Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Die verborgene Kriminalität: Straftaten im Dunkelfeld II: Kriminologische Fallbeispiele verdeckter  Gewalt in dysfunktionalen Familien /  Gewalt gegen Tiere als Indikator  häuslicher Konflikte
Die verborgene Kriminalität: Straftaten im Dunkelfeld II: Kriminologische Fallbeispiele verdeckter  Gewalt in dysfunktionalen Familien /  Gewalt gegen Tiere als Indikator  häuslicher Konflikte
Die verborgene Kriminalität: Straftaten im Dunkelfeld II: Kriminologische Fallbeispiele verdeckter  Gewalt in dysfunktionalen Familien /  Gewalt gegen Tiere als Indikator  häuslicher Konflikte
Ebook692 pages8 hours

Die verborgene Kriminalität: Straftaten im Dunkelfeld II: Kriminologische Fallbeispiele verdeckter Gewalt in dysfunktionalen Familien / Gewalt gegen Tiere als Indikator häuslicher Konflikte

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Es besteht die Binsenwahrheit, dass die zivilisatorische Tünche des modernen Menschen mit ihrem Credo der Friedfertigkeit, der Gleichberechtigung aller und der Fairness im Zusammenleben auch in vermeintlich ethisch hochentwickelten Demokratien oft genug nur hauchdünn ist. Wirklich krass zeigt sich diese Tatsache in den amtlich aufgedeckten Straftaten gegen eigene Familienmitglieder (Hellfeld). Aber: Wie viele Kindesmisshandlungen geschehen tatsächlich jährlich bei uns im Land? Wie oft findet häusliche Gewalt in den Familien / Beziehungen statt? Und besteht die Chance, häusliche Gewalt gegen Menschen zu verhindern oder zumindest einzudämmen, indem man Gewaltakte gegen Tiere in diesen Haushalten als Warnsignal ("red flag") begreift und präventiv handelt? Haben die Behörden der Exekutive, hat die deutsche Kriminologie, überhaupt die Möglichkeit, das immense Dunkelfeld häuslicher Gewalt effektiv zu erfassen? Dies sind Kernfragen, die in der 2. Auflage dieser Arbeit erneut diskutiert werden, um dem interessierten Kreis der Leser*innen einen wenigstens rudimentären Einblick in zwei brisante gesellschaftliche Probleme bieten zu können: Die physische bzw. psychische Gewaltausübung und, damit eng verbunden, Gewaltdelikte an Tieren. Letzteres geschieht speziell im Rahmen häuslicher Konflikte. Die sozialen Mechanismen dieser Machtausübung sind ebenfalls Gegenstand der Diskussion und werden anhand von Fallbeispielen aufgezeigt. Es handelt sich dabei um Kurzbiografien bekannter deutscher Gewalttäter*innen, die bereits in der voraufgegangenen Studie zur "Gewaltspirale" diskutiert oder hier neu hinzugefügt wurden (Beispiele: Friedrich Haarmann, Peter Kürten, Christa Lehmann, Jürgen Bartsch, Frank Gust).
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateMay 10, 2022
ISBN9783347605909
Die verborgene Kriminalität: Straftaten im Dunkelfeld II: Kriminologische Fallbeispiele verdeckter  Gewalt in dysfunktionalen Familien /  Gewalt gegen Tiere als Indikator  häuslicher Konflikte
Author

Volker Mariak

Volker Mariak wurde in Hamburg geboren und ist dort aufgewachsen. Nach grafischer Lehre und zweijährigem Militärdienst, Studium an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg. Abschluss: Diplom-Sozialwirt. In den Jahren 1976 bis 1981 Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität Hamburg mit dem Abschluss Diplom-Soziologe. Promotion zum Dr. rer. pol. im Jahre 1986. Danach Studium der Kriminologie mit dem Abschluss Diplom-Kriminologe. Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg und später Lehr- und Forschungstätigkeit an einem Sonderforschungsbereich der Universität Bremen. Nachfolgend Leiter der Forschungsdokumentation und Senior-Projektleiter in einem privatwirtschaftlichen Regional- und Stadtforschungsinstitut. Primäre fachliche Interessengebiete: Ethik, Tierschutz, Kriminologie.

Read more from Volker Mariak

Related to Die verborgene Kriminalität

Related ebooks

Criminal Law For You

View More

Related articles

Reviews for Die verborgene Kriminalität

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Die verborgene Kriminalität - Volker Mariak

    Teil 1

    Lebenskatastrophen

    2. Deutsche Fallbeispiele: Häusliche Gewalt und der Indikator „Tierquälerei / Tiertötung"

    2. 0 Einführung in die Fallbeispiele

    In einer früheren Arbeit zum Zusammenhang zwischen der Gewalt gegen Menschen und der Gewalt gegen Tiere (Mariak, 2021) wurden Kurzbiografien bekannter Mehrfachmörder vorgestellt und ausgewertet. In diesem Kontext fiel bereits ein Sachverhalt auf, der kriminologisch Forschenden durchaus vertraut ist: Es zeigte sich zum einen für die Kindheits- und Jugendphase der Gewalttäter, dass diese selbst oft genug Opfer gravierender physischer und psychischer häuslicher Gewalt wurden: In der Regel fand sich hier ein überstreng und hochaggressiv reagierender und / oder unkontrolliert prügelnder Vater, der – oftmals nicht zuletzt durch sein Alkoholproblem – das Familienleben belastet, wenn nicht sogar zerrüttet hatte. Zum anderen zeigte sich in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle eine Generationen übergreifende Tradierung von Gewaltmustern: Vereinfacht gesagt, wer als Minderjähriger selbst zum Gewaltopfer wurde, war sozial prädesteniert für die Ausübung eigener, vielfach häuslicher Gewalt: Das Opfer geriet zum Täter. Eine wichtige Rolle spielte in diesem Zusammenhang ebenfalls die Gewalt gegen Tiere.

    Einprägsame, kurze Beispiele sollen diese Beobachtungen auch hier erläutern helfen. Es handelt sich dabei um Fälle der deutschen Kriminalgeschichte – nachstehend geordnet nach dem Geburtsjahr der Täter*innen. In diesen Kurzbiografien werden teilweise Textsequenzen der früheren Arbeit verwandt. Dies ist nicht immer vermeidbar, da bestimmte Biografie-Inhalte sowohl für die ältere Studie zur Gewaltspirale als auch für die vorliegende Arbeit zur häuslichen Gewalt relevant sind und Tat-Berichte sich geringfügig überschneiden können. Für neu interessierte Leser*innen ist dieses Vorgehen vorteilhaft, da nicht zusätzlich die Studie des Jahres 2021 benötigt wird, um Fallbeispiele angemessen bewerten zu können.

    Tabelle 1:

    Fallbeispiele häuslicher Gewalt bei bekannten deutschen Gewalttäter*innen

    2. 1 Carl Friedrich Großmann

    Der 1863 in Neuruppin geborene Großmann war einer der berüchtigsten Sexualstraftäter und Mehrfachmörder (zumindest drei Morde) bis in die Weimarer Zeit hinein. Im Jahre 1922 beging er in seiner Gefängniszelle vor dem Abschluss der Hauptverhandlung gegen ihn Suizid durch Erhängen (zu den Details seiner Biografie siehe Mariak 2021, S. 62 ff.). Eine wichtige Quelle, der hier ebenfalls weitgehend gefolgt wird, ist die Großmann-Biografie von Matthias Blazek (Blazek, 2009). Zusätzliche wertvolle Information ergab sich aus der Dissertation von Anne-Kathrin Kompisch (Kompisch, 2008).

    2. 1. 1 Stichwort: Häusliche Gewalt

    2. 1. 1. 1 Kindheit & Jugend – Flucht aus dem Elternhaus

    Carl Friedrich Großmann hatte sechs Geschwister - zwei Brüder, vier Schwestern - und wuchs als Sohn eines Lumpensammlers heran. Seine Familienverhältnisse galten als prekär: Der Vater wurde in damaligen Berichten als gewalttätiger Säufer bezeichnet: „ … für seine Familie unerträglich, wenn ergetrunken hatte." (Blazek, 2009, S. 13). Im Gutachten des Medizinalrates Dr. Störmer, datiert vom 20. Mai des Jahres 1922, heißt es dazu:

    „Der Vater des G., der Händler & Hausbesitzer in Neu-Ruppin am neuen Markt 5 war, wird mir als ein ganz besonders brutaler und jähzorniger Säufer geschildert, der Hunderte von Krampfanfällen aller Grade gehabt hat bis zu den schwersten von stundenlanger Dauer. Er ist auch oft von anderen Leuten nach Hause gebracht worden. Seine Ehefrau hatte ausserordentlich schwer zu leiden." (Gutachten des Medizinalrats Dr. Störmer, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 84).

    Der Gerichtsarzt Medizinalrat Prof. Dr. Curt Strauch bestätigte in seinem Gutachten ebenfalls die Information über das negative Persönlichkeitsbild des Vaters und konstatiert: Er sei „ein roher, brutaler Mann" gewesen. (Gutachten des Medizinalrats Prof. Dr. Curt Strauch, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 64). Nach Carl Großmann verkaufte der Vater Willhelm später mit großem finanziellem Verlust sein Haus.

    Er wurde bei dieser Veräußerung betrogen und sei darüber „verrückt" geworden. Am Ende fristete Wilhelm Großmann sein Leben in einer psychiatrische Anstalt (Gutachten des Medizinalrats Prof. Dr. Strauch, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 64).

    Bemerkenswert ist, dass die Ehefrau und Mutter Carl Großmanns als das genaue Gegenteil des gewaltbereiten, abnormen Vaters dargestellt wurde: So berichtete der Gutachter Dr. Störmer, Sofie Großmann, verwitwete Schulz, sei nach seiner Information eine gutmütige Frau gewesen, die sich „mit Sorgfalt und Liebe" um ihre Kinder kümmerte. Zur Zeit der Hauptverhandlung gegen Carl Großmann war sie allerdings bereits zehn Jahre nicht mehr am Leben. (Gutachten des Medizinalrats Dr. Störmer, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 84 f.) Diese beiden im Charakter und im Umgang mit ihrem Nachwuchs so grundverschiedenen Elternteile bestimmten Kindheit und frühe Jugend des Carl Großmann und seiner Geschwister. Die Annahme erscheint plausibel, dass nur der Vater für das prekäre Familienleben verantwortlich war. Dieser Sachverhalt wurde durch weitere Aussagen des Carl Großmann untermauert: Wilhelm Großmann prügelte nicht nur oftmals die Ehefrau, sondern misshandelte mit Faustschlägen auch seine Kinder.

    Carl Großmann hatte zwei Brüder und vier Schwestern. Aus erster Ehe der Mutter stammten zwei Töchter und ein Sohn. Dieser Stiefbruder, August Schulz, wurde das erste Mal wegen Vergewaltigung zu einer Zuchthausstrafe von 15 Jahren verurteilt. Kurz nach seiner Entlassung verübte er Notzucht an einem Kind und musste erneut in Haft. Das Strafmaß: Weitere 15 Jahre im Zuchthaus zu Sonnenburg. Noch vor Verbüßung dieser Haftzeit starb er dort im Jahr 1919 oder 1920. Der zweite Bruder, Wilhelm, beendete sein Leben in der Landesirrenanstalt Eberswalde als unheilbar Geisteskranker. Im Gutachten des Medizinalrates Dr. med. Störmer heißt es dazu: „Paralytiker auf persönlicher syphilitischer Basis". (Schweder, 1961, S. 260; zitiert bei: Kompisch, 2008, S. 90; ebenfalls: Blazek, 2009, S. 13, S. 64 sowie S. 85). Drei Schwestern des Carl Großmann führten, soweit den Gutachtern entsprechende Kenntnisse zur Verfügung standen, ein unauffälliges, straffreies Leben und waren selbst geistig gesund.

    Für die vierte Schwester bestand hinsichtlich ihrer geistigen Gesundheit keine Information. Einige Kinder dieser Großmann-Geschwister waren jedoch eindeutig psychisch belastet: Wohl den Gerichtsgutachten folgend, erwähnt der Sexualwissenschaftler und Facharzt für Nervenkrankheiten Dr. Arthur Kronfeld, Leiter der Abteilung für seelische Sexualleiden im Berliner Institut für Sexualwissenschaft, in einem Fachbeitrag zwei Kinder der Stiefschwester aus erster Ehe, die „deutliche epileptische Episoden gezeigt hätten. Eine weitere Schwester hätte eine geisteskranke Tochter und eine dritte eine „epileptische Idiotin. Zudem wies er darauf hin, dass der an Paralyse in der Anstalt verstorbene Bruder ebenfalls ein geistesschwaches Kind hinterlies.

    Das Fazit des Dr. Kronfeld: „Es handelt sich also um eine außerordentlich schwere Belastung von seiten beider Eltern. (Dr. Kronfeld, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 98). Er folgte damit sicher der generellen Gutachtermeinung. So schloss auch Medizinalrat Dr. Störmer aus der Grossmann’schen Familiengeschichte, „[…] dass G. in wirklich hohem Grade erblich belastet ist, namentlich vom Vater her, […] (Gutachten des Medizinalrats Dr. Störmer, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 86). Nach einem endgültigen Zerwürfnis mit seinem Vater entlief Großmann im Alter von sechzehn Jahren zusammen mit einem früheren Schulkameraden nach Berlin und lebte dort zunächst vom Handel mit Streichhölzern und anderen Kleinwaren. Über das Vater-Sohn-Verhältnis berichtet der Gutachter Dr. Störmer:

    „G. hat ursprünglich das Elternhaus verlassen, weil er sich mit seinem Vater nicht stellen konnte, und das ist auch kein Wunder; denn der Vater war eben ein ganz jähzorniger Säufer und zugleich Epileptiker, sodass es nicht wundernehmen kann, dass seine Kinder sich im Hause nicht wohlfühlten.

    Es waren also nicht krankhafte Triebe und Beweggründe, die den G. zum Verlassen des Elternhauses drängten, man kann auch nicht etwa von Wandertrieb sprechen und von Zwangshandlungen, sondern wenn man den Dingen auf den Grund geht, handelt es sich um ganz natürliche Empfindungen eines eigentlich schlecht erzogenen und auch erblich belasteten Menschen, der den Einflüssen des Vaters naturgemäß zu entgehen trachtete, und den der Freiheitstrieb und der Drang, sein Leben sich nach eigenem Geschmack zu gestalten, in die Ferne trieb."

    (Gutachten des Medizinalrats Dr. Störmer, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 92).

    Natürlich ist es nicht weiter verwunderlich, dass der Medizinalrat Dr. Strauch mit Blick auf das Vater-Sohn-Verhältnis Ähnliches berichtete. Es heißt dort kurz und bündig: Karl Großmann habe mit sechzehn Jahren das Elternhaus verlassen, weil der Vater ihn gezüchtigt hatte (Gutachten des Medizinalrats Prof. Dr. Strauch, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 64). Mit etwa 18 Jahren war Carl Großmann dann nach eigenen Angaben sechs Wochen als Hausdiener bei einem Schlachter am Alexanderplatz (Berlin) tätig.

    2. 1. 1. 2 Intimpartnerschaft – MO: „Wirtschafterin"

    Zu keinem Zeitpunkt existierte eine Ehe des Carl Großmann. Matthias Blazek schreibt dazu (Blazek, 2009, S. 14):

    „Eine Frau fand er nicht, so nahm er sich wehrlose Opfer, um seinen Trieb zu befriedigen. Er machte sich mehrfach strafbar, unter anderem wegen Hausfriedensbruchs, Körperverletzung und Sexualdelikten, und verbüßte mehrere Gefängnisstrafen."

    In den letzten Monaten des Erste Weltkrieges fand Carl Großmann Unterkunft in einer Laube mit Garten am Stadtrand Berlins. Den Kauf der Laube hatte er aus seinen Ersparnissen finanziert. (Blazek, 2009, S. 16) Dort in der Laubenkolonie „Klein Landsberg begann wohl die Reihe der „Wirtschafterinnen, die sich Großmann in seine Behausungen holte, um sie seiner speziellen Sexualität gemäß (Folterspiele, Fesselungen), zu benutzen, zu missbrauchen - und bei ernsteren Widerständen und Konflikten zu töten. Dies war primär sein Modus Operandi (MO) und sollte dann auch ein „Markenzeichen des sadistisch-triebhaften Mannes werden. Der spätere Verteidiger Carl Großmanns, Dr. Erich Frey, rekonstruierte auf der Basis seiner Gespräche mit ihm und den Ermittlern der Berliner Polizei die Lebenssituation des Mehrfachmörders. Er berichtete auch über die „Masche, die es seinem Mandanten immer wieder erlaubte, naive, mehr oder weniger in Not geratene Frauen der unteren Schichten in seine Fänge zu bekommen. Nach einem ersten Kontakt, einem gutmütigen, mitfühlenden Ansprechen, welches schon ein wenig Vertrauen schuf, wurde der Köder ausgelegt (Dr. Frey, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 19):

    „Und wenn die Kleine noch immer zögert, meint er nebenbei: 'Übrijens, bei mir is ne Stelle als ‚Wirtschafterin frei.’"

    In der Darstellung des Großmann-Verteidigers Dr. Erich Frey heißt es dann weiter:

    „Wirtschafterin – das ist das Zauberwort für ein Mädchen, das bestenfalls auf eine Anstellung als Hausmädchen gehofft hat. Und so kommt es, daß schließlich das obdachlose Mädchen mit dem einsamen Witwer Carl Großmann in Richtung Lange Straße davonschiebt.

    Wieder hat Carl Großmann eine Wirtschafterin gefunden. Wie lange wird sie bleiben? Wird es schon nach einem Tag Krach in der Wohnküche geben oder wird es acht oder vierzehn Tage dauern? Wird auch die Kleine aus Oberschlesien eines Tages bei Nacht und Nebel aus der Langen Straße verschwinden wie ihre Vorgängerinnen? Wird Großmann auch nach ihrem Verschwinden zum Polizeirevier 50 in der Kleinen Andreasstraße laufen? Und dem Revieroberwachtmeister Klähn in den Ohren liegen: ‚Det Aas hat mich beklaut, wo ick ihr doch nur Jutes jetan habe.'" (Strafverteidiger Dr. Erich Frey, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 19; siehe dazu die Anmerkung im Literaturverzeichnis)

    In der damaligen „Zeitschrift für Sexualwissenschaft" veröffentlichte der bereits erwähnte Dr. med. et phil. Arthur Kronfeld seine fachlich prägnante Zusammenfassung des Mordfalls Großmann und beschrieb aus seiner Sicht den Modus Operandi des Gewalttäters wie folgt:

    „Seine Opfer suchte er sich unter den halb verhungerten und obdachlosen Mädchen, die aus Furcht, mit der Polizei zu tun zu bekommen, als Prostituierte eingeschrieben zu werden, in Fürsorge zurückverbracht zu werden, irgendeine verhängte Strafe abzubüßen, vor der sie geflohen waren, und aus ähnlichen Motiven unangemeldet und ohne Beziehung zu ihren Angehörigen in jenen traurigen und finsteren Gegenden des Ostens herumlungerten. In der Regel war es der Hunger, den Großmann ihnen zu stillen versprach, oder das Geld, welches er ihnen zeigte, ohne es ihnen zu geben, oder das Obdach, das er ihnen als Wirtschafterin' in seiner Wohnung verhieß, was sie der Spinne ins Netz trieb.

    Nach geschehener Tat zerstückelte Großmann die Leichname auf der gleichen Bank, auf der er seine Opfer festgebunden und gepeinigt hatte, und auf welcher er auch, nebenbei gesagt, sein Essen anrichtete." (Kronfeld, 1922; ebenfalls: Dr. Kronfeld, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 94).

    Im Januar 1918 lernte Carl Großmann die 25-jährige Marie Felz in einem Lokal kennen. Die Frau hatte gerade ihre Stellung in Hohenschönhausen aufgegeben. Großmann spendierte ein belegtes Brot und ein Bier, hatte ein offenes Ohr für ihre Situation, nahm sie in seiner Laube auf und lebte kurze Zeit mit ihr zusammen. Sie wurde dann von Lucie Alt abgelöst. Diese Frau wurde im September 1918 durch Marie Felz mit Großmann bekannt. Auch mit ihr kam es zum Geschlechtsverkehr. Die Frau musste sich in der Folge im Berliner Rudolf-Virchow-Krankenhaus wegen der Geschlechtskrankheit Syphilis behandeln lassen. Auch eine Margarete Knop fand sich im Sommer des Jahres 1918 bei Carl Großmann als „Wirtschafterin ein. Diese sagte dann später aus, dass sie noch zwei weitere Frauen bei ihm angetroffen habe – wohl frühere „Wirtschafterinnen des Großmann. Matthias Blazek erwähnt in diesem Zusammenhang einen Zeugen, den Arbeiter August Conde, der mit Großmann im Weltspeisehaus Ullrich in der Nähe des Andreasplatzes bekannt wurde. Dieser Mann gab zu Protokoll: „So oft ich hierherkam, traf ich Großmann mit Frauenspersonen zweifelhaften Rufs." (Blazek, 2009, S. 16 f.).

    Deutlich wird bereits bei dieser knappen Aufzählung früher Großmann’scher „Wirtschafterinnen" die hohe Zahl wechselnder Frauen, die sich auf eine intime Beziehung mit ihm einlassen mussten: Für jede dieser Kurzzeitbekanntschaften bestand eine persönliche Notsituation (obdachlos, hungrig, finanziell am Ende, usw.), die Großmann zur Befriedigung seiner starken, sadistisch geprägten Sexualität auszunutzen wusste. Sobald seinen Bekanntschaften der Weg aus ihrer Notlage möglich war, trennten sich die Wege. Dies war z. B. bei Marie Felz der Fall, die ihn verließ, als sie eine neue Arbeitsstelle bei einem Schlachtermeister in Spandau fand. Es zeigt sich auch im Fall der Margarete Knop, die knappe acht Wochen bei Großmann blieb und dann für ein Reinigungsunternehmen tätig wurde. (siehe dazu: Blazek, 2009, S. 16) Allerdings ist wohl auch belegt, dass Großmann selbst oftmals die kurze geschlechtliche Beziehung beendete. So heißt es im Gutachten des Prof. Dr. Strauch:

    „Bald nach Vollziehung des Geschlechtsaktes wurde Grossmann dann abstossend und abweisend gegen die Mädchen, schalt mit ihnen herum oder entliess sie plötzlich schroff. Dass er jemals ihnen Geld gab, leugnet Grossmann und ergibt sich dies im Ganzen aus den Zeugenaussagen auch nicht, sondern als Aequivalent für den Geschlechtsverkehr bot er ihnen die nächtliche Unterkunft und die Verpflegung." (Gutachten des Medizinalrats Prof. Dr. Strauch, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 67).

    Dann, wohl im August 1919, verkaufte Carl Großmann die Gartenlaube und wechselte in eine Wohnküche im vierten Stock eines Miethauses in der Langen Straße im Berliner Stadtteil Friedrichshain-Kreuzberg (Blazek, 2009, S. 17 f.). Diese „ganz geräumige, scheinbar auch gut eingerichtete Wohnung, wie Gutachter Prof. Dr. Strauch anmerkte, wurde nun zum Schauplatz weiterer sexueller Gewalt. (Gutachten Prof. Dr. Strauch, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 66). Am Rande bemerkt: Wie präzise oder ungenau und falsch auch ein Gutachter informiert sein kann, zeigt sich allerdings an den Worten des Prof. Strauch über die „ganz geräumige Wohnung. Es handelte sich dabei realiter eher um eine Kochstube. Folgt man den Informationen von Matthias Blazek, dann war Carl Großmann ohnehin nur Untermieter bei der Familie eines Schlossers, Manheim Itzig, und dieser Name stand ebenfalls auf dem Türschild (Blazek, 2009, S. 20). Ergänzend sei angemerkt, dass die Wohnküche des Carl Großmann in einem der berüchtigsten Armenviertel der Stadt lag. Der Stadtteil Friedrichshain-Kreuzberg war damals verschrien als das „Berliner Chicago", ein Tummelplatz für Kriminelle jeder Art und zwielichtige Gestalten aus dem Rotlicht-Milieu. (Blazek, 2009, S. 18)

    Interessant ist im Kontext der häuslichen Gewalttaten, warum Großmann die Laube an der Landsberger Chaussee aufgab und den Wohnsitz wechselte. Es finden sich hierauf in den biografischen Texten verschiedene Antworten. In den Erinnerungen des Strafverteidigers Dr. Frey heißt es lapidar, die Laube wurde gegen Kriegsende verkauft. Großmann selbst begründete den Verkauf wohl damit, dass er seiner Tochter eine angemessenen Aussteuer finanzieren wollte. Die Existenz dieser Tochter ist jedoch mehr als zweifelhaft und lässt sich aus keinem damaligen Text belegen. Wesentlich plausibler erscheint da schon die Version des psychiatrischen Gutachters der Verteidigung, Arthur Kronfeld, der konstatierte:

    Carl Großmann habe die Laube 1920 aufgegeben, weil er bei seinen Nachbar*innen in Verdacht geraten sei, in der Laube Mädchen zu misshandeln. Diese aufmerksame und couragierte Gruppe habe gegen ihn „einschreiten wollen, und damit sei Großmann gezwungen gewesen, die Flucht zu ergreifen. (Dr. Frey, zitiert bei: Kompisch, 2008, S. 59) Dass hier - wie es bei Kompisch heißt, und wie es der Strafverteidiger Dr. Frey in seinen Memoiren nahelegt, – ein „treusorgender Familienmensch seiner Tochter einen guten finanziellen Start in das Eheleben ermöglichen wollte, erscheint mit Blick auf die Persönlichkeit des Großmann kaum glaubhaft. Das Bild vom „gerissenen Täter", der seiner Entdeckung und Anklage zuvorkommt, ist da wohl treffender. (siehe dazu: Kompisch, 2008, S. 59)

    Tatsächlich fanden sich im Jahre 1921 bei einer Durchsuchung der Laube und des Gartens weitere Körperteile weiblicher Leichen. Und: Beim Durchgraben des Gartengrundstücks kam dann auch die Handtasche eines Opfers an das Tageslicht. Diese Tasche gehörte der Prostituierten Frieda Schubert, deren Ermordung Carl Großmann später zunächst gestand, vor Gericht aber wohl leugnete. Die Tötung der Frieda Schubert konnte ihm daher nie gerichtsfest nachgewiesen werden. Für sie galt - wie für viele andere hochwahrscheinliche Großmann-Opfer - sein Credo: „Aber beweisen könnse ma nischt!. (Dr. Frey, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 50 f., siehe auch: Kompisch, 2008, S. 58) Der 58-jährige Hauswarenhändler Carl Großmann galt seinem nahen sozialen Umfeld als ruhiger Mieter. Wer sich dennoch über den oftmaligen Wechsel seiner „Wirtschafterinnen oder den zeitweisen Lärm aus der Wohnung im vierten Stock wunderte, fand ebenso rasch eine plausible Rechtfertigung. Es hieß dann oftmals: „Na, laß doch den ollen Herrn seinen späten Frühling". Der Strafverteidiger des Carl Großmann, Dr. Erich Frey, schrieb dazu in seinen Erinnerungen:

    „Daß es in der Wohnküche im vierten Stock manchmal laut wurde, daß man Schläge und Schreie hörte - auch das nahm man in dieser grauen Elendsgegend nicht sehr tragisch: ‚Krach kommt in die besten Familien vor …'" (Strafverteidiger Dr. Erich Frey, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 18)

    Es scheint auch niemanden so recht verwundert zu haben, dass dieser ungepflegte, abgerissen gekleidete und von Gestalt unattraktive alte Mann eine kaum enden wollende Folge junger Frauen auf sein Zimmer locken konnte. Der Strafverteidiger Dr. Frey beschrieb in seinen Memoiren den Wortwechsel zwischen dem Schlosser Itzig und seiner Frau, als es in der angrenzenden Wohnküche des Großmann wieder einmal „rund ging: „Wo der alte Zausel die Meechens immer herbringt, meinte der Ehemann und bekam zur Antwort: „Na, brauchste dir wundern! Marie hatter und ne warme Bude hatter. Und een Kafalier isser ooch … (Dr. Frey, zitiert bei Blazek, 2009, S. 19). Der Hinweis auf die „Marie bezog sich auf Bargeldbeträge, die Carl Großmann den Frauen zusätzlich als Köder zeigte.

    Wie schon die Aussage des Zeugen Conde nahelegte, besorgte Carl Großmann sich seinen Bedarf an „Wirtschafterinnen" oft in Kneipen und billigen Speiselokalen rund um den Andreasplatz. Und wenn er nicht gerade als fliegender Händler seine Haushaltswaren vertrieb, fand er sich ebenfalls in Varieté- und Kino-Theatern ein oder suchte andere öffentliche Plätze auf, um entsprechende Kontakte zu knüpfen (Gutachten Prof. Dr. Strauch, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 66). In seinem Gerichtsgutachten sprach Prof. Strauch diese häufig wechselnden Zufallsbekanntschaften an, und man meint fast, aus seinen Worten die Verwunderung über die unersättliche Libido des Angeklagten herauszuhören (Gutachten Prof. Dr. Strauch, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 66):

    „Trotzdem er an der Schwelle des Greisenalters stand, ging er seinen geschlechtlichen Begierden in geradezu ungeheuerlicher Weise nach, denn von vielen Zeuginnen wird bekundet, und er gab dies auch selbst mir zu, dass er fast täglich die Bekanntschaft einer neuen Frauensperson machte und sie zum Geschlechtsverkehr mit in seine Wohnung lockte. Es kam auch vor, dass Grossmann, wie er mir gestand, an einem Tage mit mehreren Frauenspersonen geschlechtlich verkehrte."

    2. 1. 1. 3 Die Wohnung als Tatort – Tod einer „Wirtschafterin"

    Es ist Fakt, dass seit dem Jahr 1918 im Berliner Luisenstädtischen Kanal und im Engel-Becken insgesamt dreiundzwanzig zerstückelte Frauenleichen geborgen wurden (Blazek, 2009, S. 20). Der Großmann-Verteidiger Dr. Frey schrieb in seinen Erinnerungen zu dessen Verhaftung im Jahr 1921:

    „Es gab nämlich in jenen Tagen keinen Berliner und erst recht keinen Kriminalbeamten, der nicht durch die Leichenfunde im Luisenstädtischen Kanal aufs äußerste beunruhigt gewesen wäre. Seit dem Mai des Jahres waren zwischen der Schillingsbrücke und dem Engel-Becken beinahe täglich Teile weiblicher Körper gefunden worden." (Strafverteidiger Dr. Erich Frey, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 34)

    Zumindest in zwei Mordfällen wiesen die polizeilichen Ermittlungen bald auf einen einzigen Täter hin. Den Kripobeamten wurde zum einen klar, dass diese Morde in einem abgeschlossenen Raum geschehen sein mussten. Infrage kamen eine Wohnung, ein Keller oder ähnliche Gebäudeteile. Zum anderen konnte in beiden Fällen als Tatort die Gegend um den Schlesischen Bahnhof eingegrenzt werden. (Blazek, 2009, S. 21) Hier ganz in der Nähe hatte Carl Großmann seine Wohnung. Auch Kompisch weist darauf hin: Im Verlaufe der polizeilichen Ermittlungen hätten die Untersuchungsbehörden bald eine Verbindung zwischen Großmann und den geborgenen Leichenteilen aus dem Luisenstädtischen Kanal, dem Engel-Becken und dem Landwehrgraben aufdecken können. Über die Funde in der Spree habe dann auch die damalige Presse berichtet (Kompisch, 2008, S. 58). Als Beispiel wird die in Berlin gedruckte aber auch überregional erscheinende Tageszeitung „Rote Fahne erwähnt. Noch vor der Festnahme des Carl Großmann findet sich dort in den „Kleinen Lokalnotizen folgender kurzer Artikel:

    „Der Leichenfund im Engelbecken ist noch nicht aufgeklärt. Merkmale sprechen dafür, daß für das Verbrechen ein Täter in Betracht kommt, der von der Polizei schon lange gesucht wird und im östlichen Südviertel, in der Gegend des Schlesischen Bahnhofs zu finden sein wird. (Tageszeitung „Rote Fahne; Abendausgabe vom 18. August 1921, S. 4; zitiert bei: Kompisch, 2008, S. 69)

    Kompisch schreibt, dass wenige Tage später in der Abendausgabe dieser Zeitung und nach einem weiteren Leichenfund sogar festgestellt wurde, dass „ein Massenmörder in der Gegend des Schlesischen Bahnhofs sein Unwesen treibt. (Tageszeitung „Rote Fahne; Abendausgabe, 22. 08. 1921, S. 4; zitiert bei: Kompisch, 2008, S. 69).

    Zu diesem Zeitpunkt waren Identität und tags zuvor erfolgte Festnahme des Großmann der Redaktion noch nicht bekannt. Erste konkrete Hinweise auf die Person des Täters gab eine ehemalige Intimbekanntschaft Großmanns mit Namen Martha Balzer. Großmann hatte ihr bei seinem perversen Geschlechtsverkehr heftige Schmerzen zugefügt, so dass die Frau laut aufschrie. Gemäß Aussage der Martha Balzer habe er dann gedroht, er würde noch etwas ganz anderes mit ihr machen, wenn sie nicht still wäre. Im Oktober 1920 durchsuchte die Polizei die Wohnung des Carl Großmann im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg – ohne Erfolg. Diesen Fehlschlag führte später die Leitung der Mordkommission auf eine zu oberflächlich vorgenommene Suche zurück: Hätte man zum Beispiel auch im Ofen der Wohnküche nachgeschaut, wären menschliche Leichenteile entdeckt worden. Als sich im Luisenstädtischen Kanal im August 1921 erneut Reste zerteilter Leichen fanden, darunter auch ein Kopf, ein Becken und zwei Füße, kam die Fahndungs-Maschinerie wieder auf Hochtouren. Im Fokus der Ermittler stand noch einmal Großmann. (Blazek, 2009, S. 24) In der Darstellung seines Strafverteidigers Dr. Frey geschah dann am 21. August 1921 der entscheidende Vorfall:

    Um 23:00 Uhr abends erwacht die Ehefrau des Hauptmieters und Schlossers Itzig durch Schreie und lautes Stöhnen, das eindeutig aus der Großmann’schen Wohnküche kam. Sie rüttelte ihren Mann wach, der zunächst nur müde antwortete: „Laß doch den Ollen". Doch seine Ehefrau ließ nicht locker, und so eilte der Nachbar Itzig die Treppen hinunter und um die Ecke zum Polizei-Revier 50 in der Kleinen Andreasstraße. Er traf dort auf den zunächst zögerlich-misstrauischen Oberwachtmeister Klähn, konnte ihn aber überzeugen: „[…] diesmal isset ernst bei den Jrossmann." (Dr. Erich Frey, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 28 f.).

    Oberwachtmeister Klähn und ein weiterer Beamter folgten dem verstörten Nachbarn zur Wohnung des Großmann, riefen „Machen Sie auf, Großmann, Polizei!". Sie hämmerten gegen die Tür der Wohnküche, als sich nichts rührte. Dann antwortete Großmann mit verschlafener Stimme: „Könnt ihr denn een alten Mann nich schlafen lassen? Kommt morjen wieder […]". Die Beamten brachen die Tür auf. Großmann stand im Zimmer, seine Hände waren blutig. In der einen Hand hielt er eine Steingut-Tasse, aus der er gerade trinken wollte. Geistesgegenwärtig schlug der Polizeibeamte Klähn ihm die Tasse aus der Hand.

    Am folgenden Tag werden Gerichts-Chemiker ermitteln, dass sich darin halb gelöstes Zyankali befand. Während sein Schupo-Kollege den Carl Großmann festhielt, trat Oberwachtmeister Klähn zum Bett, schlug die Bettdecke hoch und prallte zurück: Er sah eine blutüberströmte Frau, beugte sich über sie und hörte noch das schwach schlagende Herz. Dann war die Frau tot. Großmanns Kommentar: „Ich habe bloß Rache genommen, denn das Aas hat mich bestohlen." (Dr. Erich Frey, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 30 ff.). Der Kriminalist Curt Elwenspoek stellt diese Szene in seiner 1930 erschienenen Veröffentlichung detaillierter und – wie Kompisch anmerkt – zudem auch abweichend dar:

    „Da alarmiert am 21. August 1921, abends elf Uhr, Herr J., dem die nächtlichen Frauenbesuche des Untermieters immer lästiger werden, die Polizei: er hat nebenan lautes Schreien und Stöhnen gehört. – Zum ersten Male? – Er behauptet das. Die Tür zur Küche muß gewaltsam gesprengt werden. Man findet den Mann splitternackt, über und über mit Blut besudelt. Auf dem erbärmlichen Feldbett liegt blutüberströmt, mit auf dem Rücken gefesselten Händen, ein Mädchen – tot, aber noch lebenswarm. Die Beine sind an Hüft- und Kniegelenken mit dünnen Stricken abgeschnürt. Weshalb? Damit bei der Zerstückelung, die jetzt folgen soll, nicht unnötig viel Blut fließe. Denn Großmann begnügte sich nicht damit, seine Opfer – meist Mädchen der Straße – in der Liebkosung zu ermorden – er schlachtete sie hinterher regelrecht aus." (Elwenspoek, 1930, S. 12; siehe auch: Kompisch, 2008, S. 58)

    Carl Großmann wurde in flagranti gestellt. Die von ihm nur wenige Zeit vor dem Eintreffen der Polizei in die Wohnküche gelockte und dann ermordete Frau hieß Marie Nitsche. Die gelernte Köchin war kurz zuvor aus der Untersuchungshaft in Moabit entlassen worden. Dr. Frey wird später in seinen Memoiren schreiben: „Seit der Heimkehr Carl Großmanns und seiner neuen Wirtschafterin ist genau eine Stunde vergangen." (Dr. Frey, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 30). Nach Dr. Frey hatte sich bereits eine weitere Stunde später, als Carl Großmann gefesselt abgeführt wurde, eine rund hundertköpfige, erregte und empörte Menschenmenge auf der Straße versammelt, die den Frauenmörder wohl am liebsten gelyncht hätte (Dr. Frey, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 32).

    Das 50. Polizeirevier meldete die Festnahme des Frauenmörders Carl Großmann an die Mordkommission im Polizeipräsidium Alexanderplatz. Und dort erkannte man sofort den offensichtlichen Zusammenhang der aufgedeckten Gewalttat in der Langen Straße mit den bishergeborgenen Frauenleichen:

    „Kriminalkommissar Werneburg war der erste, der die Funde aus dem Kanal und die Meldung des Polizei-Reviers 50 in Verbindung brachte. Er kannte nämlich Berlin wie seine Westentasche. Er wußte sofort, daß es von der Langen Straße bis zur Schillingsbrücke nur ein Katzensprung war." (Dr. Frey, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 34)

    Auch die Lokalpresse griff das Ereignis blitzschnell auf. Bereits einen Tag nach der Festnahme verkündete die „BZ am Mittag", dass … :

    „[…] sich gestern Nacht bei der Verhaftung des Großmann im gesamten Stadtviertel das Gerücht [verbreitete], daß er der gesuchte Massenmörder vom Engelbecken wäre […] (Tageszeitung „BZ am Mittag, Ausgabe vom 22. 08. 1921, zitiert bei: Kompisch, 2008, S. 69)

    Und die Tageszeitung „Rote Fahne" meldete am 23. August in ihrer Morgenausgabe:

    „Großmann […] steht unter dem dringenden Verdacht, auch die übrigen Personen, deren zerstückelte Leichen gefunden wurden, ermordet zu haben. (Tageszeitung „Rote Fahne; Morgenausgabe vom 23. August 1921, S. 4; zitiert bei: Kompisch, 2008, S. 70)

    Wie der Strafverteidiger Dr. Frey, so berichtete auch die Tageszeitung „BZ am Mittag" von einer „Menschenmenge, die bald den Verkehr auf der Straße verminderte, so daß die Schutzpolizei genötigt war, die Massen zu zerstreuen. (Tageszeitung „BZ am Mittag, Ausgabe vom 22. 08. 1921, zitiert bei: Kompisch, 2008, S. 69 f.). Die anderen Presseorgane blieben in ihren Meldungen nicht zurück und gaben, wie etwa das „Berliner Tageblatt", Hintergrundinformationen zum Frauenmord in der Langen Straße und zum Ergebnisstand der ersten Verhöre.

    Die Anzahl der Großmann zur Last gelegten Morde schwankte in den Pressedarstellungen zunächst zwischen fünf und sechs. Dann titelte man „Die Untaten des Frauenmörders - Drei Morde nachgewiesen, und abschließend erfuhren die Berliner Leser*innen: Die „Wirtschafterinnen Marie Feld, Melanie Sommer, Emmi Baumann, Luise Werner, Emma Boritzki, Lisbeth Potske und Frieda Thomas wären zu Zeit abgängig. (Blazek, 2009, S. 34)

    Carl Großmann selbst sagte zu den Geschehnissen um seine Festnahme später aus, er sei an diesem Tage wieder auf der Suche nach einer neuen Wirtschafterin gewesen und habe die Marie Nitsche gegen 18:00 Uhr getroffen, als er seine Kneipentour rund um den Andreasplatz beendet hatte. Die Frau sei gerade aus der Richtung des Schlesischen Bahnhofs gekommen. Sie sei selbst auch angetrunken gewesen und habe ihn angesprochen. Man sei dann in eine „Restauration" und später in das Varieté von Reitmeier eingekehrt, um dort erneut Bier und Schnaps zu trinken. (Protokoll des Kriminalkommissars Dr. Riemann, Aussage des Carl Großmann, abgedruckt bei: Blazek, 2009, S. 24 ff.)

    Dann revidierte Großmann seine Aussage: Er sei von Beginn an mit zwei Bekannten, dem Arbeiter Gustav Schmidt und einem Willi (ein Händler, Nachname unbekannt) sowie der Wirtin des Händlers Willi unterwegs gewesen. Zu viert habe man dann das Varietè Reitmeier besucht. Später, wohl in einer Pause, trafen Willi und Großmann Marie Nitsche auf der Straße. Diese sprach sie an, worauf Großmann meinte: „Ach guck’ die mal an, die kleine Maus, die nehmen wir gleich mit." Man kehrte in das Varieté Reitmeier zurück. Dort wurde in geselliger Runde weiter getrunken, bis Marie Nitsche so alkoholisiert war, dass sie begann, die Vorstellung zu stören und der Varieté-Inhaber sie aufforderte, das Lokal zu verlassen. Daraufhin wären die Nitsche und Großmann gemeinsam gegangen und hätten die drei anderen im Lokal zurückgelassen. Wörtlich heißt es in dem polizeilichen Protokoll:

    „In dem Varietee (sic!) hatte ich ihr bereits gesagt, daß sie heute mit mir gehen und die Nacht über bei mir schlafen sollte. Die Nitsche erklärte sich mit meinem Vorschlage sofort einverstanden, ohne eine Geldforderung an mich zu richten.

    Daß ich Geld bei mir hatte, hat sie beim Begleichen der Zeche gesehen. Ich hatte ungefähr 750-760 Mark in Zeitungspapier eingewickelt bei mir." (Protokoll des Kriminalkommissars Dr. Riemann, Aussage des Carl Großmann, abgedruckt bei: Blazek, 2009, S. 26)

    Folgt man der Aussage des Carl Großmann weiter, so dürften er und Marie Nitsche reichlich angetrunken in seiner Wohnküche angekommen sein, wobei Großmann vorher sogar Schwierigkeiten hatte, die Haustür zu öffnen. Im Protokoll meinte er dazu: „Ich bin derart betrunken gewesen, daß ich nicht mehr sagen kann, wer die Tür geöffnet hat." Die Nitsche habe zunächst Kaffee gekocht, und sie wären beide im Gespräch am Tisch gesessen. Plötzlich sei die Frau aufgesprungen und hätte sich bis auf die Strümpfe ausgekleidet und auf das Feldbett gelegt. (Protokoll des Kriminalkommissars Dr. Riemann, Aussage des Carl Großmann, abgedruckt bei: Blazek, 2009, S. 26). Im Gutachten des Prof. Dr. Strauch heißt es dann weiter: Großmann zufolge zog auch er sich aus und begab sich zu ihr. Marie Nitsche wurden dann die Hände auf den Rücken gebunden.

    Als sie die Beine nicht auseinandernahm, band Großmann ihr das linke Bein zusätzlich am Bettrand fest. Als er an ihre Beine fasste, hätte er in den Strümpfen etwas knistern gefühlt und sofort vermutet, dass dort Geldscheine vor ihm versteckt wurden. Großmann hätte sich dann wieder zum Tisch gewandt und sein dort in Zeitungspapier eingewickeltes Geld gezählt. Nach seiner Aussage fehlten insgesamt ein Hundertmarkschein und zehn Zwanzigmarkscheine. Über diesen dreisten Diebstahl sei er in große Wut geraten:

    „In seiner Wut nahm er von seinem Stuhl aus, auf dem er sass, von der zunächst liegenden Wand die dort hängende Reibekeule und eine Kelle herab, ging an das Bett der Nitsche und schlug sie mit der Reibekeule mehrmals auf den Kopf. Weil sie dabei laut schrie, will er, um sie am Schreien zu hindern, ihr ein Handtuch in den Mund gesteckt haben auf ungefähr 15 cm Tiefe." (Gutachten Prof. Dr. Strauch, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 77 f.)

    Großmann sagte weiter aus, als es an der Tür klopfte und die Polizei sich meldete, sei er erst wieder zur Besinnung gekommen.

    Ihm sei schlagartig klar geworden, was er angerichtet hatte. In den Prof. Dr. Strauch vorliegenden Ermittlungsakten hieß es dann:

    „In seiner Bestürzung sei ihm der Gedanke gekommen, sich zu vergiften, er habe sich erinnert, dass (es) auf einem Regal lag, das er einer anderen Frauensperson einmal aus der Tasche genommen hatte. Als er das Gift in eine Kaffeetasse getan hatte, um es zu trinken, öffnete sich die Tür, die Polizeibeamten drangen herein, und er wurde alsbald verhaftet." (Gutachten Prof. Dr. Strauch, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 78)

    Was die Aussagen des Beschuldigten bzw. Angeklagten Carl Großmann zum Tathergang betrifft, so waren diese stets mit großer Vorsicht zu interpretieren. Sie enthielten eindeutig Falschdarstellungen: So versuchte er - wie schon in den polizeilichen Vernehmungen - auch in den ersten beiden Tagen vor dem Schwurgericht seine Tötungen als Affekthandlungen abzumildern. Sein Verteidiger Dr. Frey schrieb dazu in seinen Memoiren:

    „Der Händler aus der Langen Straße war zu seiner anfänglichen Taktik zurückgekehrt. Er leugnete die Lustmorde. Er behauptete, die Mädchen nur gestraft zu haben, weil sie ihn bestohlen hätten. Und dabei hätte er sie zu hart angefasst […]" (Strafverteidiger Dr. Erich Frey, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 60)

    Ohne hier auf die abscheulich-grausamen Details des Mordes an der Marie Nitsche einzugehen, sei doch das gutachterliche Resultat von Prof. Dr. Strauch erwähnt, in dem klar und deutlich eine Affekttat ausgeschlossen wurde.

    2. 1. 1. 4 Die Wohnung als Tatort – Nachweisbare Tötungen

    Neben dem Mord an der Köchin Marie Nitsche wurden Großmann vier weitere Tötungen zur Last gelegt, die in den Augen der Ermittler vor dem Schwurgericht wohl Bestand gehabt hätten. Im Antrag zur Eröffnung der Voruntersuchung schrieb der damalige Generalstaatsanwalt in Berlin im September 1921:

    „Ich schuldige den Grossmann an, zu Berlin-Mitte im Jahre 1921 durch vier selbständige Handlungen vorsätzlich vier Menschen, nämlich:

    1. die Köchin Marie Nitsche, geborene Paul,

    2. die Arbeiterin Johanna Sosnowski,

    3. die ledige Albertine Asche,

    4. eine Frauensperson Martha, deren übrige

    Personalien noch nicht bekannt sind,

    getötet und die Tötungen mit Überlegung ausgeführt zu haben. – Verbrechen gegen die §§ 211, 74 Reichsstrafgesetzbuch. – Wegen des Mordes an der Sittendirne Schubert habe ich in den Akten 32.J.2746.20 einen besonderen Antrag auf Voruntersuchung gestellt."

    (Siegfried Lindow, Generalstaatsanwalt in Berlin, Schreiben an den Untersuchungsrichter zur Eröffnung der Voruntersuchung, datiert vom 24. 09. 1921, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 51. Anmerkung V. M: Das 3. Opfer wird teilweise auch mit dem Familiennamen „Ascher" benannt.)

    Zwei Hauptprobleme beschäftigten im Fall Großmann Polizei und Justiz: Zum einen war der gerichtsfeste Beweis zu erbringen, dass Großmann für alle aufgefundenen Leichenteile - und damit für die entsprechenden Morde - überhaupt als Täter verantwortlich war. Dies gestaltete sich schon schwierig genug, denn die geborgenen menschlichen Reste ließen sich oftmals keiner Person mehr zuordnen. Die Identität blieb also ungeklärt. Zudem konnte in der zugestandenen Ermittlungszeit vor dem Beginn des Strafverfahrens nicht mehr eruiert werden, ob unter den auf mysteriöse Weise abgängigen „Wirtschafterinnen" noch weitere Mordopfer zu beklagen waren. Zum anderen standen Polizei und Justiz vor dem Problem, dem Täter nachweisen zu müssen, dass er die Frauen eben nicht im Affekt sondern kaltblütig, geplant, überlegt getötet hatte.

    1. Problem: Wieviele Frauenmorde beging Carl Großmann?

    Der Mord an Marie Nitsche konnte problemlos nachgewiesen werden. Schließlich gab es die aufmerksamen Eheleute Itzig und die Schupo-Beamten, die Großmann noch blutbesudelt überrascht hatten.

    Großmann selbst gab in der polizeilichen Vernehmung zu, in seiner Wohnküche höchstens fünf „Lustmorde begangen zu haben (Blazek, 2009, S. 48). Dies dürfte aber die „Spitze des Eisbergs sein, selbst wenn man den Sensationsmeldungen und Bodycounts der Berliner Boulevard-Presse keinen Glauben schenkt.

    Der Strafverteidiger Dr. Frey spricht in seinen Memoiren von einem „scharfen Kampf zwischen Alexanderplatz und Moabit" (siehe dazu etwa: Kompisch, 2008, S. 56). Gemeint war damit zum einen das Bestreben der Staatsanwaltschaft (in Moabit), die Ermittlungen möglichst schnell zum Abschluss zu bringen, um den Prozess eröffnen zu können. Zum anderen hatte das Morddezernat (am Alexanderplatz) mit den Leitern Werneburg und Gennat ihre umfangreiche und komplizierte Arbeit längst nicht gründlich genug abgeschlossen. Dr. Frey schrieb damals über das Ziel der Berliner Staatsanwaltschaft:

    „Sie hatte es eilig mit dem Prozeß. Drei Morde reichten doch aus, um gegen Großmann die Todesstrafe zu beantragen. Die Polizei protestierte: Erst müßten alle Verdachtsfälle geklärt werden. Es kam zu einem scharfen Kampf zwischen Alexanderplatz und Moabit. Im Laufe dieses Streits lernte ich einen der interessantesten Männer kennen, die je in Deutschland Verbrechen verfolgt haben: Kriminalrat Ernst Gennat." (Strafverteidiger Dr. Erich Frey, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 53)

    Nach Dr. Frey äußerte sich Kriminalrat Gennat, Leiter des Mord-Dezernats, über den Interessenkonflikt zwischen Staatsanwaltschaft und Kripo wie folgt:

    „Im Fall Großmann liegen die Interessen von Kriminalpolizei und Verteidigung ausnahmsweise mal auf der gleichen Linie. […] Jetzt soll ihm wegen der kümmerlichen drei Morde der Prozeß gemacht werden. Hauptsache Kopp ab, er hat ja nur einen. Ich möchte mal wissen, wo die Herren von der Staatsanwaltschaft ihren Kopp haben. Dreiundzwanzig Morde bleiben ungeklärt! Dreiundzwanzig Mal die Chance, daß Unschuldige in Verdacht geraten." (Strafverteidiger Dr. Erich Frey, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 53; ebenfalls: Kompisch, 2008, S. ⁵⁶)

    Der leicht ironisch verbrämten Anmerkung von Kompisch hinsichtlich einer hier gezeigten „rührenden Sorge um Justizirrtümer" mag nicht jeder zustimmen, aber es ist ohne Zweifel richtig, dass die Kripo unter Ernst Gennat eine sauber abgeschlossene, polizeiliche Aufarbeitung der Frauenmorde anstrebte (Kompisch, 2008, S. 56). Ein durch und durch professioneller und beruflich integrer Kriminalist wie Gennat vertrat hier seinen glaubwürdigen Standpunkt. Auf der anderen Seite darf man die Skepsis der Staatsanwaltschaft teilen, die etwa nach den Erfahrungen mit der komplizierten, langwierigen „Leichentoilette, der Zusammenfügung von Teilen eines aufgefundenen Schädels mit dem Ziel, diesen wieder lebensähnlich präsentabel und erkennbar zu gestalten, kaum noch auf aussagekräftige Ermittlungsresultate hoffen konnte (Zum Stichwort „Leichentoilette siehe Blazek, 2009, S. 31). Immerhin waren bereits zehn Monate Ermittlungsarbeit vergangen. Man konnte sich daher schwer vorstellen, dass zum Beispiel die Überreste mehrerer Hände kurzzeitig und effektiv zu einer Identifizierung der noch unbekannten Mordopfer geführt hätten. Dass die Berliner Mordkommission im Fall Großmann nicht ohne jeden Erfolg blieb, zeigt der Bericht des Kriminalisten Elwenspoek:

    „Aus diesen Funden kann die Kriminalpolizei nachweisen, daß Großmann allein in den letzten drei Wochen [vor seiner Festnahme] mindestens drei Frauen geschlachtet hat. Wie viele dem Massenmörder im Laufe der acht Jahre zum Opfer fielen, läßt sich nur schätzen." (Elwenspoek, 1930, S. 12 f.; siehe auch: Kompisch, 2008, S. 72)

    In seinem Fachaufsatz „Bemerkungen zum Prozeß gegen Karl Großmann" geht auch Dr. Arthur Kronfeld auf die Anzahl der Ermordeten ein. So heißt es dort zunächst, dass laut Anklageschrift Großmann in seiner Wohnung in der Nähe des Schlesischen Bahnhofs mit etwa wöchentlichem Abstand drei Mädchen getötet habe. Er fährt dann später fort:

    „Wer der Verhandlung gegen Großmann und den vielen unaufgeklärten Einzelheiten, die dabei zur Sprache kamen, folgte, der hatte gleichsam die subjektive Gewißheit, daß die zur Anklage stehenden drei Fälle nur ein kleiner Bruchteil der Lustmorde gewesen sind, deren sich Großmann tatsächlich schuldig gemacht hat.

    Dieser Umstand macht den Fall zu einem so fürchterlichen. Dabei hat Großmann außerordentlich geschickt verstanden, die Spuren seiner Untaten zu verwischen." (Kronfeld, 1922; ebenfalls abgedruckt bei: Blazek, 2009, S. 93 f.)

    Dass unter diesen Umständen den wildesten Spekulationen Tür und Tor geöffnet wurden, zeigen damalige Pressemeldungen. So schrieb die „BZ am Mittag" zum Beispiel:

    „Die Zahl der Mädchen […] läßt sich bisher noch nicht annähernd übersehen. Vorläufig steht jedenfalls fest, daß es weit mehr als 100 sind. Eine beträchtliche Anzahl dieser Frauen, die natürlich unangemeldet bei dem Junggesellen gewohnt hatten, ist seit dem Zuzug verschollen. (Tageszeitung „BZ am Mittag, Ausgabe vom 25. 08. 1921, zitiert bei: Kompisch, 2008, S. 73)

    Hierbei ist nicht klar, ob die Redaktion tatsächlich von mehr als einhundert Todesopfern ausging oder „nur die Zahl der von Großmann insgesamt missbrauchten Frauen meinte. In einer Fußnote weist Kompisch daraufhin, dass bereits am folgenden Tag die Zahl dieser vermuteten Opfer auf 150 „Wirtschafterinnen angestiegen war (Kompisch, 2008, S. 73, Fußnote Nr. 335).

    Mit dem Suizid des inhaftierten Carl Großmann am 05. 07. 1922 und dem somit vorzeitigen Ende der Hauptverhandlung (ohne Urteil) ließ das Interesse der Boulevard-Presse am Großmann-Fall deutlich nach. Wie Kompisch ausführt, überlagerten zudem andere Themen die lokalen Nachrichten: Am 26. 08. 1921 war der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger von Angehörigen der rechtsradikalen Geheimorganisation Consul ermordet worden. Die Ermittlung des politischen Hintergrundes sowie die Suche nach den Mördern des ehemaligen Finanzministers sorgten für entsprechende Schlagzeilen. In der Folge des Attentats geschah die Verhängung des Ausnahmezustandes und das Verbot republikgefährdender Presseschriften. Am 24. 06. 1922, also knapp vor Beginn des Großmann-Prozesses, starb der Außenminister der Weimarer Republik, Walter Rathenau, durch einen Mordanschlag. Auch dieses politisch folgenreiche Ereignis beschäftigte die Leser*innen sicher mehr als die Straftaten des Carl Großmann.

    Wie Kompisch ebenfalls anmerkt, fand dann zwischen dem 30. 06. und dem 12. 07. 1922 zudem der Berliner Druckerstreik statt. (Kompisch, 2008, S. 66 f.) Es gab also eine Reihe gewichtiger Gründe, die den Nachrichtenwert der Frauenmorde minderten oder eine Berichterstattung eingrenzten. Damit endeten dann auch die zumeist haltlosen Schätzungen über die Anzahl der Großmann-Opfer. Am 24. 08. 1922 nannte die bürgerliche „Vossische Zeitung in ihrer Abendausgabe neben dem Mord an Marie Nitsche noch sechs weitere Frauenmorde. Aber bereits am 28. 08. 1922 sprach man moderat nur noch von drei Opfern („Vossische Zeitung, Abendausgabe am 24. 08. 1922, S. 4, sowie die Ausgabe vom 28. 08. 1922, S. 6; zitiert bei: Kompisch, 2008, S. 74). In der „Berliner Morgen-Zeitung" fand sich dann am 13. 07. 1922 die lapidare Notiz:

    „Der Prozeß gegen den Frauenmörder Großmann hat ein jähes Ende gefunden. Großmann hat seinem Leben durch Erhängen in seiner Zelle ein Ende bereitet. („Berliner Morgen-Zeitung, Ausgabe vom 13. 07. 1922; zitiert bei: Kompisch, 2008, S. 67)

    Es ist davon auszugehen, dass die Berliner Staatsanwaltschaft dem Carl Großmann drei Frauenmorde gerichtsfest nachweisen konnte. Diese Taten hätten dann wohl, zumindest bezogen auf den Mordfall Nitsche, zu einem Todesurteil geführt. Darüber hinaus darf plausibel vermutet werden, dass Großmann für eine Reihe weiterer Opfer verantwortlich war - wenngleich sicher nicht für 100 oder gar 150.

    2. Problem: Wurden die Tötungen im Affekt begangen?

    Bezogen auf den Mord an Marie Nitsche bestand kein Zweifel: In seinem Gutachten legte Prof. Dr. Strauch überzeugend dar, dass hier eine planvolle, überlegte Tötung und keine Affekthandlung geschehen war. Bei allen anderen Mordtaten gelangte man leicht in Beweisnot. Prof. Dr. Strauch schrieb dann auch in seinem Gutachten:

    „Was nun die Frage der Zurechnungsfähigkeit des Grossmann im Falle Sosnowski betrifft, so ist auch hier bedauerlich, dass man fast nur angewiesen ist auf die Angaben, die er selbst darüber macht, und dass sich die Wahrheit derselben weder durch eine regelrechte Obduction der Leichenteile noch sonstwie prüfen liess."

    Und Prof. Dr. Strauch fährt fort:

    „Auch in diesem Falle muss ich mich gutachterlich ähnlich äußern wie im Falle Martha: Auch hier lässt sich ärztlich nicht widerlegen, dass eine Affekthandlung vorgelegen hat, dass auch hier der Täter Grossmann, immer vorausgesetzt […] natürlich, dass seine Angaben wahr sind, sich durch Zank und Zorn auf der Stelle zur Tat hinreissen liess." (Gutachten des Prof. Dr. Strauch, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 76)

    Vorausgesetzt natürlich, dass seine Angaben wahr sind […]" schränkte der Gutachter Prof.

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1