Abgestürzt: Ein autobiografischer Jugendroman
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Abgestürzt - Marie Kaufmann
ERSTE ERINNERUNGEN
Es ist dunkel in meinem Kinderzimmer.
Und still. Ich bin aufgewacht und habe ein komisches Gefühl.
Ich rufe: „Mama!"
Keine Schritte im Flur – keine Antwort – Stille. Ich rufe lauter: „Mama!"
Panik kriecht in mir hoch. Meine Mutter kommt nicht.
Ich klettere aus meinem Gitterbett, gehe aus dem Zimmer in den dunklen Flur. Ich suche den Lichtschalter. Finde ihn nach einigem Umhertasten. Rufe immer wieder meine Mutter.
Sie bleibt verschwunden. Auch nachdem ich sie in allen Zimmern gesucht habe.
Ich höre mich selbst atmen. Begreife langsam: Ich bin allein. Verlassen.
Ich heule laut auf. Weine dann. Wie lange, weiß ich nicht mehr. Irgendwann höre ich auf zu weinen und gehe zum Telefon.
Wahllos gebe ich eine Nummer ein und habe irgendwann sogar jemanden in der Leitung. „Weißt du, wo meine Mama ist?", frage ich eine fremde Person.
Ich erinnere mich, wie ich mit dem Hörer am Ohr vor der Eingangstür hockte, als diese aufging und meine Mutter, auf zwei Männer gestützt, hereinkam.
Ich habe nie erfahren, was an diesem Abend genau passiert ist.
----
Meiner Mutter wurde während der Schwangerschaft mit mir oft zur Abtreibung geraten. Sie war 17 und drogenabhängig.
Mit meinem Vater verband sie eine Art Hassliebe.
Auch er war jung und drogenabhängig.
Er trank viel, und es interessierte ihn nur, wo die nächste Party war. So sollte es auch bis zum Schluss bleiben.
Die Voraussetzungen, um ein Kind zu bekommen, waren schlecht – meine Mutter entschied sich aber trotzdem dafür, mich zu bekommen.
Zuerst habe ich gedacht, dass das egoistisch von ihr war, später fand ich es aber auch mutig von ihr, dass sie mich gegen den Rat ihrer Verwandten bekommen hatte.
Meine Eltern trennten sich ziemlich bald nach meiner Geburt. Meine Mutter Marianne und ich zogen zunächst in ein Frauenhaus und dann in eine eigene Wohnung.
Irgendwann hat meine Mutter wohl erkannt, dass sie es nicht schafft, ein Kind großzuziehen. Sie war sehr jung und wollte noch viel erleben. Ich war ihr im Weg.
----
Sie fing an, ihre Wut darüber an mir auszulassen. Manchmal konnte sie ohne Vorwarnung vollkommen ausrasten. Dann schrie sie und schlug mich auch einige Male.
Sie gab mich zeitweise immer mal wieder zu den Eltern meines Vaters. Als ihnen die Verantwortung jedoch zu groß wurde, gab sie mich zu ihrer Mutter.
Bei meiner Oma lebte ich dann ca. eineinhalb Jahre.
Obwohl meine Oma selbst im Nachhinein sagt, dass sie einige Male zum Kochlöffel gegriffen hat, um mir den Hintern zu versohlen, erinnere ich mich komischerweise nur an eine sorgenfreie, harmonische Zeit. Ich erinnere mich nicht an Besuche meiner Mutter, obwohl meine Oma sagt, dass sie regelmäßig stattfanden.
Im Gedächtnis ist mir geblieben, wie meine Großmutter sich um mich kümmerte.
Dass sie mir abends die Haare kraulte, bis ich einschlief. Dass sie Essen kochte, das ich mir wünschte. Dass sie mir Säfte in Babyflaschen an einer langen Schnur vom Balkon herabließ, wenn ich im Sandkasten spielte und Durst hatte.
Während ich spielte, feierte meine Mutter wilde Partys. Sie nahm immer wieder Heroin, experimentierte mit anderen Drogen, hatte verschiedene Typen.
Irgendwann hat sie mir erzählt, dass sie sehr krank sei. Sie habe Aids.
Ich merkte, dass es eine wichtige und ernste Sache war. Was ich genau damit anfangen sollte, wusste ich aber nicht.
Dinge, die mich bedrückten, obwohl ich ihre Bedeutung nicht verstand, habe ich immer schon einfach jedem erzählt. Als wenn dadurch die Last kleiner würde, die ich tragen musste.
Also habe ich eines Tages im Bus „Meine Mama hat Aids!" gerufen. Betretenes Schweigen und Blicke zum Boden waren die Antwort.
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Erst später habe ich von meiner Mutter erfahren, dass sie selbst nicht genau wusste, wie sie sich mit HIV infiziert hatte. Da sie und mein Vater drogenabhängig waren, haben sie sich wahrscheinlich durch eine Spritze angesteckt.
Alle hofften, dass ich mich nicht infiziert hatte. Ich wurde einige Male untersucht, und es stellte sich dabei heraus, dass ich gesund war.
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Kurze Zeit später muss Marianne Günther auf einer Party kennengelernt haben. Er war auch heroinabhängig, immer auf Drogen und ein Riesenchaot. Meine Mutter erzählte mir, dass sie ihn gerettet hatte, als er sich eine Überdosis gespritzt hatte und bereits blau angelaufen war. Sie rief im letzten Moment den Krankenwagen.
Sie verliebten sich ineinander, aber ihr ganzes Leben war total chaotisch, denn die Sucht brachte sie immer wieder körperlich an ihre Grenzen. Ihnen war klar, dass sie ihr Leben ändern mussten, wenn sie sich eine gemeinsame Zukunft aufbauen wollten.
Sie fühlten sich wie zwei Menschen, die im Sumpf versanken und keine Möglichkeit fanden, einander zu helfen.
Kurze Zeit später veränderten beide ihr Leben drastisch. Wie das passierte, haben sie mir ungefähr so erzählt:
Beide liefen verpeilt durch die Gegend, auf der Suche nach irgendwas oder auch gar nichts. Sie waren zugedröhnt und liefen über einen Platz, in dessen Mitte ein großes Zelt stand.
Irgendwer sprach sie an: „Hey, kommt doch mal mit rein. In diesem Zelt könnt ihr den Sinn des Lebens