Augenblicke: Gedichte und Kurzprosa
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Gedichte und Kurzprosa aus meinem Leben
Thematische Mischung von Kurzprosa und Lyrik
Familiäre und zeitgeschichtliche Prägung, Aufbrüche und Einbrüche im Leben, Sinneseindrücke, Naturimpressionen, das Daheim und Begegnungen mit fremden Menschen und Kulturen. Auch Abschiede, Schatten und Begrenzungen sowie das nicht nur angenehme Altern werden als zum Leben gehörig wahrgenommen und bejaht.
Gertrud Stiehle
Gertrud Stiehle, 1936 in Süddeutschland geboren und aufgewachsen, lebt seit 1960 in der Region Basel. Zwei Kinder und 5 Enkelkinder aus ihrer Ehe mit einem Basler. Berufliche Tätigkeit als Übersetzerin/Direktionssekretärin und in der kirchlichen Entwicklungs- und Sozialarbeit. Spätstudium Ethnologie und Religionswissenschaften, mit Feldforschung unter Witwen in Kamerun. Autorin der Biografie «Erika Sutter - Mit anderen Augen gesehen. Erinnerungen einer Schweizer Augenärztin» (2011 erschienen auf Deutsch und Englisch bei Basler Afrika Bibliografien). 2022 Erstveröffentlichung eigener Texte aus 40 Jahren intensiven Erlebens des Alltäglichen im Sammelband «Augenblicke - Gedichte und Kurzprosa aus meinem Leben».
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Book preview
Augenblicke - Gertrud Stiehle
„Jedem meiner Augenblicke zähle ich einen
fremden Augenblick zu, den Augenblick eines
Menschen, den ich in mir verborgen trage zu
jeder Zeit, und sein Gesicht in diesem
Augenblick, das ich nie vergessen werde,
mein Leben lang nicht."
Ingeborg Bachmann
INHALT
Augenblick
Mit allen Sinnen
Meine Augen, Türen zur Welt
Käthe
Meine früheste Erinnerung: der Duft von Brot
Bitter & süss
Haut
Meine Hand
An meinen Ellenbogen
Vom Glück der Versuchungen
Wurzeln
Vier Kilo Geheimnisse
Jeder Tag ein Wagnis – unsere Mutter Courage
Grossmutter
Papa
Oma
Für Rahel Lisa
Liebesbrief an meinen Juragarten
Du
Nicht auch du
Rinne
Verankern
Margrit zum Abschied
An Ihrem Todestag
Rettungsaktion am Randstein
Weite
Flaschenpost vom Indischen Ozean
Wie viele Strassen auf dieser Welt
Goldwasser
Leonida
Windsbraut
Zwischen Erde und Wasser
Schmuggelgut
Lebensfreude trotz allem
Reisen mit 77
Jahreskreis
Vorfrühling
Offenes Fenster
Aprilmorgen
Verheissung
Corona Frühling
Frisch verliebt
Vergissmeinnicht
Corona-Pfingsten in der Grün 80
Sommermorgen
Noch einmal Krieg?
Schwitzpause auf einer Bank
Durchs Engadin
Herbstliches Engadin
Macht hoch die Tür
O Tannenbaum
Advent – eine Zeit für Zärtlichkeit
Hinein ins Neue Jahr
Aufbrüche – Einbrüche
Aus dem Arbeitsprozess in die Pensionierung
Altern
Aufbrechen
Abschied und Aufbruch
Mauern
Auferstehung
Vertrauen
Spuren
Daheim sein
Getrud Stiehle erzählt aus ihrem Leben und von ihrem Schreiben im Gespräch mit Cécile Speitel
AUGENBLICK
Innehalt
Atemzug
der Ewigkeit
Wartesaal
Geistesblitz
Wunderfitz
Vollpräsenz
Blick zurück
im Zorn
im Glück
Blick nach vorn
Jubelinsel
Sonnenspiegel
Tränensee
Tür zum Du
Platzgedeck
Zwinkerbrücke
Augentrost
Spiegelbild
Widerhall
Augen auf
zum Weltenlauf
Augen zu
Geh zur Ruh
MIT ALLEN SINNEN
MEINE AUGEN – TÜREN ZUR WELT
Erinnerungen an meine Staroperationen
Durch einen grauen Dezembermorgen bin ich vor der Augenklinik vorgefahren. Und schon kurz danach geht die Fahrt weiter im weissen Spitalhemd auf dem Schragen, durch Spitalkorridore und Lifts hinein in die weiss- und chromblitzende Hochtechnologie des Operationssaales. Da umschwirrt mich eine geschäftig hin- und herhuschende grüne Belegschaft, legt Kanülen, Kabel, sorgt für mein bequemes Liegen, muntert auf und beruhigt, obwohl ich schon ganz ruhig bin und den Augenblick intensiv erlebe. Ich fühle mich wie ein Star. Und darum geht es schliesslich: meine erste Staroperation. Star, der Stern. Sternenzeit also, auf allen Ebenen. Draussen in der Stadt habe ich dieses Jahr die Sterne der vorweihnächtlichen Dekorationen und die realen Sterne am Himmel nur noch milchig-breiig gesehen. Ob sich das nun ändern wird?
Eine grosse Blache wird über mich gebreitet, auf der über meinem rechten Auge ein kleines Fenster zurückgeklappt wird. Ich bin gut informiert, was nun geschehen wird: Die milchig gewordene alte Linse wird durch einen winzigen Schnitt in der Hornhaut mit Ultraschall zu Brei zertrümmert und abgesaugt und danach, zusammengefaltet wie ein kleiner Regenschirm, eine Kunstlinse eingeführt, die sich am neuen Ort aufspannen und einfügen wird.
Der völlig schmerzfreie Eingriff öffnet mir Türen zu einem wunderbaren kosmischen Erlebnis, das mir noch Tage danach präsent ist. In mein Auge fällt nun ein intensiver punktförmiger Strahl weissen Lichtes, dessen Bewegungen ich während der Operation folgen soll. Mit ihm begebe ich mich auf die reinste Reise durchs Weltall.
Sonnen gehen auf und unter, bald kompakt, bald in einem Strahlenkranz, eingehüllt in Blau-, Rosa- und Violett-Töne des Firmaments. Da und dort explodierende gleissende Blasen und sternengleich oszillierende Punkte. Alles ist in Bewegung. Manchmal spielen feine milchige Wolkenschleier dazwischen. Dann spannt sich etwas wie ein durchsichtiger Regenbogen nach anfänglichen Zitterbewegungen still über das ganze Gesichtsfeld. „Alles gut gegangen!" holt mich abrupt die Stimme des Operateurs auf die Erde zurück.
Die Erfahrung bei der Operation am zweiten, linken Auge wenige Wochen später ist nicht ganz identisch, aber ebenso eindrücklich. Statt dem intensiven Lichtpunkt scheint nun das Licht durch ein Bauklötzchen-ähnliches Tor einzufallen. Wiederum sind da die kosmischen Farbenspiele in zarten Weiss-, Blau-, Türkis- und Rosatönen, einmal erscheinen kurz orange, ins Rot-Violett sich vertiefende Flecken. Neu sind diesmal dunkle scherbenähnliche Partikel, die von einem zentralen Punkt konzentrisch auf gläsernem, von hinten beleuchtetem Grund in grosser Geschwindigkeit auseinanderstieben. Ich kann mich nicht sattsehen, bin aber etwas angespannt wegen einem leichten Druck aufs Auge während der Operation. Sie ist auch diesmal sehr rasch zu Ende.
Beide Male gibt es nach zwei Stunden ein gutes Spitalfrühstück und Taxidienst einer lieben Nachbarin. Auf dem Weg nach Hause wage ich neugierig wie als Kind am Schlüsselloch zum Weihnachtszimmer einen ersten Blick durch einen Schlitz im Augenverband: Alles gestochen klar und leuchtende Farben! In mir ist eine grosse Dankbarkeit für die neu geschenkte Welt, auf der meine Füsse jetzt sicher gehen können. Es muss ja nicht das Weltall sein. Aber schön war der Ausflug doch.
KÄTHE
Nie habe ich in ihre Augen sehen können wegen der ausserordentlich dicken Brille, einem undurchsichtigen Vorhang aus mehreren Glasschichten, gefasst in ein billiges Nickelgestell: Käthe, unser Familienfaktotum im 2. Weltkrieg, die uns drei kleine Geschwister und den Haushalt besorgte, während Mama Klassen von über achtzig Schülern unterrichtete. Schwer zu sagen, wie alt Käthe war: klein, dünn, mit entengleich watschelndem Gang