftaucht mit rotem, erhitztem Gesicht.

    Es hebt die Grünäugige also nicht, sich auf diese Art zu versorgen. Mit Handy, Sündentasche, iPad. Der Kopfhörer hängt ihr selbst im Bett um den Hals. Andere tun es auch, und die Grünäugige beklagt sich nicht. Bei wem auch? Den Lehrerinnen? »Ach Gott, und du weißt doch, und bist du dir sicher, und verbau dir die Zukunft nicht.« Welche Zukunft bitte? Und die Idee, jetzt »Vater« oder »Mutter« zu sagen, ist abwegig, abwegig, abwegig. Paralleluniversen erkennt niemand. Ein Flugzeug fliegt übers Haus.

    3

    Die Zwiebel liegt noch immer geschält und ungeschnitten auf dem Tisch in Maria F.s Küche. Das Telefon klingelt. Sie geht nicht ran, reibt sich stattdessen die Hände, versucht, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, sich ein Essen kochen, ein einfaches, Röstkartoffeln mit Zwiebeln, darüber ein Ei. Sich nähren, sie zwingt sich dazu. Diese Leere, dieses Nichts in ihr soll still bleiben. Es soll nicht wieder vorkommen, dass sie sich an den Tisch setzt, einen Teller vor sich, nichts darauf. Trotzdem isst sie mit Messer und Gabel, zerschneidet die Luft. Nennt es »Luftfleisch«, stellt es sich vor angebraten in Fett, abgelöscht mit Wein, gewürzt mit Knoblauch, Rosmarin, Salbei, und auch das andere stellt sie sich vor, Luftpüree mit Luftsahne, gedünstete Luftartischocken, Thunfischluftmousse, Luft­schlangen­sorbet. Das war, als sie noch dachte, dass es jeden Tag wiederkommen könnte. Hochkommen wie Übelkeit. Mit Unsicht­barem füllte sie sich, wie der Luftgeist es tut – ihr Geheimnis.

    Sie reißt sich jetzt zusammen: Kartoffeln mit Ei, das hat Kontur, so will sie auch die Geschichte der Grünäugigen schnörkellos aufschreiben und nichts dazu erfinden. Ein Teenager, Schülerin, noch sechzehn, aber nicht mehr lange, und in der neunten Klasse. Gut, sie und die anderen Mädchen schwänzen manchmal den Unterricht, an schönen Tagen, wenn die Sonne glitzernd durch die noch zarten Frühlingsblätter der Linden scheint, ein zittriges Muster auf alles werfend. Dann sitzen die Mädchen schon morgens auf der Bank zwischen den Bäumen, unweit von Maria F.s Fenster. Die Mappe zwischen den Beinen, das Smartphone in der Hand, den Kopf gesenkt, die Augen gehoben. Als wäre alles ganz normal, ganz einfach.

    Aber ha, was ist einfach, wenn man, wie es die Mädchen tun, die Luft nicht einatmet, um sie auszuatmen, sondern jedem Fetzen Duft nachhängt, der wie eine Fährte gelegt ist, und der Klassengeruch ist definitiv nicht, was die Mädchen interessiert.

    Ob die Mädchen keine Angst haben, dass jemand sie ansprechen könnte: »Warum seid ihr nicht in der Schule?« Sie, Maria F., könnte die sein, die die Mädchen anspricht. Sie weiß doch, dass sie zur Schule müssen. Nur spricht sie sie nicht an, denn sie kennt die Antwort schon. »Die Stunde ist ausgefallen.« Welche? »Deutsch und Mathe.«

    Es sind immer Deutsch und Mathe, die ausfallen. Trotzdem: Addieren kann das grünäugige Mädchen. Besser als die anderen. Sie erzählt ihnen, dass sie dieses T-Shirt mit dem goldenen Vogel, das es bei H&M gibt, kaufen will. Für 17,– Euro. »Was, so viel?«, sagen die Mädchen. Und die Sandalen mit den hohen Absätzen und der goldenen Engelschnalle. Gold, Gold. Die kosten 29,– Euro. »Ja, die sind toll«, sagen die anderen. Und dann rechnen sie, und eine sagt: »Dreiundvierzig Euro«. »Nein, sechsundvierzig«, sagt die Grünäugige. Ihre Tante gebe ihr das Geld. Die mazedonische Tante, in deren Blumenladen sie manchmal hilft. Dass das gelogen ist, ist klar.

    Wegen ihres Alters – die anderen sind ein, zwei Jahre jünger als sie – und weil sie Preise addieren kann, ist das grünäugige Mädchen der Star in der Clique. Ihr Wort gilt. Wenn es etwas zu rechnen gibt, muss sie es tun. Nur mit dem Lesen und Schreiben tut sie sich schwer. Darüber wird nicht gesprochen, viele kämpfen mit der Rechtschreibung. Die Lehrerinnen kommen nicht hinterher.

    Das grünäugige Mädchen ist brav im Unterricht, so kann sie, glaubt sie jetzt, verhindern, dass jemand sie an den Tod ihrer Mutter erinnert. Sie meldet sich nie, stört nicht. »Wenn ich nichts sag, komm ich überall durch«, sagt sie. Schon in den früheren Klassen

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