Ärzte: Erlebnisse eines Insiders
Von Berndt A. Mayer
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Buchvorschau
Ärzte - Berndt A. Mayer
Prolog
Wer hat nicht schon Arztserien im Fernsehen geschaut. Alle Altersgruppen sind fasziniert von dieser so anderen Berufswelt, wo Menschen geholfen wird, wo es Operationen gibt, wo man Blutungen im Bauch sieht und Transplantationen von Herzen, viele rätselhafte Kurven sieht und ängstigende Geräusche hört. Die Faszination wird noch gesteigert durch die unzähligen Techtelmechtel des medizinischen Personals, ihr eingeflochtenes Privatleben und die vollen Prosecco-Gläser nach einer gelungenen Operation. Welch ein Kontrast, wenn man in den Umkleideräumen der Operationstrakte die Schuhe der Ärzte im wirklichen Leben anschaut, ungepflegt, abgerissen, kaputt – als ob sie sich keine ordentlichen Schuhe kaufen könnten. Auch mit der Kleidung ist es nicht besser. Ladys und Gentlemen sehen anders aus.
In diesem Buch erzähle ich am Beispiel meines beruflichen Lebensweges, wie anders die Wirklichkeit in der Medizin ist, und nur ausnahmsweise so ein familiäres Gutfühl- und Erfolgsklima den Arbeitsablauf beherrscht, wie es in „Dr. House, „In aller Freundschaft
oder in „Grey’s Anatomy" vorgespielt wird.
Unter Nichtmedizinern und in der „normalen" Bevölkerung hält sich die Meinung, dass es sich bei allen im Medizinbereich Beschäftigten und insbesondere bei der Ärzteschaft um eine Gemeinschaft handelt, wo eine Krähe der anderen kein Auge aushackt, eine Art Geheimgesellschaft mit eigenen Codes. Welch ein Irrtum, wie ich bald erkennen musste.
Es ist nun aber so, dass viele junge Leute, die sich dem Abitur nähern, von dieser Fernsehwelt so fasziniert sind, dass sie alles dafür geben, Medizin zu studieren. Und die Eltern sind begeistert, sie stellen sich ihre Töchter und Söhne schon im weißen Kittel vor, wie sie mit höchstem Sozialprestige ausgestattet in fremde Bäuchen schneiden oder Knochen sägen, mit dem Stethoskop lässig um den Nacken bei einer Visite kluge Reden halten und abends mit einer hübschen, jungen Schwester ausgehen.
In meiner Studienzeit, in den siebziger Jahren, waren es vor allem Lehrerkinder, die von ihren Eltern förmlich zum Medizinstudium getrieben wurden, der soziale und finanzielle Upgrade vom Lehrerhaushalt zum Arzt war doch sehr erstrebenswert. Ich erinnere mich an einen Berufsschullehrer, der sich damals im Umkleideraum des Tennisclubs laut erregte, warum das Studienjahr nur aus zwei Semestern bestehe, wenn man drei daraus machte, könnte man viel mehr Ärzte ausbilden. Seine beiden Kinder waren im Gymnasium und er hatte Angst, dass sie später keinen Studienplatz in Medizin erhalten würden. Beide haben es aber geschafft, der Sohn wurde Zahnarzt, die Tochter Hautärztin. Aber eines haben sie damit auf Dauer verspielt: Der Vater saß als Berufsschullehrer bei schönem Wetter in seinem kleinen Segelboot und glitt genussvoll über den Bodensee, während seine Lehrer-Ehefrau in der Senioren-Liga Bälle über den Tennisplatz drosch. Den Kindern bleibt als Ärzten für diese Hobbys höchstens ein Wochenendtag. Ob beide mit der durch den Druck der Eltern erwirkten Berufsentscheidung letztendlich glücklich wurden, darf bezweifelt werden. Auch wenn er mit höchstem Sozialprestige ausgestattet ist, muss der Zahnarzt sein Leben lang meist im Stehen arbeiten, er muss immer aufpassen und sich schützen, dass ihm nicht die Tröpfchen aus den mit krank machenden Bakterien verseuchten Münder ins Gesicht und in die Augen spritzen. Etwas vergessen die meisten Zahnärzte zudem: einen wasserdichten Haarschutz. Denn in den Haaren findet sich abends eine Mischung der verschiedenen Keime und Kariespartikel ihrer Patienten, die sie mit ins Bett nehmen, wenn sie sich nicht vor dem Schlaf die Haare waschen. Im Bett werden diese ekelhaften Dinge ins Kopfkissen geschmiert und dann von dort inhaliert, ganz abgesehen davon, dass auch der Lebenspartner in den Genuss dieser Mischung kommt. Bei den Ärzten ist es nicht viel besser, abhängig von der Fachrichtung.
Der Vergleich mit der Lehrerschaft ist wichtig, da gerade dort das größte Neidpotential gegen Ärzte ausgepackt wird. Ich vergesse nicht, wie unsere geschätzte Französischlehrerin fast täglich schon am frühen Nachmittag auf dem Tennisplatz ihr Racket schwang und am nächsten Tag im Unterricht erzählte, sie hätte bis 22 Uhr noch Hefte korrigiert. Wir schmunzelten damals, weil wir wussten, dass sie den Nachmittag im Tennisclub und im Strandbad verbracht hatte. Viele Ärzte hingegen arbeiten täglich länger als bis 21 Uhr, haben nur einen Bruchteil der Ferien, ihre Lebensqualität ist deutlich schlechter als die der Lehrer, und die Lehrer schneiden einschließlich der Pension finanziell besser ab als der Durchschnitt der Ärzte. So bleibt es allein beim Sozialprestige. Aber der Neid auf die angeblich zu hohen Verdienste der Ärzte bleibt bestehen, auch wenn die Vorstellung davon falsch ist.
In den siebziger und achtziger Jahren versüßten die damals sehr guten Einkommen der Praxisärzte in Deutschland die Wahl des Arztberufes. Dieser Beweggrund spielt auch heute noch eine Rolle, ist jedoch kaum noch zu verwirklichen. Nur wenige Praxen mit einer Monopolposition in ländlichen Gebieten oder Kleinstädten und nur wenige Spezialisten verdienen so viel Geld, wie es sich die Medizinstudenten und deren Eltern vorstellen. In meiner Heimat, der Bodenseeregion, wo es wegen der landschaftlichen Reize schon immer eine hohe Ärztedichte gab, gelang es in den siebziger und achtziger Jahren fast allen Praxisärzten, ihr erstes Haus schon fünf Jahre nach Beginn der Praxistätigkeit zu bauen. Ein Swimmingpool und die Hanglage mit Sicht auf den See und die Schweizer Berge waren Prestigesache und gehörten wie zwei bis drei Autos dazu. Zehn Jahre später musste dann eine Ferienwohnung zum Skifahren in den Alpen oder eine Finca auf Mallorca angeschafft werden.
Heute sieht die wirtschaftliche Lage vieler Praxen anders aus, gar nicht zu reden von der finanziellen Situation angestellter Ärzte, die schon immer wie Lehrer nach öffentlichen Tarifen entlohnt werden, obwohl sie viel mehr Verantwortung und ermüdende Arbeit schultern müssen, ganz abgesehen von der viel längeren Ausbildungszeit, die nach dem Abitur mit Studium und Spezialisierung mindestens 12 Jahre dauert, mit Nachtdiensten, die über die Jahre hinweg das vegetative Nervensystem massiv schädigen und eine der Ursachen sind, warum die Lebenserwartung der Ärzte von allen Akademikern die geringste ist. Ärzte haben auch die höchste Scheidungsquote und die höchste Suchtquote unter den Akademikern.
Die meisten Arztpraxen werfen heute nur noch einen Gewinn in der Höhe eines durchschnittlichen Lehrergehalts ab, darüber spricht man besser nicht, man möchte nicht als Loser dastehen. Die Lehrergehälter sind gut, aber nicht das, was sich junge Medizinstudenten vorstellen. Zum Lehrerberuf gehören aber auch viele Wochen Ferien, nie Nachtdienst und immer freie Wochenenden ohne Arbeit im Krankenhaus. Von diesen Annehmlichkeiten dürfen sich die jungen Doktorinnen und Doktoren für immer verabschieden, wenn sie die ärztliche Approbation erhalten und ihren Beruf gewissenhaft und mit Engagement ausüben. So wissen viele Eltern nicht, was sie ihren unglücklichen Kindern, die sie zum Medizinstudium treiben, antun. Und viele der hoffnungsvoll aufstrebenden Jugendlichen, die mit dem Beginn des Medizinstudiums glauben, nun den Schlüssel zu hohem Sozialprestige und Einkommen für den Rest des Lebens in der Tasche zu haben, finden sich plötzlich in einer Falle von Arbeit, Müdigkeit und finanziellen Verpflichtungen oder, falls sie sich für die Kliniklaufbahn entscheiden, häufig in sklavenartiger Abhängigkeit, aus der sie oft nicht mehr herauskommen. Mobbing der Assistenzärzte durch Oberärzte, der Oberärzte durch Chefärzte und jener, die Chefarztherrlichkeit ist längst vorbei, durch die Verwaltungsdirektoren. Man muss wissen, im Medizinbereich gibt es nur wenige gute Manager. Die meisten gehören zur unteren Qualitätsschublade und kompensieren ihre Komplexe mit Mini-Hitler-Allüren. Die guten Manager bekommen besser bezahlte Jobs in der Industrie oder in der Finanzwelt. Aber es gibt auch Ausnahmen, auf die ich getroffen bin.
Jedenfalls ist die Welt der Medizin keine Geheimgesellschaft mit Codes, wo jeder jeden schützt, sie ist das gleiche Haifischbecken wie in anderen Berufsgruppen, vielleicht noch wesentlich härter und rücksichtsloser. Viele Ärzte führen lieber Krieg gegen Kollegen, als sich mit ihnen zu verbünden, um ein besseres Arbeitsumfeld zu erkämpfen. So werden sie zur leichten Beute der Politik und insbesondere der Juristen. Offenbar sind sie zu töricht, sich darüber im Klaren zu sein. Die Eitelkeit, sich als die Besten darzustellen, ist ihnen wichtiger. Der Preis dieser Arroganz ist hoch. Der deutsche Arzt reagiert schon mit stärkstem Neid, wenn er nur vermutet, dass der Kollege vielleicht in der Zukunft einen Vorteil durch einen besseren Ruf oder mehr Umsatz haben könnte, und überlegt sich, wie er diesen Vorteil, der noch gar nicht Realität ist, den er sich nur vorstellt, zerstören kann.
I. Wie ich Medizinstudent wurde
Ich stamme aus Friedrichshafen, einer Stadt am Bodensee. Meine Eltern wuchsen in einem Umfeld von nicht studierten Selbstständigen auf, die ihr Geld im Handwerk und Handel verdienten. Es ging allen gut, alle hatten mindestens ein eigenes Haus und waren unabhängig, weil sie fleißig und strukturiert ihrer Arbeit nachgingen. Beide Eltern arbeiteten, unterstützt von einer ganztägigen Haushaltshilfe. Mein Bruder und ich lernten früh Klavier spielen über das musische Talent der Mutter und Ski fahren und Tennis spielen über die sportlichen Interessen des Vaters.
Die Eltern gaben uns Werte für das spätere Berufsleben mit, die gut und ehrlich sind: Strenge dich an, arbeite gut, sei korrekt, dann kommt alles von selbst. Das hatte ich verinnerlicht. Es reichte allerdings nicht aus, wie ich später bitter erfahren musste, auch als Chefarzt eines katholischen Krankenhauses. Die Erweiterung der notwendigen Instrumente und Verhaltensweisen zur Wahrung meiner Interessen kosteten mich dreißig Jahre später Zeit und Geld. Das Aufwachsen in einer Nicht-Arzt-Familie half mir aber, nie den Blick von außen auf die Welt der Ärzte und der Medizin zu verlieren, und aus dieser inneren Distanz mich immer wieder zu wundern, was sich dort abspielt.
Nach dem St. Canisius-Kindergarten war ich vier Jahre lang in der Pestalozzi-Volksschule, danach im Graf-Zeppelin-Gymnasium Friedrichshafen, wo ich das Abitur ablegte. An die Schulzeit habe ich keine schlechten Erinnerungen. Meine Oberschulklasse, ein „Lateinzug", war im Vergleich zu den Parallelklassen überdurchschnittlich gut. Einige meiner Klassenkameraden, auch ich, erhielten während der Gymnasialzeit mehrmals Preise oder Belobigungen.
Für mich war klar, dass ich später studieren wollte, Handwerk oder Handel allein kamen nicht infrage. Nur was, das wusste ich lange Zeit nicht genau, da ich Begabungen und Interessen für verschiedene Bereiche spürte. Deshalb bedrückte mich diese Frage nicht, ich hatte keine Angst vor der Zukunft in welchem Beruf auch immer. Es sollte aber ein Beruf sein, in dem man auch selbstständig arbeiten konnte. So kamen für mich im Alter von ungefähr sechzehn Jahren nicht nur Medizin, sondern auch Volkswirtschaft, Jura oder Pharmazie infrage. Ich fühlte mich nicht unter Druck, früh zu entscheiden, obwohl ich schon mit siebzehn ins Abitursschuljahr kam.
Meine Eltern sahen das anders. Sie hatten eine ähnliche Lebensgeschichte. Beide wurden durch ihre Eltern und die damaligen Umstände gezwungen, ins Familiengeschäft einzusteigen, um es später zu übernehmen. Beide waren bis zur 10. Klasse im Gymnasium, mit guten Noten. Es half nicht, dass Lehrer der Oberschule ihren Eltern klarmachten, dass es sinnvoll wäre, bis zum Abitur weiterzumachen. Dafür gab es kein Verständnis. Bei meinem Vater kam hinzu, dass er den Zweiten Weltkrieg als Soldat der Wehrmacht in Frankreich und Russland verbracht hatte und danach noch vier Jahre in sowjetischer Kriegsgefangenschaft überleben musste.
Mag es diese Erfahrung sein und auch, wie bei vielen Eltern, Prestigedenken, sie versuchten, mich auf eine sehr diskrete und raffinierte Weise in Richtung Medizin zu drängen.
Medizin stand bei mir nicht an erster Stelle, obwohl ich durchaus Interesse daran hatte. Wenn ich aber an meine Krankenbesuche im damaligen alten Städtischen Krankenhaus Friedrichshafen dachte, fühlte ich mich schon durch die Erinnerung unwohl: Die Zimmer waren schlecht gelüftet, auf den Gängen roch es nach einer Mischung von Desinfektionsmitteln und Fäkalien. Und ich fürchtete die Atmosphäre des Krankenhauses, das ich bis zum Studium nie von innen erleben musste.
So fing ich an, zu Hause über verschiedene Berufsinteressen zu reden, einmal wollte ich zuerst eine Lehre bei einer Bank machen, natürlich nicht in der provinziellen Bodenseestadt, sondern in Frankfurt, und danach ein Studium der Wirtschaft; ein anderes Mal stellte ich mir die Arbeit als Rechtsanwalt vor, als Forscher in der Pharmaindustrie oder abstrakt als Facharzt, als Spezialist in einem operativen Fach. Als Hausarzt mit Hausbesuchen sah ich mich nie.
Der Ablauf war immer der gleiche: Meine Eltern ließen mich zuerst reden und erklärten mir danach in ruhiger Weise die Nachteile des Berufes, den ich mir gerade vorstellte. Wenn ich vom Studium der Wirtschaft schwärmte, wies mein Vater auf seinen Steuerberater hin, der zwei Querstraßen weiter in seinem dunklen, gemieteten Erdgeschoss vegetierte und mit seinen Gehilfen trostlose Zahlenkolonnen auswertete. Wenn ich von Pharmazie sprach, hieß es, dass eine Apotheke auch nicht mehr bringe als das elterliche Geschäft und die Arbeit in der Pharmaindustrie Unfreiheit bedeute, man hätte immer irgendwo einen Vorgesetzten. Auch in diesem Fall wurde mir eine kleine Apotheke als abschreckendes Beispiel vor Augen geführt, wo der Apotheker, zwar in makellos frisch gebügeltem weißem Kittel, tagaus tagein nur Rezepte einlöste und Vitaminzeug verkaufte. Außerdem wäre die Pharmaindustrie Hunderte von Kilometern entfernt, so dass ich am Wochenende nicht Ski fahren könnte. Nur bei Medizin leuchteten die Augen auf. Mein Vater sprach von erfolgreichen und glücklichen niedergelassenen Ärzten in Friedrichshafen, von denen er mit einigen ins Gymnasium gegangen war, von deren Kindern, die auch Medizin studierten, ihren eigenen Häusern, Segelbooten und Ferienwohnungen in den Schweizer Bergen. In diesem Beruf könnte man nicht nur helfen, sondern auch gut verdienen und insgesamt nur gewinnen.
So war ich plötzlich im Abitur, der Notendurchschnitt war besser als zwei, und ich hatte die Möglichkeit, jedes Fach zu studieren trotz Numerus clausus, allerdings nicht an jedem Studienort. Der sanfte Druck zu Hause nahm zu. Es hieß, es wäre eine krasse Fehlentscheidung, wenn ich die gute Abitursnote nicht zu einem Medizinstudium nutzen würde. Ich bewarb mich. Zwar holte mich die Bundeswehr am 1. Oktober 1972 zum Grundwehrdienst in eine Artilleriekaserne nach Pfullendorf, nach zwei Wochen durfte ich aber wieder gehen, weil ich die Zulassung zum Medizinstudium an der Universität des Saarlandes erhielt. Die Militärzeit musste ich nach dem Studium als Stabsarzt bei der Marine in Olpenitz/Ostsee nachholen.
II. Das Studium der Medizin
In den ersten zwei Semestern fühlte ich mich nicht wohl und wusste nicht, ob die Entscheidung für Medizin richtig war. Danach nahm die Lernarbeit so zu, dass ich gar nicht mehr zum Nachdenken und Zweifeln kam. Etwas neidvoll schielte ich zu meinen früheren Schulfreunden, die in schönen, traditionellen Universitätsstädten wie Freiburg, Tübingen und München studierten. Ich besuchte sie gelegentlich und genoss an diesen Wochenenden das richtige Studentenleben, das es in Homburg/Saar, wo sich die Medizinische Fakultät der Universität des Saarlandes befindet, nicht gab. Immerhin hatte Homburg einen Universitäts-Tennisclub mit zwei Plätzen, wo ich mich gerne zu Sport und Entspannung aufhielt, aber leider zu wenige Mädchen, die für mich infrage kamen; auch die weniger attraktiven waren wegen des geringen Angebots und der starken Nachfrage „ausgebucht. Nur zehn Prozent der Medizinstudenten waren damals Frauen. In Homburg/Saar gab es zwar Schulen für Medizinisch-Technische Assistentinnen (MTA), Physiotherapeutinnen und Krankenschwestern, aber keine anderen universitären Institute mit traditionellem Frauenüberschuss, wie in Freiburg zum Beispiel die Pädagogische Hochschule oder in Heidelberg das Dolmetscherinstitut, die dort als „sexuelles Rückgrat der Universität
galten.
In Homburg/Saar waren die Studentinnen der Schule für Krankengymnastik, heute Physiotherapie genannt, am begehrtesten. Sie waren intelligent, meist schlank und hatten eine sportliche Figur. Sie konnten aus einem großen Angebot junger Männer wählen und bevorzugten meist die Assistenzärzte und Oberärzte der Orthopädischen Klinik, mit denen man nach einer Heirat gemeinsam eine Praxis betreiben könnte. Ich erinnere mich an eine Ärztebesprechung in der Orthopädischen Klinik, als über den Unterricht für die Krankengymnastinnen gesprochen wurde. Assistenzärzte der Orthopädischen Klinik wurden dort als Lehrer eingeteilt. Als sich kein Freiwilliger meldete, warb der leitende Oberarzt Prof. B. mit der Bemerkung „da fällt doch immer etwas ab" … Er meinte, etwas fürs Bett.
Unter den jungen Krankenschwestern und MTAs gibt es viele intelligente Mädchen, ihre Lebensplanung ist aber meist anders, sie tendieren viel früher zur Heirat als Ärztinnen und Ärzte und standen in Homburg im Ruf, schnell schwanger zu werden, wenn sie mit einem Medizinstudenten zusammen waren.
Es sind weniger die jungen Krankenschwestern oder MTAs, die zum Beuteschema von Medizinstudenten gehören. Meist suchen sich Medizinstudenten ihre Freundinnen unter Studentinnen aus, auch später paaren sich in diesem Beruf oft Ärztin und Arzt, das hat mit dem intellektuellen Niveau und den langen, anstrengenden Arbeitszeiten im Krankenhaus zu tun. Affären von Ärzten mit Schwestern sind nicht häufig, es ist nicht so, wie es in den Fernsehserien gezeigt wird. Es gibt aber auch Ausnahmen. Als ich zu meinem Chirurgie-Trimester im Praktischen Jahr, dem letzten Jahr im Medizinstudium im Knappschafts-Krankenhaus in Quierschied/ Saar war, verabredeten sich Schwesterschülerinnen und Medizinstudenten mittags in der Kantine laut, über mehrere Tische hinweg, zum abendlichen „Verkehr". Das war im Sommer 1978, so etwas würde heute über das Smartphone diskreter ablaufen.
In den Semesterferien absolvierte ich die vorgeschriebenen Pflichtpraktika. In den ersten zwei Jahren das Krankenpflegepraktikum, den ersten Monat in der Chirurgischen Klinik von Herrn Dr. Feller in Friedrichshafen, an den ich als Patient beste Erinnerungen hatte; er richtete im Januar 1969 meinen beim Skifahren gebrochenen linken Unterschenkel so gut, dass ich mein weiteres Leben lang kein Problem damit hatte. Zum zweiten Teil war ich im Sommer 1973 im Krankenhaus Markdorf, wohin mich Dr. Puls, einer meiner Tennispartner, gelotst hatte, er arbeitete dort als Assistenzarzt in der Inneren Medizin.
Nach der „Ärztlichen Vorprüfung, dem sogenannten „Physikum
, stand die „Famulatur" an. Ich absolvierte sie wieder in Markdorf und im Sommer 1976 in einer großen internistischen Gemeinschaftspraxis mit angeschlossenem Dialyseinstitut, wo sich die Ärzte viel Mühe gaben, uns Famulanten zu involvieren. Dort sah ich im Mikroskop zum ersten Mal Krebszellen. Später jobbte ich für einen Monat im neuen Städtischen Krankenhaus Friedrichshafen in der Zentralsterilisation und im technischen Sektor, was mir Einblicke in die Infrastruktur eines Krankenhauses ermöglichte.
Erst ab dem fünften Semester, in den sogenannten klinischen Semestern, fand ich immer mehr Freude an der Sache, auch wenn der Studienort Homburg/Saar, wo sich die Medizinische Fakultät der Universität des Saarlandes befindet, ein kleines Provinznest ist. Immerhin gab es auf dem Klinikgelände die Tennisplätze, auf denen ich viel spielte und Spaß hatte. Es gab auch einige angenehme Kommilitonen und Kommilitoninnen, mit denen man manche Feier zelebrierte. Nur die Wochenenden waren nicht gerade spannend, weil die Saarländer und Pfälzer, die dort die überwiegende Mehrheit stellten, und ein paar Luxemburger freitags immer nach Hause fuhren und erst montags zurückkehrten. Im Studentenwohnheim waren am Wochenende nur wenige Deutsche, einige Südvietnamesen, Syrer, Palästinenser und Norweger. So reiste ich jede dritte Woche mit dem Zug vier Stunden lang an den Bodensee. Dabei erinnere ich mich besonders an den lieben Kommilitonen Roman, einen Saarländer, der mich jahrelang mit seinem Citroën 2CV unaufgefordert vom Homburger Bahnhof abholte. Er war immer da, wenn ich kam. Ich wusste nicht, woher er meinen Fahrplan kannte.
Zum angenehmen Begleitprogramm gehörten in Homburg auch die unvergesslichen Ausflüge nach Paris, über die Autobahn waren es nur vier Stunden dorthin. Wir fuhren morgens um fünf Uhr los, stellten das Auto in einem Vorort ab und fuhren mit der RER (S-Bahn) ins Stadtzentrum. Um 10 Uhr saßen wir dann im Café du Trocadéro und begannen, die Stadt zu genießen.
Mein Vater hielt mich finanziell „kurz", ich erhielt DM 400 pro Monat und musste damit alles bestreiten. Ich wohnte im Studentenwohnheim, die Zimmer waren noch ohne fließendes Wasser, Waschbecken, Duschen und Toiletten befanden sich auf der gleichen Etage.
Aber dieses Studentenwohnheim bot Vorteile, die für mein weiteres berufliches Leben von großer Bedeutung waren. Ich lernte meine zukünftigen Kollegen aus nächster Nähe kennen. Damals waren dreißig Prozent der Medizinstudenten Arztkinder, so dass ich deren Mentalität studieren konnte. Ich war überrascht, wie wenig diese saarländischen und pfälzischen Arztkinder untereinander kommunizierten, auch wenn sie aus dem gleichen Ort kamen und sich schon seit der Schule kannten. Nur Ausländer, wie die Luxemburger, bildeten untereinander Clubs. Oft hatte ich den Eindruck, dass die Fehden in Homburg fortgeführt wurden, die schon die Eltern in den Heimatorten untereinander ausgefochten hatten. Diese Erfahrung war für mich neu, nichts von eingeschworenem Korpsgeist, im Gegenteil, kleingeistige Intrigen. In meinem ganzen weiteren beruflichen Leben sollte ich dieser Mentalität begegnen, die für mich die Medizingesellschaft