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Die halbe Strecke: von Wegen, Abwegen und Umwegen
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Die halbe Strecke: von Wegen, Abwegen und Umwegen
Ebook253 pages3 hours

Die halbe Strecke: von Wegen, Abwegen und Umwegen

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About this ebook

Das Buch beschreibt das Leben der Autorin von Anfang der 70er Jahre bis heute.
Es ist die Geschichte eines unglücklichen jungen Mädchens und ihrer Wege, Abwege und Umwege zu einer heute glücklichen Frau.

Die eigene Wertschätzung und Selbstliebe sind wichtige Grundvoraussetzungen für das Leben mit respektlosen, unzufriedenen Mitmenschen.

Das Leben ist wie eine Zugfahrt ...

Eine wahre Geschichte - aus rechtlichen Gründen wurden alle Namen und Orte verändert.
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateMar 18, 2019
ISBN9783748253334
Die halbe Strecke: von Wegen, Abwegen und Umwegen

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    Die halbe Strecke - Nike Carodulio

    Kapitel I

    Wie alles begann … Kindheit und Verwandtschaft

    Familie - vor der Geburt und frühe Kindheit

    Vermutlich war Xaver (mein Vater) Opfer seiner eigenen Kindheit. 1933 wurde er geboren. Als er 6 Jahre alt war, brach der zweite Weltkrieg aus. Sicherlich keine gute Zeit, um aufzuwachsen. Er hatte noch eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder. Es gibt Fotos von Xaver als jungem Mann. Er sah früher sehr nett und sogar glücklich aus. So habe ich ihn jedoch niemals erlebt.

    1968 hatten Xaver und Elisabeth (unsere Mutter) sich kennengelernt. Mein ältester Bruder Werner war damals 5 Jahre alt. Über dessen leiblichen Vater war niemals gesprochen worden.

    Werner berichtete vor vielen Jahren, er hätte im Fotoschrank unseres Kellers eine Kontaktanzeige gefunden, die seinerzeit wohl durch meinen Vater aufgegeben worden war.

    Elisabeth war vermutlich gleich Feuer und Flamme für Xaver, weil er, oberflächlich betrachtet, ein gemachter Mann war. Er hatte einen kleinen, gut laufenden Lottoladen in Köln auf der „schäl Sick". Diesen Laden hatte schon seine Mutter in vorheriger Generation geführt.

    Xaver versprach Werner, ihn zu adoptieren, was er aber nicht tat. Werner durfte jedoch nach der Hochzeit der Eltern den gemeinsamen Familiennamen annehmen.

    Solange ich mich zurück erinnere, wurde Werner von unserem Vater immer schlecht behandelt. Diese schlechte Behandlung stärkte später mehr und mehr meine Sympathien für meinen ältesten Bruder und gleichzeitig natürlich die Antipathien gegenüber meinem Vater.

    Ende der 60er Jahre wurde Gustav geboren. Da mit Ende 30 die biologische Uhr meiner Mutter laut tickte und Gustav wohl ein absoluter Sonnenschein war, wollten Elisabeth und Xaver gleich noch ein Kind. Nicht, dass es wichtig wäre, aber Gustavs Geburtstag ist tatsächlich der Welt-Glückstag (sagt das Internet).

    15 Monate später wurden dann Jörg und ich geboren. Dank Kaiserschnitt und meiner Position im Bauch der Mutter, war ich fünf Minuten vor ihm auf der Welt; das Wunschkind aber war Jörg. Elisabeth wurde während meiner gesamten Kindheit und Jugend nicht müde, der ganzen Familie mitzuteilen, dass sie „lieber 10 Jungen, als ein Mädchen" hätte. Das tat mir sehr weh. Ich fragte mich viele Jahre, was der Grund für eine solche Aussage war.

    Mein Vater konnte mit mir überhaupt nichts anfangen. Ich erinnere mich nicht, dass er überhaupt jemals nett zu uns Kindern war. Ich meine nett, wie ein Vater sein sollte. Er hat viel geschimpft, gebrüllt, uns geohrfeigt oder den nackten Hintern versohlt. Dass er freundlich war oder gelächelt hat, kam nur vor, wenn wir Besuch hatten.

    Um sich vor Gästen zu profilieren, gab er uns gerne einen „Bartschmiss". Dafür rief er eines von uns Kindern zu sich, hielt dessen Kopf mit beiden Händen so fest, dass wir uns nicht herauswinden konnten und rieb seinen kratzigen Zwei-Tage-Bart so lange an unsere Wange, bis eine deutliche Rötung sichtbar war.

    Er spielte gerne und gut Tischtennis und Schach und bei beidem ließ er uns nicht freiwillig gewinnen. Alles, was in Xavers Welt zählte, war Disziplin. Er schrieb sehr gerne mit rotem Stift in unsere Schulhefte, um uns oder auch die Lehrer zu korrigieren.

    Jörg und ich - Zwillinge I

    Nicht nur, dass ich im mütterlichen Bauch oben lag; zu seinem Leidwesen ging Jörgs Leben mit mir auf ihm drauf weiter. Unsere Eltern kauften keinen Zwillingskinderwagen und da ich das Mädchen war, saß ich bei Spaziergängen mit Kinderwagen immer auf Jörgs Schoß (das einzige Privileg, das meine Eltern mir zugute kommen ließen), dabei hatte ich durchaus stämmigere Beinchen als er.

    An unsere Kindergartenzeit in Köln habe ich nur die Erinnerung, dass wir mittags schlafen mussten, ob wir wollten oder nicht. Ich wollte nicht. Der Kindergarten hatte einen Schlafraum mit vielen Bettchen nebeneinander und dunklen dicken Vorhängen. Da wir in einer Zeit aufwuchsen, in der Disziplin noch groß geschrieben wurde, waren die Erzieherinnen entsprechend streng.

    In Köln spielten wir oft auf der Straße oder dem Marktplatz, der sich in der Nähe unseres Ladens befand, mit einem griechischen Jungen namens Mika. Er war etwas jünger, als wir. Seine Mutter konnte wunderbar kochen und wir aßen dort ab und zu, wenn unsere Eltern im Geschäft waren.

    Als kleines Kind bin ich wirklich häufig hingefallen. Auffällig war dabei, dass ich meine Hände nicht benutzte, um mich abzufangen. Ich hatte oft Schürf- und Platzwunden am Kopf. Meine Geschwister, vor allem Werner, suggerierten mir immer, dass ich einen kleinen Dachschaden hätte, weil ich meine Hände nicht benutzte. Früher hatte ich das auch geglaubt.

    Viele Jahre später, als meine Tochter klein war, erklärte mir ihr Kinderarzt, wie wichtig es für Babys ist, zu krabbeln. Dadurch lernen sie, ihre Hände zu gebrauchen und diese später reflexartig zum Abfangen bzw. Abstützen zu nutzen.

    Da ich diesen Reflex überhaupt nicht besaß, vermute ich, dass es einfacher war, mich in den Laufstall zu setzen, anstatt mich krabbeln zu lassen.

    Kirchdorf – Anfang der 70er Jahre

    Kirchdorf war ein Ort mit etwa 1000 Einwohnern, ziemlich genau 50 km von Vaters Lottoladen in Köln entfernt. Dorthin zogen wir, als Jörg und und ich 3 Jahre alt waren.

    Vorher lebten wir mit 6 Personen in einer relativ kleinen Wohnung. Wir Kinder hatten alle gemeinsam ein Zimmer, was für mich sehr gut war. Ich war immer schon sehr ängstlich und mochte nicht alleine sein.

    In Kirchdorf hatten meine Eltern ein recht großes Haus bauen lassen, wo reichlich Platz für uns alle war. Daneben entstanden drei Garagen, die bis zur Straßenecke gingen, drei weitere Garagen befanden sich angrenzend um die Ecke und dahinter ein 6-Parteien-Mietshaus. Dieses immense Objekt ließ Xaver bauen, während er 50 km entfernt in seinem Lottogeschäft saß.

    Sein Bauleiter war ein Nachbar von Gegenüber, der auch schon mal eine LKW-Ladung Sand oder was auch immer bei seiner eigenen Baustelle abladen ließ. Xaver bemerkte das erst, wenn es zu spät war und konnte es auch nicht beweisen. Er war ja nicht vor Ort. Natürlich kann ich selbst mich nicht daran zurück erinnern. Diese Information habe ich von meinem ältesten Bruder.

    1973 zogen wir in Kirchdorf ein. Uns Kindern gehörte die komplette obere Etage. Jedes Kind hatte ein Kinderzimmer. Werner und Jörg auf der rechten Seite der Treppe, Gustav und ich links. In der Mitte des Flures führte eine Tür in unser Badezimmer. Zudem gab es gegenüber der Treppe eine Nische, die als so eine Art Gästezimmer dienen sollte. Sie war mit einer Schiebe-Falttür versehen. Dort musste Jörg schlafen, wenn unsere Oma zu Besuch kam. Die schlief nämlich – aus welchen Gründen auch immer – nur in Jörgs Zimmer.

    Im Erdgeschoss des Hauses befand sich links das Eltern-Schlafzimmer, wodurch man in das dahinterliegende elterliche Badezimmer gelangte. Die zweite Tür links führte in ein kleines Gäste-WC, dahinter befand sich die Garderoben-Nische. Von dieser Nische aus führte ebenfalls eine Tür in das Erdgeschoss-Badezimmer. Geradeaus gelangte man in das mittlere von drei Wohnzimmerteilen. Ging man von der Haustür nach rechts, kam man in die große Wohn-Küche. Rechts befand sich eine lange Küchenzeile vor drei Fenstern. Links stand der Esstisch für sechs Personen. Links neben dem Esstisch befand sich eine Tür, die in den ersten Wohnzimmerbereich führte. Man konnte sozusagen einmal rund durch das Erdgeschoss laufen.

    In der Küche zwischen den beiden Türen an der Wand stand ein großer alter Küchenschrank mit zwei Glas-Schiebetüren in der Mitte. Zwischen diese Glas-Schiebetüren konnte man Papiere stecken. So wurden z.B. die Zeugnisse am Tag der Zeugnisausgabe, wenn wir aus der Schule zurück waren und diese vorgezeigt hatten, zwischen die Scheiben gesteckt. Ein Teil war dann von der linken Scheibe geschützt, die rechte Hälfte des Papiers befand sich sozusagen außen.

    Wenn meine Mutter in Rage war, schmiss sie schon mal die eine oder andere Kaffeekanne durch die Küche. Der Teil der Zeugnisse, der aus der Schiebetür herausragte, bekam schon mal einige Kaffeeflecken ab, was ziemlich peinlich war, wenn wir die Zeugnisse dem Lehrer unterschrieben wieder vorlegen sollten. Natürlich existieren vereinzelte von Elisabeth kunstvoll mit Kaffee designte Exemplare heute noch in unseren wichtigen Unterlagen.

    Über mein eigenes Zimmer war ich alles andere, als glücklich. Ständig hatte ich Angst und letztendlich schlief ich oft gemeinsam mit Jörg in seinem Bett ein.

    Waren wir abends nach dem Zubettgehen nicht leise und Xaver bekam mit, dass ich in Jörgs Bett lag, schlich er hoch und verhaute uns den nackten Hintern. Meine Ängste vor den vermeintlichen Monstern in meinem Zimmer waren aber erheblich größer, als die Angst vor meinem Vater. Und mein Bruder war mir wohl einfach freundschaftlich gesonnen.

    In unserer Kindheit hatte Jörg den Status eines Teletubbies. Er träumte immer und mit seiner dicken Hornbrille sah er absolut uncool aus. Xaver nannte ihn oft 'Hans-guck-in-die-Luft'.

    Da er während seiner gesamten Kindheit irgendwie allen in der Familie unterlegen war, war er natürlich Mutters unausgesprochener Liebling. Er hielt sich auch meistens aus Streitigkeiten heraus. Wenn Gustav und ich uns hysterisch an die Kehle gingen, kommentierte Jörg diese Situationen z.B. mit „ich mach mir jetzt ein Sandwich".Er aß sehr gerne, was man ihm in der Jugendzeit auch ansah. Mein Zwillingsbruder war eher gemütlich und keinesfalls streitsüchtig.

    Er war nicht nur in unserer Familie unscheinbar bzw. ein Opfertyp, Jörg hatte in seiner gesamten Kinder- und Jugendzeit einen wirklich schweren Stand. Er wurde von allen und jedem niedergemacht. Unsere Klamotten waren abgetragen und unmodern. Dazu kam Jörgs dicke Hornbrille, die ihn aussehen ließ, wie einen Mini-Professor. Er war unbeliebt, obwohl ihn niemand wirklich kannte oder kennenlernen wollte. Dementsprechend wurde er gehänselt und gemobbt (obwohl es dieses Wort in unserer Kindheit noch gar nicht gab).

    Als wir 7 Jahre alt waren, gingen wir drei Geschwister in unserem Dorf zum Eisbüdchen, wie oftmals. Wir trugen nur Badesachen, weil es sehr heiß war. Vermutlich eher zufällig kamen uns drei Jungs entgegen, die knapp 5 Jahre älter waren, als wir. Dieter, einer dieser Typen, ging auf meinen Zwillingsbruder zu und haute ihm unvermittelt mit der Handfläche dermaßen auf den Po, dass Jörg Nasenbluten bekam, wie ich es noch nie gesehen hatte. Bis wir zurück nach Hause gelaufen waren, sah Jörg aus, als wäre er in ein Massaker geraten. Das Blut lief ihm über den ganzen Körper bis an die Füße. Frage: warum schlug dieser Typ ausgerechnet Jörg, er hätte genausogut Gustav oder mich hauen können. Eine Antwort habe ich nicht.

    Leider war Jörg Legastheniker. Da er sich in der Grundschule sehr schwer tat, besonders mit Lesen und Schreiben, kam für ihn die Realschule nicht in Frage. Meine Mutter vertrat die Ansicht, dass wir Zwillinge schulisch nicht getrennt werden sollten. Also wurden Jörg und ich nach der Grundschulzeit in die Hauptschule eingeschult - in verschiedene Klassen.

    Zusammen in einer Klasse waren wir nur im ersten Schuljahr der Grundschule. Dort hatten wir aber ständig den Unterricht bzw. uns gegenseitig gestört mit Fragen wie: „Jörg, hast du ein Lineal" oder „was hast du auf deinem Butterbrot?" oder so ähnlich. Elisabeth und die Lehrer entschieden, dass wir ab dem zweiten Schuljahr in getrennte Klassen gehen sollten. Jörg musste wechseln. Ich durfte bleiben. Warum so entschieden worden war, weiß ich nicht. Vermutlich gibt es einerseits Glückskinder wie Gustav und andererseits solche, die das Pech anziehen wie Jörg.

    Auch in der Hauptschule waren wir in verschiedenen Klassen. Deshalb war die Aussage unserer Mutter, dass wir schulisch nicht getrennt werden sollten, schon komisch.

    Zu seiner Ehrenrettung sei erwähnt, dass Jörg die Schule mit Realschulabschluss inkl. Qualifikation abschloss und ich – dank einer Fünf in Mathe nur den Abschluss ohne Qualifikation bekam. Ich beschränkte mich schulisch auf das Nötigste. Man könnte auch faule Socke sagen.

    Wir Zwillinge gehörten beide in die Kategorie der Menschen, die als letztes übrig blieben, wenn in der Schule für Gruppenarbeiten oder auch für eine Sportstunden-Mannschaft Schüler wählen durften. Wenn ich heute nach Gründen dafür suchen müsste, würde ich sagen, ich wurde nicht in Mannschaften gewählt, wegen meiner großen Klappe und Zickigkeit und Jörg wegen seiner Taten- und Talentlosigkeit.

    Mein Zwillingsbruder ließ sich viel zu viel gefallen; er war das perfekte Opfer. Oft rannte ich in seine Klasse und versuchte, ihn zu verteidigen. Doch er sagte, wenn ich mich eingemischt hatte, wurde für ihn alles nur noch schlimmer.

    Im 3. Schuljahr hatten zwei Jungs aus unserem Dorf Jörg nach der Schule den Ranzen weggenommen und seine Schulbücher verbrannt. Jörg wehrte sich nie.

    Um das klarzustellen: ich hatte Jörg auch oft schlecht behandelt, aber andere Kinder durften das noch lange nicht.

    Hinzu kam, dass Jörg wahrlich ein Pechvogel war, der sich ständig Verletzungen zuzog. Lief er die Treppe hinunter und nahm zwei Stufen auf einmal (was wir alle taten), riss er sich derartig die Ferse auf, dass sie eigentlich hätte genäht werden müssen. Fuhr er mit dem Fahrrad, schaute er überall hin, nur nicht vor sich auf die Straße. Dementsprechend oft fiel er hin oder knallte gegen Mauern oder ähnliches.

    Mit 10 Jahren stand Jörg mit Werner an einem LKW, der Kies ablud. Jörg sah gebannt zu, wie die Ladefläche des LKW's nach hinten hochstieg um die Ladung abzukippen. Jörg war so in der Spannung des Augenblicks versunken, dass er überhaupt nicht bemerkte, wie gefährlich nah ihm die schwingende Klappe gekommen war. Im letzten Augenblick riss Werner ihn am Arm zurück, sonst hätte die schwere Ladeklappe ihm vermutlich das Genick gebrochen. Dank Werners Reaktion verlor Jörg nur eine Ecke seines Schneidezahns.

    Als wir etwa 13 Jahre alt waren, kam ich morgens kurz nach Jörg in die Küche. Alles war voller Blut, als hätte sich dort ein Messerstecher ausgetobt. Was war passiert? Jörg hatte sich mit der elektrischen Brotmaschine eine Scheibe Brot geschnitten und seinen Daumen übersehen, dessen Kuppe dann gleich mit geschnitten wurde. Er hatte ein Papierküchentuch darum gewickelt und war in die Schule gefahren. Später musste die Kuppe natürlich genäht werden (ein Stückchen war noch dran).

    Mit 14 Jahren spielten wir auf der Straße Fahrradfangen. Jörg und ich teilten uns ein altes Fahrrad, das wir geschenkt bekommen hatten. Um dem alten Damenrad etwas Cooles zu verleihen, hatten wir einen Spiegel an den Lenker geschraubt. Leider schaute das Ende der Befestigungsschraube etwa 3 cm unter dem Lenker heraus und das Fahrrad war sowieso etwas zu klein für uns. Aus irgendwelchem Unmut hatte ich an besagtem Tag keine Lust mehr, mitzumachen. Jörg fuhr an meiner Stelle mit. Jedoch nur kurz. Ich war etwa 100 Meter entfernt in Richtung nach Hause unterwegs, als die anderen Kinder hinter mir riefen, ich sollte meine Mutter benachrichtigen, Jörg hätte sich verletzt. Gemeinsam mit meiner Mutter ging ich zurück zur Straße, wo Jörg lag. Ein Nachbar hatte seine Hose kaputt geschnitten und so sah man sein verletztes Knie. Was war passiert? Als Jörg eine enge Kurve gefahren war, hatte sich das überstehende Schraubenende des Spiegels in sein rechtes Knie gebohrt und dort eine recht große Wunde hinterlassen. Jörg musste sofort ins Krankenhaus. Er hatte sich den Schleimbeutel oberhalb der Kniescheibe derart verletzt, dass er insgesamt 7 Wochen (inkl. der kompletten Sommerferien) im Krankenhaus verbringen und zwei Operationen über sich ergehen lassen musste. Einen größeren Pechvogel, als ihn habe ich bisher nicht kennengelernt.

    Im Gegensatz zu meinem Zwilling ließ ich mir nichts gefallen. Wenn aus Provokation eine Prügelei wurde, war ich dabei. Es gab nur wenige Jungs in meiner Schulzeit, mit denen ich mich nicht geprügelt hatte. Dabei brauchte ich mir aber gar nicht erst einbilden, dass ich meine Brüder hätte zu Hilfe rufen können.

    Mit 13 provozierte mich ein Typ im Schulbus. Natürlich erwiderte ich seine Provokationen. Nachdem wir ausgestiegen waren, begannen wir gleich zu schubsen und zu rangeln. Nach kurzer Zeit hatte der Typ mich im Schwitzkasten. Jörg und Gustav waren zwar dabei, blieben aber in einigem Abstand stehen und beobachteten uns. Jörg sprach Gustav mehrmals an, ob sie mir nicht helfen sollten. Knappe Antwort: „Nein!" Sie schauten zwar weiter zu, aber helfen musste ich mir selbst.

    Ebenfalls mit 13, als ich mit Gustav auf der Straße Fußball spielte, kam unser Nachbarjunge Olaf (damals 14) dazu und nahm mir den Ball ab. Da er mich dabei etwas angerempelt hatte, ließ ich mich fallen, blieb auf dem Rücken liegen und schlug beide Hände vor mein Gesicht. Olaf kam zu mir, um zu sehen, ob er mich verletzt hatte. Als er nah genug über mich gebeugt stand, zog ich ihm meinen Fuß quer über sein Gesicht. Seine Nase war komplett aufgekratzt. Er hielt sich die schmerzende Nase und verfluchte mich, während ich aufsprang und davonrannte.

    Seinen Status als kleiner Professor unterstrich Jörg noch mit seinen Kommentaren.

    Sein Zimmer sah immer aus, wie eine Müllkippe. Als unsere Mutter einmal in seinem Zimmer stand und ihn fragte: „Jörg, warum liegt hier alles auf der Erde? " antwortete er sehr sachlich: „Schwerkraft Mutter, Schwerkraft".

    Nachdem ich in unserer späteren Jugend trotz Angst in meinem eigenen Zimmer schlief, konnte ich Jörg mitten in der Nacht wecken, damit er für mich Spinnen tötete. Wenn er dann aber keine Brille trug, konnte es durchaus sein, dass er die Spinnen mit Stecknadelköpfen, die meine Poster an den Wänden hielten, verwechselte und solange darauf herumschlug, bis das Poster herunterfiel. Aber: der gute Wille zählte!

    Jörg mochte die Sammlungen kleiner Gummifiguren. Seine Lieblingsfiguren waren blau und hatten weiße Mützen auf dem Kopf. Außer Papa Schlumpf. Der trug schon immer eine rote Mütze. Für diese Sammel-Leidenschaft hatte Jörg Gustav und mir einmal das Monats-Taschengeld gemopst und sich eine komplette Serie der Figuren gekauft (die pro Stück 2,50 DM kosteten). Mannomann, waren wir wütend auf ihn.

    Gustav I

    Gustav und ich hatten seit unserer Kindheit ein gespaltenes Verhältnis zueinander. Mit Niemandem sonst konnte man so schön Barbie spielen, wie mit ihm. Ansonsten hatte er bei jeder Art Spielen seinen Vorteil gesucht.

    Mit etwa 8 Jahren erfand er ein Spiel, in dem er der König war und alle anderen ihm zu dienen hatten. Da mein Ego keinen Diener hergab, ernannte ich selbst mich zur Prinzessin, was er duldete.

    Da er aber natürlich einen Diener für sein Spiel brauchte, war Jörg die perfekte Besetzung. Mit ihm konnte man fast alles machen. Er war ein Träumer und er fügte sich. König – Prinzessin – Diener - das war Gustavs Lieblingsspiel.

    Wir spielten auch oft auf der Straße Fußball. Gustav war selbstverständlich der einzige von uns dreien, der echte Fußballschuhe mit Stollen trug. Dass meine Beine ständig irgendwelche Schürfwunden und Blutergüsse vorwiesen, lag an meinem Kampfgeist. Jörg war nicht so siegeswillig. Gustav fand, wenn er mich verletzte, war das kein Foulspiel, höchstens Vorteil. Daraus ergaben sich natürlich handfeste Kriege zwischen uns. Wir waren beide starke Charaktere. Wenn ich heute darüber nachdenke, ist es reine Glückssache, dass wir keine ernsthaften Verletzungen davon getragen haben.

    Gustav hielt sich immer für etwas besseres. Als er ein Jahr vor uns in die erste Klasse kam, wurde er nicht müde, uns als Kindergartenbabys zu bezeichnen. Nachdem wir im darauffolgenden Jahr ebenfalls eingeschult wurden, verkündete er (Zweitklässler) überall, wir wären die kleinen i-Dötzchen. Genauso verhielt es sich, als wir in der 4. Klasse waren und er in die Hauptschule eingeschult worden war. In seinen Augen war er selbst immer etwas Besonderes und wir die dummen Kleinen. Das eine Jahr, das er uns Zwillingen voraus war, machte ihn uns immer überlegen. Als wir 1980 in die Hauptschule wechselten, wiederholte er die 5. Klasse noch einmal in der Realschule, die in dem Jahr eröffnet wurde. Ab diesem Zeitpunkt blieben wir in seinen Augen minderwertig. Diese seine Auffassung wurde noch dadurch verstärkt, dass er sofort zum Klassensprecher und dann auch gleich zum ersten Schülersprecher der neuen Realschule gewählt wurde. Er hatte eine

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