Auf der Slackline: Kirchliche Jugendarbeit als Herausforderung
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In diesem Buch erzählt sie, wie sie mit den Herausforderungen der ungewohnten Rolle umgegangen ist und was sie für sich und für die Kirche gelernt. Sehr persönlich und offen berichtet Schwester Birgit über ihre Erfahrungen, Fallstricke, Helferinnen und Helfer und Lösungsstrategien. Getragen ist der Bericht von einem großen Zutrauen in die Jugendlichen, die ihr begegnen und mit denen sie zusammenarbeitet. Im Rahmen dieses ganz speziellen persönlichen Lernprozesses stellt sie sich auch die Frage: Wie zukunftsfähig ist eigentlich die Kirche? Kennt die Kirche ihre zukünftigen Weltgestalter noch oder schon nicht mehr? Und was kann sie von ihnen lernen?
→ Erfahrungen einer Theologin in der kirchlichen Jugendarbeit
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Book preview
Auf der Slackline - Birgit Stollhof
KAPITEL 1
DIE HERAUSFORDERUNG
1.1Das Vorstellungsgespräch gegen alle Regeln der Kunst
„Ich habe viele Qualifikationen in meinem Lebenslauf. Aber Pädagogik oder Erfahrung mit Jugendarbeit nicht. Sind Sie sicher, dass Sie mich für die Stelle wollen?" Ich schaue den damaligen Leiter des Fachbereichs Jugendpastoral, Andreas Braun, fragend an. Wir sind mitten im Bewerbungsgespräch. So ein Satz steht in keinem Bewerbungshandbuch und er sollte auch nie, niemals fallen! Trotzdem habe ich ihn gesagt und mein Gesprächspartner war so ehrlich, nicht gleich darauf zu reagieren. Kann man Jugendarbeit machen ohne Vorwissen? Und gleich mit Leitungsverantwortung? Kann ich Jugendarbeit machen ohne vorherige Erfahrungen in diesem Bereich? Und kann ein Vorgesetzter mir das zutrauen? Es ist eine Herausforderung für beide Seiten, eine große. Woran erkennt man eine Herausforderung? Wie verhält sie sich, wie kann ich mit ihr umgehen?
Wie lief das also bei mir, einer Spätgetauften, die nie kirchliche Jugendarbeit gemacht hat, einer Juristin, die sich nach dem Klinik-Management später für den Orden mit Öffentlichkeitsarbeit beschäftigt hat – aber nie mit Pädagogik? Und wie kommt ein Bistum darauf, so einer Person eine bekannte und verwurzelte Institution der Jugendarbeit – das Jugendpastorale Zentrum Tabor in Hannover, das offene Jugendcafé – anzuvertrauen?
In diesem Buch reflektiere ich meine Herausforderung, meinen Weg in den ersten ein bis zwei Jahren im Jugendpastoralen Zentrum Tabor, in dem ich inzwischen das vierte Jahr arbeite. Dabei schaue ich auf meinen Einsatz mit all den Fragen, den Highlights, den Sorgen, meinen Mühen und Gott, den ich darin immer wieder entdecke. Es ist eine Schilderung meines Einstiegs in die Jugendarbeit mit einer persönlichen Reflexion – immer wieder ergänzt um eine theologische Vertiefung einzelner Aspekte, die mir wichtig erscheinen. Dabei geht es in erster Linie um die Jugendlichen, denen ich begegnen durfte und darf. Und an meinem Beispiel und meinem Weg lassen sich vielleicht auch Fragen der Kirche generell, Nöte und Lösungen für die Pastoral insgesamt abzeichnen. Vielleicht – das hoffe ich – bekommt der oder die eine oder andere Lust auf Jugendarbeit oder andere Experimente. Denn – Achtung, Spoiler – es ist eine schöne Geschichte! Keine von Erfolg, aber von Erfüllung, keine perfekte Landkarte, aber ein gut gelaunter Weg durchs Chaos.
1.2Bühne frei für die Herausforderung!
Warum hat mich damals das Bistum angefragt, warum wurde mir die Leitung einer Jugendeinrichtung zugetraut? Und warum habe ich ja gesagt? Wie geht man mit Herausforderungen um, wenn sie vor der Türe stehen und sich nicht abwimmeln lassen?
Am Beginn einer Herausforderung steht, so mein Eindruck, eine aktuelle Not. Das können Pfarreizusammenlegungen sein, wodurch es an Priestern und Hauptamtlichen für die Aufgaben mangelt. Es kann sein, dass eine zentrale Mitarbeiterin oder ein zentraler Mitarbeiter wegbricht – der Hauptinitiator einer Veränderung oder die Säule der Institution – und dass nicht klar ist, ob und wie das Projekt, die Arbeitsabläufe oder der Arbeitsbereich weitergehen. Es kann sein, dass Geldquellen wegbrechen oder sich Räume verändern – und mit den veränderten Rahmenbedingungen auch Inhalte anders geplant werden müssen. Es kann – sehr oft – sein, dass Ehrenamtliche, aus welchen Gründen auch immer, geballt wegbrechen. Zunächst ist egal, warum: Irgendwo brennt es. Irgendwo geht ein einfaches „weiter so" nicht mehr. Egal wie man das Tuch auch zieht – es ist immer zu kurz, jeder Versuch, eine Ecke zu erreichen, reist neue Lücken auf.
Es gibt die Option, alles abzubrechen – darauf werde ich später eingehen. Was aber, wenn es weitergehen soll, nur „wie bisher" nicht mehr geht? Und das gilt ja an vielen Stellen für die Kirche. Wie gehen wir mit dieser Not um? Und wie bin ich damit umgegangen, dass diese Not des Bistums meine Herausforderung wurde?
1.3Schauplatz und dramatis personae – das Tabor
Wenn man wie ich gar keine Erfahrung hat, dann ist die große Herausforderung schon der ganz normale Alltag. Selbst der ist unbekannt und damit komplett neu. Was in meinem Fall erschwerend hinzukam: Alle bisherigen Jugendreferent:innen des Tabors verließen die Einrichtung oder waren kurz davor zu gehen – statt einer Routine und Planung, die übergeben werden sollten, erwarteten mich eine unbekannte Organisation und Abläufe ohne Erklärung. Wie sah denn dieser Alltag im Tabor aus, als ich kam? In etwa so – um es im Drehbuchstil zu beschreiben:
INNENRAUM – CAFÉ TABOR – ENDE JANUAR 2019 – 13 Uhr
Im Café ist es noch leer. Die Freiwilligendienstleistende Ewa sitzt allein im Café. Oben im 2. Stock ist noch eine Mitarbeiterin im Sekretariat; die Mitarbeiterin in der Buchhaltung arbeitet in Teilzeit und ist heute nicht da. Die Büros der Leitung des Tabors, der Jugendreferentin für die Schulpastoral und vor allem der Referentinfür das Café sind leer. Um 14 Uhr kommt eine Teamerin dazu, um die Freiwilligendienstleistende (FSJlerin) bei der Aufsicht im Café zu unterstützen.
INNENRAUM – CAFÉ TABOR – ENDE JANUAR 2019 – 15 Uhr
Inzwischen sind zwölf Jugendliche da – die jüngeren, die Kids (oder Kinder) ab der 5. Klasse, und die älteren Jugendlichen, die meisten davon Teamer:innen. Einige spielen Karten, zwei machen sich in der Küche Müsli, andere sitzen herum und reden mit der beaufsichtigenden FSJlerin. Drei der Lernbar-Teamer:innen – gehen jetzt mit den Jugendlichen, vor allem den Kids, in die Lernbar, ein eigener Raum zur kostenlosen Hausaufgabenbetreuung.
Die Jugendlichen unterhalten sich in vielen Sprachen. Sie kommen aus verschiedenen Schulen des Stadtgebiets Hannover.
AUSSEN – BOLZPLATZ – ENDE JANUAR 2019 – 17:30 Uhr
Auf dem Bolzplatz ist inzwischen ein Fußballspiel im Gange. Auf dem großen Rasen daneben spielen ein paar Mädchen Federball. Im Café sitzen einige der Teamer:innen um einen Tisch und bereiten ihre Rollenspielrunde vor. Die FSJlerin hängt noch ein Plakat für das TABOR-Live-Konzert am kommenden Freitag im Café aus. An der Wand hängen noch Bilder der letzten Herbstferienwoche.
INNEN – ROMEROSAAL – ENDE JANUAR 2019 – 18:30 Uhr
Im Romerosaal im 1. Stock trifft sich eine Gruppe der Pfadfinder zur Besprechung. Gegenüber im Seminarraum hat der Leiter des Fachbereichs eine Besprechung.
Das Jugendpastorale Zentrum Tabor ist ein offenes Jugendcafé am Rande der hannoverschen Innenstadt – in bester Lage also und in der Nähe des katholischen Gymnasiums und der katholischen Realschule. Das Haus ist dreistöckig; Kernstück ist das große Café im Erdgeschoss mit einer Glasfront zur Hauptstraße und einer großen Küche. Im ersten Stock gibt es zwei große Besprechungsräume, im dritten sind Büros. Jeder Stock hat eine Küche, sanitäre Anlagen und einen Materialraum.
Nach hinten zum Garten schließen sich im Erdgeschoss noch zwei Räume der sogenannten „Lernbar an. Dazu kommt ein großer Garten mit einem Bolzplatz. Gegenüber des Geländes steht ein großes Haus, in dem die „Schwestern
wohnen. An dieses Haus schließt eine Kapelle an, die in den Garten hineinragt. Ins Café kommen täglich ganz verschiedene Jugendliche – die jüngeren, die Kids (oder Kinder) ab der 5. Klasse, die Hausaufgabenbetreuung, Aufsicht und Anleitung beim Spielen brauchen, die älteren Jugendlichen ab ca. 16 Jahren, die sich oft als ehrenamtliche Teamer:innen einbringen wollen, etwa in der Lernbar, bei Angeboten oder den Ferienwochen, und die dafür angeleitet und ausgebildet werden müssen. Außerdem wird das Haus von vielen katholischen Jugendgruppen aus dem ganzen Bistum genutzt.
Betreut wird das Tabor von fünf Mitarbeiter:innen, davon zwei Verwaltungsmitarbeiter:innen und drei Jugendreferent:innen – eine:r in der Leitung – auf drei vollen Stellen. Hinzu kommt eine Freiwilligendienstleistende. Organisatorisch und personell gehört das Tabor als unselbstständige Einrichtung mit einem eigenen Budget zum Fachbereich Jugendpastoral des Bistums Hildesheim. Die drei Jugendreferent:innen arbeiten auch in Projekten des Bistums mit. Als Institution ist das Tabor mitverantwortlich für die Jugendpastoral im Dekanat Hannover
Im Alltag bedeutet das: Viele lebhafte Jugendliche, die beaufsichtigt werden müssen, Kontakte und Gruppen, die gepflegt werden wollen, Projekte und Angebote, die fortgeführt werden sollen, und ein Gebäude, das instandgehalten und gepflegt werden muss. Also eine wichtige Einrichtung mit vielen Alltagsaufgaben und -verantwortung.
Und aktuell? Zum Zeitpunkt meines Gespräches endeten alle drei Referent:innen inklusive der alten Leitung. Die Aufsicht im Café wurde zur Überbrückung von der FSJlerin in Zusammenarbeit mit einzelnen Teamer:innen, punktuell vom Leiter des Fachbereiches und in enger Rücksprache mit dem Sekretariat und dem Fachbereich wahrgenommen. Eine erwachsene Ansprechperson war somit immer im Haus. Ein eigenes Angebot oder die Planung der Ferienwochen fand aber nicht statt, größere Aufgaben und Projekte konnten nicht weiterverfolgt werden, auch der ganze Bereich der Schulpastoral.
Die Not war groß im Tabor, der zentralen Einrichtung in der Stadt für Jugendliche. Es gab Kinder, die täglich betreut