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Eingefroren in der Zeit: Bewältigung generationenübergreifender Kriegstraumata und Aufbruch in eigenes Lebensglück
Eingefroren in der Zeit: Bewältigung generationenübergreifender Kriegstraumata und Aufbruch in eigenes Lebensglück
Eingefroren in der Zeit: Bewältigung generationenübergreifender Kriegstraumata und Aufbruch in eigenes Lebensglück
Ebook437 pages5 hours

Eingefroren in der Zeit: Bewältigung generationenübergreifender Kriegstraumata und Aufbruch in eigenes Lebensglück

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About this ebook

Eingefroren in der Zeit ist ein einzigartiges und wichtiges Zeitzeugnis. Es benennt Folgen unverarbeiteter Kriegstraumata und zeigt Wege auf, die in Heilung und Klarheit führen.

Mutig offenbart die Autorin die eigene Geschichte: Ihr Blick zurück fordert die Wahrheit zutage, er durchbricht den Schweigepakt der Eltern über das Grauen des Krieges.

Das Buch vermittelt die Erfahrung eines übermenschlich großen Schattens und führt in eine bessere und leichtere Gegenwart und Zukunft. Es nimmt kein Blatt vor den Mund. Es schildert nicht nur die Schrecken der Bombennächte und benennt deren Folgen auf die
Autorin, das Nicht-gestillt-worden-Sein der Bedürfnisse, das Zum-Schweigen-gebracht-worden-Sein, die unerklärlichen Schuldgefühle und Selbstzweifel, den immensen Leistungsdruck.

Es gibt auch Impulse, wie es gelingt, trotz transgenerational übernommener, unverarbeiteter Traumata ein gutes Leben zu haben, sich selbst aus dem Bann der Bedürftigkeit der Eltern zu lösen und Bezug auf das zu nehmen, was das eigene Leben nährt und bereichert.

Die Kriegsenkel:innen-Generation hat keinen Krieg erlebt. Sie weiß nicht, was Hunger ist, Hunger nach Essen, Nahrung, Ernährung. Sie weiß aber, was emotionaler Hunger ist, der Hunger, den sie spürt, und zwar nach Wahrgenommen-Werden mit ihren Gefühlen, ihren Fragen, ihren Ansichten. Der Hunger danach, gesehen und ernst genommen zu werden.

Birgit Elke Ising schont sich nicht, sondern nimmt mit teils bedrängender Offenheit ihre Verletzungen und damit die einer ganzen Generation unter die Lupe und fragt: Wie sind sie entstanden? Welche Verheerungen hat der Krieg in den Seelen unserer Ahnen hinterlassen? Warum sind sie mit uns immer wieder so unbarmherzig umgegangen? Warum sind wir so oft gescheitert?

Und die Leser:innen können sich aufgefordert sehen zu fragen: "Hat das was mit mir zu tun?" Wenn sie einen Bruchteil so ehrlich sein wollen wie Birgit Elke Ising, ist die Antwort eindeutig: Ja, natürlich!
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateMar 15, 2022
ISBN9783347529083
Eingefroren in der Zeit: Bewältigung generationenübergreifender Kriegstraumata und Aufbruch in eigenes Lebensglück

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    Eingefroren in der Zeit - Birgit Elke Ising

    1

    Frühling – erinnern

    Armes Kleines

    Du schläfst im kratzigen Mantel, Klobige Schuhe,

    Findest deine paar Sachen im Dunkeln.

    Glitzernde Tannenbäume am Nachthimmel. Schön sieht das aus.

    Die Großen schreien, drängen zur Eile.

    Beeilung! Lauf! Schnell!

    Im Durcheinander

    Nasse Tücher vorm zarten Mädchengesicht.

    Feuermäuler gebären höllische Hitze.

    Nichts sehen im zart konturierenden Qualm.

    Dünne Beinchen, fast versinkend auf schmelzender Straße,

    Steigen im Geheul über verbranntes Lebendigsein.

    Reste deiner verkohlten Puppe,

    Im geschwärzten Schrankskelett.

    Dein Zuhause ein bröckelnder, hohler Zahn.

    Glassplitter auf Muttis Geburtstagstorte,

    Zutaten vom hungrigen Munde abgespart.

    Keine Gefallenen … Kerzen.

    Kleines Herz, fast zerberstend vor zitternder Angst Versenkt sich stumm in erstarrtem Lebendigsein.

    Jemand spielt Flöte,

    … Aber ich darf nicht weinen.

    Birgit Elke Ising

    DIE FRAUEN OHNE MÄNNER

    Meine Urgroßmutter Anna Rosina führte ihren kleinen Hof im oberschlesischen Dorf Sacken, bestehend aus ein wenig Land hinter dem Haus, einer Ziege, einer Kuh, einem Schwein und einer Katze – allein. Sie war eine einfache, gute Frau und bestellte ihr Feld, das hinter dem Haus bis an den Waldrand reichte. Der Boden im Haus war gestampft. Das Wasser schöpfte sie mit einem an einem dicken Seil befestigten Zinkeimer aus einem Ziehbrunnen, der aussah wie im Märchen. Einmal in der Woche buk sie im Holzofen auf der Tenne Brot und ihren im Dorf berühmten, duftenden Streuselkuchen. Und sommers kamen sie: ihre ganze Freude, die Enkelkinder, gebracht mit dem Zug über Breslau und Oppeln von ihrer Schwiegertochter, meiner Oma Elisabeth. Der Nachbar holte sie und die zwei Kinder, meine 1928 geborene Mutter Inge und ihren zwei Jahre älteren Bruder Günter mit dem Pferdewagen vom Bahnhof in Poppelau ab. Sie hatten immer ein ganzes Zugabteil für sich, es war fast wie ein Umzug, weil sie so viel dabeihatten – neben ihrem eigenen Kram auch noch Strümpfe und Stoffe, Pullis und Schürzen für die Oma und alles andere, was die alte Frau in Sacken oder im 3,5 km entfernten Poppelau nicht so gut bekommen konnte. Dafür nahmen sie auf dem Rückweg ganze Körbe voller Heidelbeeren, Schinken, Würste und Eingemachtem mit nach Hause.

    Als die Kinder den Nachbarn vor dem Bahnhof auf seinem Pferdewagen sitzen und auf sie warten sahen, da gab es kein Halten mehr, sondern nur noch Juchzen, Geschubse und Gerenne. Na los! Wer zuerst bei den Pferden war! So begannen Jahr für Jahr für meine Mutter und ihren Bruder die besten Wochen des Jahres. Im Paradies bei der Oma sein! Und was das noch für Sommer waren: blauer, wolkenloser Himmel, an dem immer die Sonne hing, goldene Felder, saftige Wiesen. Still schwirrte die Luft und gedämpft waren die Geräusche. Diese Stille war fast das Beste, nahezu unaushaltbar schön. Hier hörte Mutter die Insekten am Boden herumkruscheln und die Bienen in knallbunten Blüten summen – hier war es still, hier war Frieden. Fahrten im Pferdewagen, hui, draußen sein und im Wald herumstromern, mit den Tieren und den Dorfkindern spielen, im Garten und auf dem Feld helfen, heimlich die noch knallheißen Streusel vom frischen Kuchen stehlen und sich daran den Mund verbrennen. Und vor allem: nicht mit dem Rohrstock verdroschen, ja noch nicht einmal ausgeschimpft zu werden. Oma Anna Rosina war für die Kinder Liebe und Freiheit. Es war ein Ritual, wenn sie am frühen Nachmittag des Backtages scheinbar überrascht und erschreckt über den Hof schrie: „Ach Gott, was ist das denn Furchtbares? Was ist denn bloß mit dem Kuchen passiert? Wer hat denn die ganzen Streusel vom Kuchen geklaut? Na warte, wenn ich den erwische! und dabei die Arme in die Luft warf und mit dem rechten Zeigefinger fuchtelnd drohte. Dann riefen die Kinder gespielt bang zurück: „Oma, Oma! Das war doch wieder die Katze!, und sie antwortete stets mit einem Kopfschütteln und einem verschmitzten Lächeln im Gesicht mehr zu sich selbst als zu den Kindern: „Na, ihr seid mir schöne Katzen …"

    Damit war alles gesagt. Nicht bestraft und nicht verprügelt. Dem tiefen schwarzen Loch, in dem sonst das Monster mit dem Rohrstock lauerte, mussten die Kinder hier keine Beachtung zumessen. Bei Oma Anna Rosina war das Versteck des Monsters leer.

    Am Abend versanken alle glücklich und erschöpft in den dicken Federbetten und freuten sich auf den nächsten Tag und auf die nächsten Kinderabenteuer – auch Anna Rosina. Die gemeinsamen Wochen waren unbeschwert und frei. Hier durften Kinder Kinder sein, durften spielen, Streiche aushecken und lachen.

    Zu Hause war den Kindern ihre Fröhlichkeit und ihr Lachen schon lange vergangen. Beides lag dort in einer verschlossenen Kiste, die meine Mutter auch später im Leben nur sehr selten öffnete.

    Nach ihrem Opa fragten die Kleinen ihre Mutter nur einmal auf dem Hinweg im Zug. Meine Oma Elisabeth, die eben noch den ganzen Kram im Abteil organisierte und das Monster im Loch dabeihatte, antwortete knapp: „Ach, der ist doch im Krieg geblieben." Auch damit war alles gesagt und weitere Fragen der Kinder nach ihm endeten genau hier.

    Und nur ein einziges Mal gab es für die Kinder bei Anna Rosina Riesenärger. Das war, weil Günter das Stück Seife, das immer auf einem bunten Lappen auf dem natursteinernen Brunnenrand lag, beim Händewaschen in der kleinen Waschschüssel, die danebenstand, aus der Hand geglitscht war. Oh nein! Die Seife schlitterte über die grauen Steine. Vier Kinderhände wollten das Schreckliche verhindern, versuchten rangelnd danach zu grabschen, ein, zwei Finger berührten sie, aber sie flutschte hüpfend davon. Den grünen Seifenschleim noch an den Fingern, sahen die beiden erstarrt zu, wie die Seife fast in Zeitlupe in den tiefen Brunnen trudelte an seinem Inneren entlangglitschte und einundzwanzig-zweiundzwanzig-dreiundzwanzig mit einen Riesenklatscher unten aufschlug. Das musste kurz nach der Ankunft bei Anna Rosina passiert sein, denn ihre Mutter war noch nicht wieder zurück nach Hause gefahren.

    Da erhob sich das Monster blitzschnell aus dem schwarzen Loch: „So schnell konnten wir gar nicht gucken, so schnell hatten wir Dresche. Alle beide! Und wir mussten am helllichten Tag ohne Essen ins Bett. Dabei hatte ich doch gar nichts gemacht", erzählte meine Mutter später die Geschichte.

    Anna Rosina aber scheuchte das Monster ins Loch – in den Brunnen. Es musste hinabklettern, die Seife herausholen und den ganzen Brunnen erst auswaschen und dann stundenlang leerschöpfen. So lange, bis das Wasser wieder klar war und nicht mehr nach Seife schmeckte. Die Kinder beobachteten ihre Mutter dabei bis zum späten Abend heimlich aus dem Fenster. Bis dahin hatte es noch niemand gewagt, das Monster zu bestrafen.

    Der Rohrstock war dem Monster an der rechten Hand festgewachsen und damit übte es immer absolute Gerechtigkeit: Nach einer vermeintlichen Tat wurden einfach alle Kinder, eins nach dem anderen, verprügelt – egal, wer es gewesen war. Da musste es sich nicht lange mit den gegenseitigen Beschuldigungen der Kinder auseinandersetzen und konnte sicher sein, „immer den Richtigen zu erwischen". Die Unschuldigen hatten dann einfach Pech gehabt oder nicht gut genug auf den Täter aufgepasst. Die Tat verhindert hatten sie ohnehin nicht und somit waren alle gleichermaßen schuld. Das Monster konnte die Kinder und ihre Angst riechen. Jeder Versuch, sich ihm zu entziehen, war zwecklos. Wenn sich meine unschuldige Mutter unter dem Sofa versteckte, um dem Monster zu entgehen, spürte es sie auf, zerrte sie mit Schaum vorm Maul und umso wütender an den Haaren hervor und dann war es ihm auch egal, wohin es schlug, weil es nun noch einen Grund mehr hatte. Danach steckte das wütende Monster die Kinder zur Strafe ins Bett, verbarg seinen Rohrstock, damit sie ihn nicht verstecken konnten, oder suchte sich vorher in den Zimmerpflan zen einen Ersatz für den eben auf dem Kind zerbrochenen. Dann kroch es mit dem Stock wieder in sein Loch und ließ eine junge, erschöpfte und überforderte Mutter zurück, die vieles allein bewältigen musste. Seit Oma Elisabeth 23 war, hatte sie keine Eltern mehr. Als sie mit meiner Mutter, der kleinen Inge, im fünften Monat schwanger war, war ihr Vater verstorben und nur kurze Zeit später, als ihr Baby gerade erst vier Monate alt war, hatte sie auch keine Mutter mehr.

    Die Gerechtigkeit einer jungen, überforderten, erschöpften Mutter: Sie verprügelte nach einer Tat einfach alle Kinder – egal, wer es gewesen war.

    Ihr Mann, mein Opa Gustav, arbeitete bei der Bahn im Gleisbau, verdiente „gutes Geld" und musste nicht in den Krieg, war dafür aber selten zu Hause. Meistens war er auf Montage und ließ Oma allein mit den Kindern.

    Wenn er mal zu Hause war, sorgte er für zusätzliche Arbeit. Einmal setzte er sich zum Schuheausziehen auf den Kindertisch – mit dem Hintern mitten hinein in einen Teller dampfender, ohnehin viel zu knapper Erbsensuppe. Ein andermal wachte er betrunken nachts auf, öffnete die Tür des Kleiderschrankes, pinkelte zwischen Omas feine kleingeblümte Kleider und legte sich wieder hin. Er hatte die Türen verwechselt. Mit der Erziehung der Kinder hatte er nichts zu tun. Das machte Elisabeth und ihre einzige Hilfe war das Monster.

    Eins der für meine Mutter wichtigsten Prinzipien im Leben war ihr absolutes Bestreben, niemals, wirklich niemals an etwas schuld zu sein. Sie machte einfach keine Fehler. Sie gab sich unangreifbar.

    Das Monster saß ihr ein Leben lang im Nacken.

    Bei meinem Vater war es anders. Die Männer, die aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt waren, waren wortkarg, autoritär und von nächtlichen Albträumen geschüttelt. Ob das bei seinem Opa, dem Vater seiner Mutter Lissy auch so war, weiß ich nicht. Auf allen alten Fotos schaut mein Urgroßvater militärisch-grimmig in die Kamera, manchmal mit Uniform, manchmal ohne. Eine Respektsperson.

    1910 war er, der Telegrafenassistent Johannes Ising, mit seiner Frau Hermine und seiner neunjährigen Tochter Lissy von Hofgeismar nach Kassel gezogen, zunächst für einige Jahre in die Elfbuchenstraße 14 im Westend und 1914 dann in eine schöne große und lichtdurchflutete Wohnung in der vierten Etage der Wilhelmshöher Allee 162. Das war Luxus. Eine Wohnung mit Balkon. Als Postsekretär war mensch wer! Auf den alten Fotos sieht die Familie wohlhabend aus. Fototermine im Bergpark Wilhelmshöhe und in Fotostudios: dunkle Anzüge, Hemden mit hohem steifen Kragen, Kostüme, mit Spitze besetzte Kleider, Hüte, Schmuck, Pelze, gute Schuhe.

    Ihre Tochter, meine Oma Lissy, war eine junge wunderschöne Frau, als sie im Fernmeldeamt eine Anstellung fand. Kaum 22 Jahre alt war sie 1924 plötzlich schwanger und sie sagte nicht, von wem. Wie schrecklich für sie und ihre Eltern – welche Angst sie wohl gehabt haben muss, ihnen die „Schande zu beichten? Nach dem Tod meines Vaters fand ich eine Notiz von Uropa Johannes mit einer hineingesteckten getrockneten Rose: „Dieses schöne Röschen brachte mir unser lieber Helmut als er drei Monate alt war zu meinem 53. Geburtstage. Großvater. 18.6.1925. Ich bin noch immer erstaunt über die Zeilen, die so gar nicht in meine Vorstellungen von dieser Zeit und dem streng dreinblickenden Mann passen. Zeilen, aus denen Liebe spricht und die den kleinen Helmut offenbar, auch ohne Papa und ohne Ehehafen, akzeptierten, ihn nicht zum Bastard machten. Ich finde das groß – und seltsam zugleich. Warum war das so? Wie waren die Verhältnisse? Was hatten sie für eine Beziehung? Vaters Großmutter Hermine liegt für mich im Nebel wie ein Schatten, kaum vorhanden.

    Mein Vater kam im März 1925 zur Welt, von seinem Großvater mit Freude erwartet und großgezogen von seiner unverheirateten Mutter in der Wohnung ihrer Eltern. Vaters Geburtsurkunde des Diakonissen-Krankenhauses brüllt „Vater unbekannt". Er ist es bis heute. Oma Lissy hat ihr Schweigen durchgezogen. Mein Opa, der Vater meines Vaters, blieb ihr wohlgehütetes Geheimnis. Sie nahm es mit ins Grab.

    Der kleine Helmut wurde ihr Ein und Alles und das blieb so, auch als er bereits ein erwachsener Mann war. Sie behütete und vergötterte „ihr Jungelchen – er wurde ihr zum emotionalen Ersatz des fehlenden Mannes. Und Helmut war dankbar und der sie „über alles liebende Sohn. Dass er sie nicht verlassen durfte, das lernte er früh. Aber was „einen Vater haben und später dann in der Beziehung zu mir „ein Vater sein bedeutete und wie sich das anfühlte, anfühlen sollte, das kannte er nicht.

    Ob er Lissy je nach seinem Vater gefragt hatte, weiß ich nicht. Mutter erzählte mir später, sie seien einmal gemeinsam „irgendwohin zu irgend so einem Mann und seiner Familie gefahren. Sie sei draußen vor dem Einfamilienhaus im Auto sitzen geblieben. Er sei da alleine rein und danach hätte es nichts Neues gegeben, Vater hätte nichts erzählt. Dann kam ihr typisches: „Basta! Das ist so lange her! Mehr weiß ich nicht! Nichts, kein Wer, kein Wohin, kein Wann und auch nicht, was Vater danach bewegt hatte. Ich kochte! So was Wichtiges kann mensch doch nicht vergessen. War sie emotional so wenig involviert gewesen bei der Suche ihres Mannes nach seinem Vater? Ich war fassungslos.

    DAS KENNENLERNEN

    Mutters großer Bruder Günter war kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges in englische Gefangenschaft geraten und hatte dort meinen Vater, den nur ein Jahr älteren Helmut, kennengelernt. Und – welch ein Zufall! – sie kamen beide aus Kassel. Die ferne Heimat verband sie, und sie freundeten sich an. Durch welche Umstände sie sich aus den Augen verloren, weiß ich nicht. Sie suchten nicht nacheinander, denn sie hatten sich schon abgewöhnt, darüber nachzudenken, „wo andere abgeblieben waren". Kurz vor Weihnachten 1949 staunten die beiden nicht schlecht, als sie sich plötzlich in Kassel auf der Straße wieder gegenüberstanden.

    „Das darf doch nicht wahr sein! Das gibt’s doch gar nicht! Was machst du denn hier?"

    Sie fielen sich in die Arme. Große Wiedersehensfreude!

    „Komm, wir trinken erst mal einen."

    Sie beschlossen, sich nicht wieder zu verlieren und Günter lud Helmut zum Essen zu Weihnachten nach Hause zu seinen Eltern ein. „Ich habe auch eine nette Schwester!", soll er ihm beim Auseinandergehen fröhlich zwinkernd hinterhergerufen haben. Die nette Schwester war meine Mutter und so lernten sich meine Eltern kennen. Das mit den beiden ging später schief, aber Onkel Günter und mein Vater blieben bis zuletzt dicke Freunde.

    DAS ZUHAUSE

    Kurz darauf passierte etwas Dunkles und Dubioses. Danach stand meine Mutter auf der Straße und ihre Eltern ließen sich scheiden. Rund um diese Ereignisse gibt es nur Mutters verhangene Fragmente und meine Vermutungen. Sie drehte sofort durch, wenn ich wissen wollte, warum Oma Elisabeth und Opa Gustav geschieden waren, und fing sofort an zu weinen und zu schnappatmen: „Schrecklich! Ich habe so gelitten! Sie hat mich rückwärts die Treppe heruntergeschubst. Die wollten mich umbringen!, waren ihre immer gleichen Sätze. Ich wollte meine Mutter so nicht sehen und meine Fragen verebbten in der heftigen alles verschlingenden Brandung ihrer Reaktion – jedes Mal und augenblicklich. Es scheint, Oma habe ihren Gustav mit einem anderen Mann betrogen, und es ist zu vermuten, dass meine Mutter die beiden in flagranti ertappt hatte. Meine Cousine meinte einmal, dass „da auch irgendetwas mit einem anderen Kind gewesen sein könnte, aber eine Spur dorthin gibt es nicht. Relativ sicher scheint, dass „der andere" ein Mitarbeiter meines Opas gewesen war, vielleicht sogar der Prokurist in seinem Gleisbauunternehmen.

    Da muss das Monster sein faulig stinkendes Maul wieder aufgerissen und seine scharfen Zähne in den nach jungem Blut duftenden Leib meiner 22-jährigen Mutter geschlagen haben – zum allerletzten Mal. Sie bleib ihm jedoch im Hals stecken, etwas hinderte es daran, sie ganz zu fressen. Stattdessen warf es Mutter, deren Beziehung zu seiner Herrin und deren Ehe in den Abgrund. Ob Mutter tatsächlich „zu Hause rausflog oder ob sie in ihrem Schreck, ihrer Scham und Angst weglief und sich danach nicht mehr nach Hause traute, hat sie nie erzählen können. Nach ihrer kurzen Explosion schloss stets ihr Standardsatz die Geschichte: „Das war so furchtbar, ich wusste überhaupt nicht, wohin! Ihr Vater kam darin nicht vor.

    Helmut mochte sie und bot ihr an, erst einmal mit zu ihm nach Hause zu seiner Mutter zu kommen. Das tat sie und ab dem Zeitpunkt waren sie für viele Jahre zu dritt in der Wilhelmshöher Allee 162. Ich kann mich an Oma Lissy nicht erinnern und Mutter berichtete immer, dass es mit ihr „die Hölle gewesen sei. „Deine Oma Lissy war so hinterfotzig und gemein zu mir. Die konnte ihren Sohn einfach nicht loslassen und hat alles getan, um gegen mich zu sein. Zwei Jahre später war Mutter noch immer dort gemeldet, ohne mit Helmut verheiratet zu sein. Aber weil die Leute schon redeten, sagte Oma Lissy: „Jetzt macht mal hinne, ihr beiden" – und da heirateten sie. Die Hochzeitsgesellschaft waren nur Vaters Mutter Lissy und Mutters Vater Gustav. Ich habe Mutter nie von Liebe sprechen hören, aber ich glaube, sie in ihren Blicken auf dem Hochzeitsfoto zu sehen.

    Ihre Wohnsituation änderte sich durch die Heirat nicht, denn Vater machte auch danach „keine Anstalten, wie Mutter es nannte, mit ihr zusammen eine eigene Wohnung zu suchen. Dies war zwar in Kassel auch zehn Jahre nach der großen Bombardierung ein schwieriges Unterfangen, aber, so sagte sie immer, er versuchte es nicht einmal. „Der konnte sich nicht von seiner Mutter lösen. Der brachte es nicht fertig, zu Hause auszuziehen, und Mutter hörte nicht auf, sich darüber zu beschweren – auch bei ihrem Vater, dem inzwischen stadtbekannten Gleisbauunternehmer. Opa Gustav besorgte den beiden eine Wohnung und schenkte seiner Tochter die schweren Möbel aus dunkler Mooreiche mit den Füßen, die aussahen wie Tiertatzen, und den geschnitzten Vögeln und anderen wilden Fabelwesen, die ich später als Kind so bestaunte, weil sie mir in fremden Sprachen ihre Geheimnisse zuflüsterten, wenn ich sie mit dem Staubpinsel kitzelte.

    Abb. 1: Hochzeit meiner Eltern, 1952

    „So eine schöne Wohnung, schwärmte Mutter, „aber dein Vater hat es nicht geschafft, sich da richtig anzumelden.

    Ein Drama! „Sie" (die Behörden) hatten ihr die Wohnung deswegen wieder weggenommen. Sie war für sie allein zu groß. Wohnraum war knapp im Kassel der Nachkriegszeit und wurde behördlicherseits nicht verschwendet.

    „Da machten die kurzen Prozess!"

    Erst viel später konnte ich verstehen, dass es auch für Vater schwer gewesen sein muss. Ich kannte immer nur ihre Sicht. Er befand sich in einem Dilemma und war großem psychologischen Druck ums Familienerbe ausgesetzt, weil die riesige Jahrhundertwende-Wohnung in der Wilhelmshöher Allee, in der Oma Lissy eisern residierte, ihr bei seinem amtlich registrierten Auszug ebenfalls nicht mehr zugestanden hätte. Das konnte er seiner Mutter doch nicht antun! Er konnte die Wohnung seiner Großeltern schließlich nicht für meine Mutter „verschleudern. Ich kann mir vorstellen, wie lähmend es für ihn gewesen sein muss, zwischen den Interessen der beiden konkurrierenden Frauen zu stehen, und wie folgerichtig es für ihn als „guter Sohn war, bei Mutti gemeldet zu bleiben.

    Ob meine Mutter nach dem enttäuschenden Verlust der ersten eigenen Wohnung zu den beiden „in die Hölle" zurückkehrte, ist fraglich. Diese Zeit ist leer. Aber in den alten Adressbüchern der Stadt Kassel, die im Stadtmuseum einsehbar sind, fand ich etwas anderes: Mutter und Vater hatten 1958 und 1959 eine gemeinsame Wohnung in der Heckerstraße 29. Oma Lissy war in diesen beiden Jahren in der Wilhelmshöher Allee allein gemeldet. Was? Nicht im Ernst! Also hatte er es doch versucht! Das hatte Mutter mir nie erzählt. Warum? Kopfschüttelnd schnuffelte ich weiter in den alten staubigen Adressbüchern. Im Jahr darauf – 1960, also zwei Jahre vor meiner Geburt – wohnte Vater schon wieder bei seiner Mutter. Wieso? Was war da vorgefallen?

    Abb. 2: Mutters Geschäft 1956–1960

    Und da stieg langsam ein vernebelter Erinnerungsfetzen in mir hoch. Mutter hatte doch Mitte der 1950er-Jahre ein Damenmodengeschäft auf der Wilhelmshöher Allee! Und richtig: Ich fand es, Hausnummer 84, 1956 bis 1960. Und dann fiel mir wieder ein, dass ich sie einmal gefragt hatte, warum sie den Laden aufgegeben hätte. Auch darauf bekam ich nur zwei Sätze hingeworfen: „Das ging dann irgendwann nicht mehr, weil dein lieber Vater immer angeschissen kam und in die Kasse gegriffen hat. Ich konnte gar nichts mehr einkaufen." Es ist nebelumhüllt, aber irgendwie passt das zusammen. Und gab es nicht auch eine Zeit, in der Mutter eine Weile im kleinen Hinterzimmer ihres Ladens geschlafen hatte?

    Es scheint mir, als wären Mutter und Vater schon miteinander fertig gewesen, als ich auf die Welt kam.

    Erst zehn Jahre nach ihrer Hochzeit war Mutter mit mir schwanger. Ihr Zustand und ich halfen ihr dabei, endlich eine Wohnung in Baunatal zu finden. Sie zog dort mit den Fabelwesenmöbeln und mit mir im Bauch im fünften Monat schwanger ein. Und dann wieder das Gezanke und Gezerre um das gleiche Thema, die polizeiliche Meldung meines Vaters in der Wohnung, die für meine Mutter das Zuhause ihrer neuen kleinen Familie werden sollte.

    „Der machte da so ein Theater drum!", höre ich Mutter noch immer. Ich war zwei Monate alt, als sie dachte, sie hätte ihn so weit. Er ging zum Einwohnermeldeamt in Baunatal und meldete sich an – mit einem Zweitwohnsitz!

    „Unmöglich war das! Der zog nie richtig bei uns ein. Bei uns war der doch nur mal am Wochenende. Meistens war er bei seiner Mutter in Kassel."

    Ich kann mich nicht an ein Zuhause mit Papa erinnern – und an ihn auch nicht. In seinem Nachlass fand ich Fotos. Darauf hat er eine andere Frau im Arm, datiert „1963". Da war ich ein Jahr alt.

    2

    Sommer – erleben

    Bleib bei mir

    Das, was alle machen, bringt den Tod.

    Vater, Mutter, Kind.

    Ich so zart und klein.

    Du hast doch nicht etwa Angst vor mir?

    Vor mir musst du nicht fliehen.

    Unsichtbares Band,

    Unzerreißbar und für immer.

    Immer ist lang.

    Egal, wo du dich versteckst,

    Ich hänge an deiner Wand,

    Schwarzweiße Konserve meiner selbst

    mit kleinen spitzen weißen Zähnen,

    die an deinem Gewissen nagen.

    Birgit Elke Ising

    DAS ANKOMMEN, THEORETISCH

    Jeder Mensch, der auf diesem Planeten geboren wird, hat ein natürlich gegebenes Recht, die Erde zu bewohnen, ein Recht, das ihm automatisch zusteht, unverrückbar, undiskutierbar, unabwendbar. Die Erde heißt dich unumschränkt willkommen, allein schon dadurch, dass es dich gibt. Sie hat auf dich gewartet, damit du dein ganz individuelles Wesen, deine Sichtweisen, dein Verhalten, dein altes, vielleicht sogar in früheren Leben erworbenes Wissen hier ausleben und in die Welt bringen kannst. Nicht nur für dich, sondern zum Wohle allen Lebens, in unserem uns umgebenden – auch feinstofflichen – Universum.

    Du, dieses kleine, eben erst geborene zarte Wesen kannst und wirst die Welt verändern!

    Du, dieses kleine, eben erst geborene zarte Wesen kannst und wirst die Welt verändern!

    Im Großen, weil du vielleicht tolle Erfindungen, Neuerungen und Verbesserungen erschaffen, weil du mit deinen Erkenntnissen neue Zusammenhänge und Sichtweisen säen und die Welt hin zu einer besseren verändern kannst. Aber auch ganz im (scheinbar) Kleinen, in den Beziehungen zu und zwischen den Menschen, die dich umgeben und die dir im Leben begegnen werden, wirst du sie herbeiführen, die Veränderungen. Dieses zwischenmenschliche Wirken, das im Vergleich zu bahnbrechenden Erfindungen vielleicht zunächst unbedeutend erscheinen mag, ist für mich das Wesentliche, baut doch das ganze Leben auf der Verbindung zwischen zwei Menschen auf, zwei Menschen, die sich so nah und so intim begegneten, dass ein neuer Mensch dabei entstanden ist. Und auch die weltbewegenden Erfinder: innen, Wissenschaftler: innen und Entdecker: innen mögen vielleicht die zündende Idee allein in ihrem Kämmerlein gehabt haben, aber es braucht andere Menschen, Austausch, Kontakt, Beziehungen, Diskussionen und vielleicht auch Streitgespräche, um diese Ideen in die Tat umsetzen zu können. Fast so wie vor der Geburt.

    Du bist das Zentrum, der Urknall, angetrieben von der uns und alles umgebenden Energie, von der Leben ausgeht, dieser geheimnisvollen Urenergie, die dein Herz schlagen lässt, deine Lunge mit deinem ersten Einatmer füllt und Pflanzen und Bäume wachsen, Flüsse fließen, Regen regnen, Wolken ziehen, die Erde sich drehen lässt – und dich schließlich am Ende deines irdischen Lebens ein allerletztes Mal tief ausatmen lässt.

    Zwischen diesem ersten Einatmen und deinem letzten Ausatmen liegen deine Möglichkeiten, die Welt zu verändern, im Großen und im Kleinen. Im Zwischenmenschlichen, das vielleicht die Essenz deines Lebens ist. Du hast alle Möglichkeiten, dich, dein Leben und deine Energie zu entfalten, dein neues wunderbares Wesen auszudrücken. Du bist willkommen, wirst erwartet, gebraucht und geliebt. Einfach, weil es dich gibt, weil du du bist – wenn da nicht Mutti, Papa und all die anderen vor dir und um dich herum wären …

    Eltern haben ein Bild davon, warum sie dich in die Welt gesetzt haben. Sie wissen oftmals schon vor deiner Geburt ganz genau, wie du zu sein, wie du nicht zu sein und vor allem, was du (für sie) zu erledigen hast. Sie kennen deinen Auftrag. Und du wirst ihr Leben verändern. Aber so, wie sie es sich vorstellen?

    DAS ANKOMMEN – IN ECHT

    Als ich im geburtenstarken Jahr 1962 in Kassel zur Welt kam, war meine Mutter 34 Jahre alt und Vater 37 – das war für die damalige Zeit ziemlich alt, um noch ein Kind zu bekommen. Beide hatten schon einiges hinter sich und sie wussten nicht, wie „gesunde Familie" geht. Sie hatten es selbst nie erfahren.

    Ich gehöre zu der Generation, der es doch gut ging, die in einer von unseren Eltern mühsam mit aufgebauten „Wir-sind-wieder-wer-Gesellschaft" und in einigermaßen materiell gesicherten Verhältnissen aufwuchs. In Frieden – äußerlich.

    Innen war Krieg – immer, ganz drinnen, in mir, in meiner Seele und ich spürte ihn auch in den Seelen meiner Eltern und Großeltern. Auch innerhalb meiner Familie war Krieg. In den Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern, in dem, wie sie übereinander sprachen und miteinander umgingen, in dem, was sie sich gönnten und gegenseitig versagten und vorwarfen, und in ihren meist unausgesprochenen Erwartungen. Konflikte wurden nicht ausgetragen, kontroverse Diskussionen fanden nicht statt und über Schwierigkeiten und dem, was wirklich los war, lag ein bleierner Schleier des Schweigens. Ich war stets auf der Hut, umzingelt von Feinden. Der auf streichholzdünnen Beinchen stehende Familienfrieden war nicht verlässlich und konnte blitzartig kippen, in etwas Unkontrollierbares, Unberechenbares. Ich spürte, dass hier „etwas nicht stimmte", es war da, deutlich und gleichzeitig seltsam nebulös und diffus – sich entziehend und ungreifbar. Ich war unfähig, es in Worte zu fassen, zweifelte an mir und meiner Wahrnehmung – bis sich mir endlich der Zusammenhang enthüllte zwischen meinem eigenen Lebensgefühl und den traumatischen, lange vergangenen Erlebnissen meiner Eltern und Großeltern im Krieg.

    Der Familienfrieden war nicht verlässlich. Er stand auf streichholzdünnen Beinchen und konnte blitzartig kippen, in etwas Unkontrollierbares, Unberechenbares.

    Ja, ich habe keinen Krieg erlebt. Ich weiß nicht, was Hunger ist, Hunger nach Essen, Nahrung, Ernährung. Ich weiß aber, was emotionaler Hunger ist, der Hunger, den ich spürte, so nagend in mir spürte nach Wahrgenommen-Werden mit meinen Gefühlen, meinen

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