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Jeder Mensch stirbt nur einmal: Begegnungen am Sterbebett
Jeder Mensch stirbt nur einmal: Begegnungen am Sterbebett
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Ebook321 pages3 hours

Jeder Mensch stirbt nur einmal: Begegnungen am Sterbebett

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About this ebook

Jeder Mensch wird einmal sterben. Das ist unausweichlich. Es ist aber auch so, dass jeder Mensch nur einmal stirbt. Das ist vielleicht die grösste Herausforderung unseres Lebens.
Was ist es, was Sterbende in der Schlusskurve ihres Lebens beschäftigt? Was sind ihre Gedanken, ihre Hoffnungen, ihre Wünsche? Wovor haben sie Angst? Gibt es Dinge, die sie am Ende bedauern oder gar bereuen? Woran halten sie sich? Was ist für Sterbende tröstlich? Und schliesslich die grosse Frage: Wie stirbt man in einer Zeit, die keine verbindlichen Bilder und Vorstellungen von einem «Jenseits» mehr kennt?
Der freie und kirchen-unabhängige Theologe und Seelsorger Daniel Kallen begleitet seit 30 Jahren Menschen am Ende ihres Lebens. In dieser langen Zeit hat er zahlreiche spannende, schöne, tiefsinnige, aber auch schräge und humorvolle Gespräche am Sterbebett geführt. Von seinen vielfältigen Begegnungen erzählt dieses Buch.
LanguageDeutsch
Release dateFeb 21, 2022
ISBN9783729623798
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    Book preview

    Jeder Mensch stirbt nur einmal - Daniel Kallen

    Inhalt

    Cover

    Über das Buch

    Impressum

    Titel

    Prolog: Tschechows Tod und der Nachtfalter

    1. Einleitung: Die Kunst des Sterbens

    Meine Erfahrung mit dem Tod

    Gibt es am Ende so etwas wie Weisheit?

    Sterbebegleitung

    Seelsorge

    Seelen-Begleiter

    2. Zuhören am Sterbebett

    Meine wichtigsten Beobachtungen

    Begegnung mit Frau Tanner

    Champagner

    Offenheit

    «Angst vor dem Tod»

    Die terminale Phase

    Der Geist von Frau Kübler-Ross

    Wellen statt Phasen

    3. Auf der Zielgeraden des Lebens

    Themen am Lebensende

    «Das Allerschwerste ist, die Liebsten loszulassen»

    «Bestelle dein Haus»

    Schmerzen

    Das Gespräch «ohne Maske»

    Schlechte Nachricht von ihrer Ärztin

    Vom Umgang mit dem nahen Tod

    Freundschaft

    Helfen?

    Palliative Sedierung

    4. In Erinnerungen kramen

    Lebensgeschichten

    Unser Leben bleibt fragmentarisch

    Sinn des Lebens?

    5. ‹Bestelle dein Haus› oder Reden über die Abschiedsfeier

    Neue Bestattungswünsche

    Abschiedsrituale

    Das «Lemon-Schnitzel»

    Musik an der Abschiedsfeier

    Individualisierung der Trauerkultur

    Urnenbeisetzung auf der St. Petersinsel

    Abschiedsfeier als «egoistische Selbstinszenierung»?

    6. Was Menschen am Ende nicht  bereuen ...

    «Ich bereue nichts»

    ‹The Top Five Regrets of the Dying›

    Hätte, sollte, wäre, würde ...

    Erinnerung an das, was gelungen ist

    «Mein Beruf, die Praxis, die Aufgaben fraßen mich auf ...»

    7. Über Jenseitsvorstellungen reden

    Klassische Vorstellungen des Jenseits

    Agnes: Begegnung mit einem Medium

    Medialität und der Jenseitsglaube

    Botschaften von Verstorbenen?

    Jeder Person ihr eigenes Paradies

    Jüngstes Gericht

    Es wird gut sein – so oder so

    «Somewhere over the Rainbow»

    8. Frieden finden: Versöhnt mit dem eigenen Tod

    Mit einem Lächeln im Gesicht sterben?

    Auf dem Rückzug

    In Frieden loslassen

    Träume

    «Lass nun ruhig los das Ruder»

    9. «Ruhn! Abtreten!»: Selbstbestimmtes Sterben

    Sterbebegleitung und Freitod

    Einwände

    «Ruhn! Abtreten!»

    Wenn die Schmerzen unerträglich werden

    10. Das Beste kommt eben nicht erst am Schluss ...

    ‹To-do-Listen› des Lebens

    Die kleinen Wünsche

    Persönliche ‹To-do-Liste› von Frau Zürcher

    11. Rituale in der Sterbebegleitung

    Ein Segensritual

    ‹Benedicere› – das Gute aussprechen

    Bedürfnisse nach spirituellen Erfahrungen

    Vom Sinn von Segensritualen beim Sterben

    12. Humor am Sterbebett: Wie geht das denn?

    Katharsis

    Eine Ovomaltine-Büchse als Urne?

    Eine neue Perspektive

    Vielleicht bleibt uns tatsächlich manchmal nur noch der Humor

    «Meinen Humor lass ich mir nicht nehmen»

    13. Wie leicht mein Gepäck ist: Sterbebegleitung heute

    Jeder Mensch muss schlussendlich selbst sterben

    Nicht über letzte Dinge reden wollen

    14. Das Wenige, das am Ende zählt

    Jeder Mensch stirbt seinen eigenen Tod

    Was sterbenden Menschen wichtig ist

    Glück ist immer relativ

    Weisheit am Ende des Lebens?

    Epilog: Mit einem leichten Herz

    Seelenbegleiter

    Das leichte Herz

    Zum Autor: Mit dem Tod per Du

    Der Tod meines Vaters

    Der Tod sortiert das Leben neu

    Meine persönlichen Erfahrungen mit dem Tod

    Der «schöne Tod» unserer Mutter

    Loslassen als der rote Faden meines Lebens

    Über den Autor

    Backcover

    empty

    DANIEL KALLEN

    JEDER MENSCH STIRBT NUR EINMAL

    Der Autor und der Verlag danken für die Unterstützung:

    empty

    Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit

    einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021‍–‍2024 unterstützt.

    © 2022 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel

    Alle Rechte vorbehalten

    Lektorat: Angelia Schwaller

    Korrektorat: Tobias Weskamp

    Covergestaltung: Umair Tariq / Kathrin Strohschnieder

    eBook-Produktion: 3w+p, Rimpar

    ISBN ePub 978-3-7296-2379-8

    www.zytglogge.ch

    Daniel Kallen

    JEDER MENSCH

    STIRBT NUR

    EINMAL

    Begegnungen am Sterbebett

    empty

    Sämtliche Namen und Orte in diesem Buch

    sind so verändert worden, dass keine Privatsphäre

    (und Sterben ist das private Ereignis schlechthin)

    verletzt wird. Somit sind Rückschlüsse auf reale

    Personen, Situationen und Familien ausgeschlossen.

    Trotzdem sind die Gespräche und geschilderten

    Erlebnisse alle ausnahmslos authentisch und echt.

    «Wir werden Frieden finden,

    wir werden den Engeln lauschen

    und den Himmel sehen,

    funkelnd von Diamanten.»

    Anton Pawlowitsch Tschechow, russischer Schriftsteller und Dramatiker (1860–1904)

    Prolog: Tschechows Tod und der Nachtfalter

    Badenweiler, Deutschland: Wir schreiben den 9. Juni 1904. Im Hotel ‹Römerbad›, der besten Adresse im süddeutschen Kurort, hat man dem berühmten Schriftsteller aus Russland diskret zu verstehen gegeben, dass man keine «Lungenkranken» beherbergen möchte.

    Der hustende Anton Tschechow stört. Die anderen, wohlhabenden und feinen Gäste aus Deutschland, England, Russland, Frankreich und den Niederlanden könnten sich irritiert fühlen. Also muss er mit seiner Ehefrau Olga schließlich im Hotel ‹Sommer›¹ absteigen. Eigentlich möchte er in diesen Tagen gerne an den Comer See weiterreisen und später von Italien mit dem Schiff wieder auf die Krim, aber der 44-jährige Tschechow ist zu krank, zu schwach, zu müde, um weiterzureisen. Nachts hat er Schweißausbrüche und Fieberschübe, zudem hatte er in den vergangenen Jahren dramatisch an Gewicht verloren.

    Wie schlimm es um ihn steht, versucht er – wie immer – zu verbergen, vor allem vor seiner Ehefrau Olga Knipper. Er hatte die bekannte, russische Schauspielerin sechs Jahre zuvor bei den Proben einer Neuinszenierung seines Stückes ‹Die Möwe› im Moskauer Kunsttheater kennengelernt, als sie die Hauptrolle spielte. 1901 hatten sie heimlich geheiratet. Olga war Tschechows grosse Liebe.

    Und ihr entgeht in Badenweiler nicht, dass ihr ‹Antoshka› kaum mehr atmen kann. Er wirkt kraftlos, erschöpft. Seit 20 Jahren leidet ihr Ehemann unter Lungentuberkulose, jetzt hustet er Blut. Die Hitze dieser Tage ist zusätzlich Gift für ihn und seine Lunge.

    Am Abend des 14. Juli, einem Donnerstag, scheint – nach schwülen Tagen – endlich wieder eine etwas mildere, sprich kühlere Nacht anzubrechen.

    Mit seinem intelligenten Humor und seinem wunderbaren Charme bringt Tschechow seine ‹Olitschka›², wie er sie seit ihrem Kennenlernen liebevoll nennt, wieder herzhaft zum Lachen. Sie sitzen auf dem Balkon ihres Zimmers, scherzen, betrachten die Sterne. Dann am späten Abend erleidet Tschechow erneut einen Schwächeanfall. Er hustet, ringt nach Luft, bittet schließlich seine Frau, einen Arzt zu rufen.

    Doktor Schwoerer, ein junger Lungenarzt aus Badenweiler, kommt kurze Zeit später ins Hotel und behandelt Tschechow, der sich inzwischen aufs Bett gelegt hat, mit Sauerstoff und Eiswürfeln. Aber Tschechows Zustand verschlechtert sich von Stunde zu Stunde. Es ist bereits nach Mitternacht, als der Doktor eine Flasche Champagner holen lässt und ein Glas. Tschechow, der ebenfalls Arzt ist, weiß sofort, was das bedeutet: Champagner ist ein altes Abschiedsritual für Sterbende.

    Er setzt sich im Bett auf und spricht – auf Deutsch: «Ich sterbe! Anton Pavlow Tschechow stirbt!» Er nimmt das Glas, das Olga ihm reicht, trinkt, schaut ihr in die Augen, lächelt noch einmal sein wunderbares Lachen und sagt leise: «Ich habe schon so lange keinen Champagner mehr getrunken.»

    Dann leert er in aller Ruhe das ganze Glas, reicht es Olga mit einem Lächeln und sagt dann auf Russisch: «Ich liebe dich, meine Olitschka», dreht sich zur Wand und stirbt.

    Ein dunkler Nachtfalter flattert durch das Zimmer. Tschechow ist tot.³

    Endnoten

    ¹Heute: ‹Rehabilitationsklinik Park-Therme›.

    ²Russisch: Kosewort für Olga.

    ³Vgl. L. L. Rabenek: Die letzten Minuten A. P. Čechovs in Badenweiler, Übersetzung aus dem Russischen von Heinz Setzer. Deutsche Tschechow-Gesellschaft e. V. (DTG).

    «Abschied ist die innigste Form

    menschlichen Zusammenseins.‍»

    Hans Kudszus, deutscher Journalist

    und Schriftsteller (1901‍–‍1977)

    1.

    Einleitung: Die Kunst des Sterbens

    Seit fast 30 Jahren begleite ich nun Menschen am Ende ihres Lebens. In dieser langen Zeit durfte ich die unterschiedlichsten Personen auf der letzten Etappe vor ihrem Tod begleiten. Von der Buchhalterin bis zum Arzt, vom Handwerker bis zur Dozentin, vom Angestellten bis zum Chef. Nun gut, meistens habe ich mit Sterbenden natürlich keinen Champagner getrunken, dafür viel zugehört, was sie mir auf dem letzten Abschnitt ihres Lebens erzählt, gesagt und berichtet haben.

    In diesem Buch möchte ich über meine vielfältigen, bunten und unterschiedlichen – manchmal auch komischen, meistens aber sehr intensiven Begegnungen am Sterbebett erzählen. Was ist es genau, das Menschen am Ende ihres Lebens beschäftigt? Was sind ihre Gedanken, ihre Hoffnungen, ihre Wünsche? Wovor haben sie allenfalls Angst? Gibt es Dinge, die Menschen am Ende ihres Lebens bedauern oder bereuen? Woran halten sie sich? Was ist für Sterbende tröstlich?

    Und schließlich die große Frage: Wie stirbt man in einer Zeit, die keine allgemeinverbindlichen und gültigen Vorstellungen von einem Jenseits mehr kennt?

    Meine Erfahrung mit dem Tod

    Meine erste Erfahrung ist: Niemand stirbt gerne. Der Tod ist die äußerste Grenze, an die das Leben uns führt. Das ist keine Drohung, sondern schlicht und einfach eine Tatsache. Wenn wir wählen könnten, möchten wir nicht sterben. Wir hängen an diesem Leben, weil wir nur dieses eine Leben kennen. Der Tod bleibt immer der große Unbekannte, der Stachel in unserem Dasein.

    Meine zweite Erfahrung ist: Wir verdrängen den Tod – bewusst oder unbewusst. Wir sind Meister in der «Kunst der Ablenkung». Wir weichen den Fragen um unser Sterben aus. Der Tod, das ist fast immer nur das Hinscheiden der anderen, aber nicht unser eigenes Sterben. Oder: Wenn schon gestorben werden muss, dann später, einfach nicht jetzt. Der Tod kann warten, bitte!

    Meine dritte Erfahrung ist: Es gibt kein Entrinnen vor der Vergänglichkeit. Ewig ist nur das Kommen und Gehen. Egal, wer wir sind, egal, wie bedeutend wir waren oder eben nicht, irgendwann wird der Tod uns einholen. Oder ein wenig salopp gesagt: Keiner von uns kommt hier lebend raus. Keiner.

    Früher oder später wird der Sensenmann uns alle zum letzten Tänzlein auffordern. Die Frage, die sich uns stellt, ist also: Wie gehen wir mit dieser Tatsache um?

    Und meine vierte Erfahrung ist: Jedes Leben ist ein eigenes Universum. So viele Farben, Melodien, aber auch Trauer und Glück, Wut und Tränen, Liebe und Hoffnung. Am Ende gibt es zahlreiche Wege, die wir gingen – manchmal auch einfach gehen mussten, darunter Irrwege, Holzwege, Leidenswege, sogar Sackgassen, aber – hoffentlich – auch sehr viele schöne, beglückende und schlicht und einfach wundervolle Wege. Wie wir es auch drehen und wenden: Es bleibt unser Leben – bis zum Schluss. So unterschiedlich Biografien verlaufen, so unterschiedlich ist auch unser Sterben. Sterben hat immer etwas sehr Intimes, Persönliches. Jeder stirbt am Schluss seinen eigenen Tod.

    Gibt es am Ende so etwas wie Weisheit?

    Eine Frage habe ich mir im Verlaufe meiner vielen Begegnungen mit Sterbenden immer wieder gestellt. Sie lautet: Gibt es auf der Schlussgeraden des Lebens vielleicht so etwas wie Weisheit? Wächst in uns – vor dem großen Abgang – so etwas wie eine bedeutungsvolle Erkenntnis? Es müsste nicht gleich die große Erleuchtung sein, also keine finale göttliche Offenbarung, aber vielleicht eine Art von letzter Reife? War es früher einfacher zu sterben? Früher, als man noch selbstverständlich an einen Himmel glauben konnte, ein jenseitiges Paradies, das uns nach diesem Leben erwartet?

    Dieses Buch ist keine wissenschaftliche oder philosophische Abhandlung über das Sterben. Es will auch keine Analyse über den Tod in unserer Gesellschaft sein und es ist schon gar kein Ratgeber für Sinnsuchende. Vielmehr sollen hier konkrete Erfahrungen und Begegnungen im Zentrum stehen. Ich erzähle, wie Menschen heute sterben, und halte fest, was für sie am Ende wirklich zählt.

    Es ist noch gar nicht so lange her, da war der Tod und mit ihm die ganze Thematik um das Sterben eine Art von Tabu. Über diese Dinge sprach man nicht und schon gar nicht, wenn man selbst betroffen war. Nein, um Gottes Willen. Warum auch? Das hat sich in den vergangenen 30 Jahren völlig geändert. Heute ist der Tod sozusagen «in aller Munde». Mehr noch: Menschen, die über den Tod schreiben, singen, reden, nachdenken, wollen gehört und wahrgenommen werden. Hinzu kommt: Gewandelt und verändert hat sich auch, WIE heute über Sterben und Tod gesprochen wird. Neue Gefäße und neue, zeitgemäße Literaturformen entstehen. Gerade Online-Sterbetagebücher scheinen heute auf eine große Resonanz zu stoßen. Millionen von Menschen schauen sich die Film- und Tonbandaufnahmen von Sterbe-BloggerInnen an. Sterbe-Blogger? Ja, genau. Das Leiden und Sterben der jungen deutschen Bloggerin Lisa Wagenführ geboren Kallenbach⁴ mag hier als Illustration dienen. Ihr Sterben oder besser gesagt, ihre Videoeinträge und ihr «Zur-Schau-Stellen» ihres eigenen Sterbens, verfolgten am Schluss fast eine Million Follower. Im Internet können unzählige Podcasts zum Thema heruntergeladen werden.

    Aber auch auf dem klassischen Büchermarkt scheint das Thema en vogue zu sein. Jedes Jahr tauchen zahlreiche Neuerscheinungen über Inhalte wie Sterben, Trauer und Tod auf. Sterben – so könnte man meinen – hat heute Hochkonjunktur. Die Titel lauten: ‹Letzte Wünsche – Was Sterbende hoffen, vermissen, bereuen›, ‹So sterben wir› oder auch ‹Anleitung zum guten Sterben›⁵. Irgendwie ist es schon etwas paradox, dass man für das Selbstverständlichste dieser Welt, nämlich zu sterben, eine Anleitung beziehungsweise einen Ratgeber meint brauchen zu müssen. Das gleiche Bild zeigt sich in den vielen wissenschaftlichen Arbeiten und Sachbüchern von medizinischen Fachleuten – Ärzten, Pflegenden, Psychologinnen und Seelsorgern. Auch dieser Markt wird mit Fachbüchern über Sterben und Tod geradezu geflutet. Manchmal befürchte ich, das Thema könnte ein ähnliches Schicksal erleiden, wie es der Erotik im ausgehenden 20. Jahrhundert beschieden war. Aus dem einstigen Tabu wurde ein Markt und schließlich wurde das Thema Sex allgegenwärtig, aber leider auch trivial.

    Und doch: Sterben bewegt, berührt, es fordert uns heraus als Gesellschaft und als Individuen – vielleicht auch weil es uns alle betrifft. Auf der anderen Seite werden die Themen Krankheit, Alter, Sterben und Tod zunehmend in Krankenhäuser, Alters- und Pflegeheime und Sterbehospizen «ausgelagert» und damit immer mehr aus der Mitte der Gesellschaft verdrängt. Sterben und Tod, das betrifft doch nur die Sterbenden und ihre nächsten Angehörigen, denken viele. Ein Widerspruch? Ja und nein. Wir verdrängen das Sterben und sind doch zugleich fasziniert vom Thema Tod. Eine Hassliebe? Vielleicht. Aber leben Menschen nicht oftmals mit Widersprüchen?

    Sterbebegleitung

    Wann immer wir von sterbenden Menschen sprechen, müssen wir auch von deren Begleitung reden. Aber was ist eine gelungene Sterbebegleitung? Hier gehen die Meinungen auseinander. Meine Antwort: Ein Mensch soll sich in seiner terminalen Phase «getragen, verstanden und unterstützt» fühlen. Deshalb ist eine wertschätzende, achtsame Grundhaltung in der Sterbebegleitung unabdingbar. Als Sterbebegleiter leite ich nicht, ich schenke einer Person meine volle Aufmerksamkeit, meine Zuwendung. Es geht nicht darum, zu führen oder zu lenken, sondern eben einfach «da» zu sein, für ihre Fragen, ihre Wünsche, ihre Ängste – auch ihr Schweigen – ihre Hoffnungen und die vielen kleinen, letzten Dinge, welche die dahinscheidende Person vielleicht belasten, erfreuen, bewegen und beschäftigen. Das klingt im ersten Moment sehr einfach und simpel, ist es aber überhaupt nicht. Es geht auch um das Aushalten, das Geschehen lassen. Die letzte Meile gibt es nicht nur im Business der Telekommunikation, sondern vielmehr – ganz existentiell – im Leben selbst, wenn ein Mensch nur noch ein paar Wochen oder Tage zu leben hat und er begleitet werden möchte auf dieser letzten Etappe.

    Es wird immer wieder betont, Sterbebegleitung vermittle Trost und sei demnach tröstend. Zu fragen wäre hier, was denn die Worte ‹Trost› oder ‹tröstlich› bedeuten? Trost wird meist definiert als eine besondere, freundliche, einfühlende Zuwendung zu einer bestimmten Person, die Schmerz, Angst oder Leid ertragen muss.

    Es gibt auch den «billigen Trost», der nicht tröstet, sondern vertröstet. Vertröstung ist, wenn man das Leid des anderen gerade auf eine plumpe, eben «billige» Art aufheben und ihn zum Beispiel hinhalten oder auf später hoffen lassen will, im Sinne von: «Das kommt schon wieder gut.» Echter Trost kann durch Worte, Gesten, auch durch Berührung «gespendet» und einem Gegenüber zu Teil werden. Der Sinn des Trostes ist nicht die Aufhebung des Schmerzes oder des Leids, sondern die Linderung und der Beistand. Der getröstete Mensch soll spüren, dass er in seiner Situation, in seinem Schmerz, in seiner Verzweiflung nicht allein ist, sondern dass jemand da ist und Anteil nimmt.

    Seelsorge

    Der italienische Humanist und Kardinal Domenico Capranica verfasste im 15. Jahrhundert ein Erbauungsbuch über den «guten Tod». Er nannte es ‹Speculum artis bene moriendi›, was so viel heißt wie ‹Spiegel der Kunst des guten Sterbens›. Darin ging es tatsächlich um den «guten Tod». «Gut» war im 15. Jahrhundert und nach Capranicas Vorstellung ein Tod, bei dem man auf das Jenseits und auf Gott vorbereitet war. Sowieso wurde das Leben im Diesseits damals als eine Art Vorbereitung auf das Jenseits gesehen. Darum bedeutete ein «guter Tod» die Eintrittskarte in den Himmel, das einzige Ziel und der eigentliche Sinn des Lebens.

    Heute könnten wir von dieser spätmittelalterlichen Vorstellung vom guten Tod nicht weiter entfernt sein als die Menschen des 15. Jahrhunderts. Und doch ist die ‹Kunst des guten Sterbens› ganz neu Thema geworden in der Sterbebegleitung und in der ‹Palliative⁷ Care›-Arbeit seit rund 20 Jahren. Heute wird diese Kunst allerdings völlig losgelöst von religiösen Vorstellungen gedacht und umgesetzt. Längst hat nämlich die Medizin die Deutungshoheit und das Primat über Sterben und Tod übernommen. Sie allein definiert heute, was ein «guter Tod» sei: nämlich, wenn man die Schmerzen der Sterbenden palliativ lindere, für sie da sei, ihnen Unterstützung und menschliche Wärme zukommen lasse, dann – hier sind sich Ärzte weitgehend einig – sei ein «gutes» Sterben, ein «guter Tod» möglich. Aber wo bleibt dann der spirituelle Aspekt in der «Kunst des guten Sterbens»? Oder ein wenig provokativ gefragt: Braucht es heute überhaupt noch «Seelsorge» am Ende des Lebens? Genügte es nicht, dass sterbende Menschen einfach eine einfühlende Ansprechperson haben, jemand, der jetzt an ihrer Seite steht oder vielmehr sitzt und einfach da ist?

    Und tatsächlich: Es gibt Spitäler, Pflegeheime und Hospize, die heute Sterbebegleiterinnen und Sterbebegleiter für Menschen am Ende ihres Lebens engagieren, die Sterbenden in dieser letzten Phase des Abschiedes zur Seite stehen. Sehr oft sind das keine ausgebildeten ‹Seelsorger› im theologischen Sinn und auch keine Psychologen, sondern lebenserfahrene und einfühlsame Menschen, die diese wichtige Aufgabe übernehmen.⁸ Also: Braucht es da noch eine professionelle Seelsorge? Nein, wenn es um die veraltete, auch für mich als Theologen, längst überholte Vorstellung geht, dass der Mensch auf die Gnade Gottes und Erlösung angewiesen sei und demnach – auf seinem Sterbebett – den Zuspruch und die Vermittlung der Kirche brauche. Und ja, wenn wir Seelsorge als unbedingte Offenheit für die spirituelle Dimension des Menschseins definieren. Ziel einer

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