Der Mensch - eine geisteswissenschaftliche Zusammenschau: Die 900 Thesen Giovanni Pico della Mirandolas in ihrem Kontext lateinisch-deutsche Ausgabe
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Der Mensch - eine geisteswissenschaftliche Zusammenschau - Christian Albrecht May
Christian Albrecht May
Der Mensch - eine geisteswissenschaftliche Zusammenschau
Die 900 Thesen Giovanni Pico della Mirandolas in ihrem Kontext lateinisch-deutsche Ausgabe
© 2017 Christian Albrecht May
Verlag und Druck: tredition GmbH, Grindelallee 188, 20144 Hamburg
ISBN
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Inhalt
Einführung in die Texte
1. Die Idee – Zeitströme und biographische Voraussetzungen
2. Chronologie der Ereignisse
3. Die Texte – formale Rezeption
4. Die Texte – inhaltliche Gliederung
4.1. Einleitung und Methode
4.2. Ergebnisse
Skizzen einer Anthropologie aus den 900 Thesen
Corpus, Materia, Substantia, Terra
Anima
Intellectus
4.3. Diskussion
Die Texte (lateinisch-deutsch)
Die Eröffnungsrede
Die 900 Thesen
Auszüge aus der Verteidigungsschrift
1. Die Idee - Zeitströme und biographische Voraussetzungen
O Mazda,
Als du am Anfang für uns
Körper, Leben, Geist und Gewissen erschaffen hast,
hast du uns auch die Vernunft geschenkt.
Du hast uns die Kraft zum Handeln und Reden gegeben,
damit jeder seinen selbst gewählten Weg in Freiheit beschreiten kann.¹
In der Geschichte der zivilisierten Menschheit finden sich immer wieder Dokumente die zeigen, dass die grundsätzlichen philosophischen und theologischen Fragen den Menschen in nur wenig veränderter Weise bis heute begleitet haben. Früher waren es nur Einzelne, die ihr Wissen fixierten, das sie aus eigener Anschauung und aus dem Strom der mündlichen Tradition entwickelten. Die Aufzeichnung erfolgte in der eigenen Sprache. Zwei große Motivationsströme finden sich in dieser Entwicklung: der eine ist Weisheit, der andere Macht. Beide wollen das Gute, doch mit welchen Mitteln? Die Motivation für beide liegt in zwei Grundfragen verankert: was bin ich? Was soll ich tun? Das Nachdenken und das Handeln. Bei dem Versuch, die Fragen zu beantworten, stoßen wir an unsere Erkenntnisgrenzen.
Die Weisheit ist stets von großer Offenheit und Toleranz geprägt, wenn sie auch oft das große Rampenlicht scheut. Der Blick ist auf die Harmonie und den Inhalt gerichtet. Die Weisen bieten Lösungsansätze und regen die eigene Entwicklung an. Die Macht will Identität und Hierarchien, die sie nach außen hin sichtbar und demonstrativ verkündet. Der Blick ist auf die eigene Position und die Form gerichtet. Die Mächtigen arbeiten mit Gesetzen und drücken das Handeln in starre Regeln.
Der unterschiedliche Ansatz schafft keine echte Polarität sondern stellt nur zwei unterschiedliche Blickrichtungen dar. Das grundsätzliche Objekt, der Mensch, ist das gleiche. Insofern lassen sich alle Aussagen über dieses Objekt zusammenführen. Scheinen sie sich zu widersprechen, muss man nur die Blickrichtung klären und der Widerspruch löst sich auf. Versucht man eine harmonisierende neue Interpretation zu erstellen, nennt man das Synkretismus. Voraussetzung dafür ist, dass man die verschiedenen älteren Ansichten (möglichst im Original) kennt. Dies war bis in das 15. Jahrhundert n.Chr. schwierig: wenige waren des Lesens mächtig, die Texte wurden in nicht öffentlich zugängigen Bibliotheken aufbewahrt und bei Interesse wenn vorhanden von Hand abgeschrieben. Der allgemein verwendete Sprachenkanon in Europa reduzierte sich neben der Muttersprache auf das Latein als Wissenschaftssprache. Nur ausnahmsweise erlernte man eine weitere Sprache. Der Übersetzer eines Werkes hatte in der Regel große Freiheiten, da kaum Original und Übersetzung zum Vergleich vorlagen.
Eine unglaubliche Änderung setzte in der Mitte des 15. Jahrhunderts dieser das Mittelalter prägenden Situation ein. Der Buchdruck ermöglichte plötzlich eine rasche Verbreitung von Texten, die Möglichkeit dass mehr Menschen schriftliche Dokumente besitzen konnten und in Folge, dass auch mehr Menschen ihre Meinung über das Buch verbreiten und dokumentieren konnten.² Durch die weitläufige Präsenz konnte man leichter Texte vergleichen, es wurden erste textkritische Ausgaben und textkritisches Arbeiten angelegt, die vielen neuen Übersetzungen erlaubten auch dem einfach ausgebildeten Gelehrten auf Latein in neue Wissensbereiche vorzudringen.
Mit der Entwicklung der europäischen Universitäten im 12. Jahrhundert bildete sich eine eigene Methode heraus, die zunächst auf dem Vergleich der zur Verfügung stehenden Schriften und Abhandlungen basierte, und dann eine eigene Bewertung setzte: die scholastische Methode.³ Grundlage ist dabei die Polarisierung in These(n) und Antithese(n). Dies begünstigte die Bildung von konkurrierenden Meinungen, um die man sich dann ‚streiten’ konnte, die jedoch mehr auf isolierten formalen Aspekten als auf zusammenfassenden inhaltlichen Grundgedanken fußten. In dieser ‚Kultur des Streitens’ wurden die jungen Akademiker ausgebildet, sie galt es zu üben und zu erlernen.⁴ Da das Wissen neben eigenen eklektischen Anstrengungen meistens einseitig durch den Lehrer vorgegeben war, verließ man sich auf die vorgegebenen Argumente und versuchte sich in einem kleinen Ausschnitt.
Die norditalienische Universitätslandschaft blühte gerade im 15. Jahrhundert so gewaltig auf, dass sie Gelehrte aus ganz Europa anzog. Das Besondere dabei lag in einer Freiheit, bei der (herausragend in Bologna und Padua) das Wissen von den Studenten selbst organisiert und verwaltet wurde – unabhängig von der Gesinnung eines Gönners oder der Kirche.⁵ Die Fesseln der scholastischen Methode fielen zugunsten neuerer Ansätze, z.B. der textkritischen Auslegung und der Interpretation von Texten in ihrem Umfeld und zeitlichen Kontext. Einen nicht unerheblichen Anteil hatten dabei auch die außeruniversitären Förderer der Künste, herausragend dabei Lorenzo del Medici.
Alle Faktoren stärkten letztendlich das Ich-Bewusstsein der Menschen in einer Breite, die eine neue Gesellschaftsordnung forderte. Der städtische Mensch etablierte sich, mit der inneren Haltung der eigenen Verantwortung und dem Anspruch auf Bildung.
In dieser frisch aufkochenden Suppe entwickelten sich vielfältigste Keime: solche, die Grundlagen für eine moderne Naturwissenschaft setzten, solche, die eine neue Kulturlandschaft etablierten, solche, die das theologische Dogma schließlich sprengten, und solche, die philosophische Impulse vorantrieben.
Einen eigenständigen Keim dieser Zeit bildete Pico della Mirandola, dessen Impuls Neues zu formen nicht darin bestand, altes abzustoßen, sondern gerade altes aufzugreifen und den Kern aus der trocknenden Hülle herauszuholen. Den gemeinsamen Inhalt aller Strömungen aufdeckend, alles vereinend und versöhnend, die Grundfragen aufgreifend – das erlebte er in seinen Studien, und um dieses Erlebnis ging es ihm. Nicht das Verfassen eines Textes, sondern das lebendige Menschsein im Reden, in der Bewegung, im Sein.
2. Chronologie der Ereignisse
Giovanni Pico della Mirandola, Graf von Concordia (24. Februar 1463 – 17. November 1494), plante im Alter von 23 Jahren einen groß angelegten Kongress in Form öffentlicher Gespräche, bei dem die Bedeutung der Philosophie und die grundsätzliche Übereinstimmung aller wissenschaftlichen Lehren erörtert werden sollten.⁶ Als Ort war der Apostolische Senat in Rom vorgesehen, der Papst war als oberster Richter direkt angesprochen.⁷
Wie kam der junge Graf auf die Idee, ein derartiges Projekt anzuregen?⁸ Auf Betreiben seiner Mutter begann Pico mit 14 Jahren (1477) Kirchenrecht in Bologna zu studieren; dabei interessierten ihn jedoch mehr die Geisteswissenschaften und Sprachen (Latein und Griechisch), sodass er sich zwei Jahre später (1479) in Ferrara zunächst den studia humanitatis (Grammatik, Poesie, Rhetorik, Moralphilosophie und antike Geschichte) zuwandte, dann 1480 in Padua an der Universitas Artistarum das Studium der Philosophie aufnahm. Dort setzte er sich insbesondere mit den Averroisten auseinander. Im Alter von 20 Jahren (1483) zog Pico nach Florenz und lernte dort die durch wenige Auflagen getrübte, freizügige Denkweise am Hof des Lorenzo I. de’ Medici kennen. Nach den aristotelisch geprägten universitären Studien war dies eine wesentliche Erfahrung des lebendigen Platonismus (besonders Marsilio Ficino und Angelo Poliziano). Es ist zu vermuten, dass er hier bereits die grundsätzliche Übereinstimmung von aristotelischem und platonischem Gedankengut erkannte. 1485 ging er für acht Monate nach Paris und lernte dort die tradierte scholastische Denk- und Argumentationsweise lebendig kennen. Nach seiner Rückkehr widmete er sich verstärkt dem Sprachenstudium (Arabisch, Hebräisch und Aramäisch) und begann die Kabbalah zu studieren. Pico hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine große eigene Bibliothek, die er laufend mit frisch gedruckten Werken und alten Handschriften erweiterte.⁹
Unter dem Eindruck ständiger neuer Zusammenhänge zwischen den von ihm studierten Werken, die seine Einheit und Frieden schaffen wollende Grundhaltung bekräftigten, entwickelte er im Frühjahr 1486 das grundlegende Konzept seiner zunächst 700 Thesen, denen er vermutlich von Anfang an eine gewisse Zahlensymbolik zugrunde legte. Die Gedanken adäquat zu bündeln und gleichzeitig ständig zu erweitern und neue Informationen zu integrieren, das erscheint aus heutiger Sicht als unausführbarer Spagat. Pico versuchte ihn zu meistern und zog mit seiner Bibliothek im Herbst 1486 nach Rom, um sich vor Ort weiter auf die geplanten Diskussionen vorzubereiten.¹⁰ Die begeisterte und zugleich angespannte Unruhe, die in Pico zu dieser Zeit steckte, drückt sich sehr deutlich in der Erstausgabe seiner nun auf 900 angewachsenen Thesen aus. Sie sind nicht ein verklärtes Alterswerk, minutiös ausgearbeitet und mehrfach überprüft, im stillen Kämmerchen entworfen, sondern reflektieren noch Änderungen in letzter Minute:¹¹ der erste Teil enthält nicht wie angegeben 400, sondern 402 Thesen, und demzufolge der zweite Teil nur 498. Außerdem besteht der zweite Teil nicht wie ursprünglich angegeben aus 10 Sektionen, sondern weist 12 Überschriften auf.
Am 7. Dezember 1486 war der Erstdruck fertig und konnte in ganz Italien, ja auch an andere europäische Universitäten und Zentren verteilt werden. Der nach dem 6. Januar geplante Kongress fand jedoch nicht statt, da Papst Innozenz VIII. am 20. Februar 1487 eine sechzehnköpfige Untersuchungskommission einsetzte, die zunächst dreizehn Thesen als fragwürdig einstufte.¹² Im Laufe der Gespräche mit der Kommission erkannte Pico, dass bei einigen Mitgliedern die Fähigkeit zur Reflexion und Differenzierung der Argumente nur in einem äußerst beschränkten theologischen Horizont ausgebildet war. Picos methodisches Differenzierungsvermögen zwischen den verschiedenen Quellen der theologischen Tradition und sein Verständnis des historischen Umfelds ging weit über das kirchengefilterte Dogma hinaus.¹³ In der Freiheit seines Menschenbildes stehend entschloss sich Pico, die Verteidigung der angezweifelten Thesen öffentlich zu machen. Innerhalb kurzer Zeit (20 Tage) und unter großer psychischer Spannung verfasst er seine kurz ‚Apologia’ genannte schriftliche Ausführung, die seine überlegene Geisteshaltung brilliant erkennen lässt. Der Papst war über dieses Vorgehen verärgert und verurteilte mit einer Bulle, datiert auf den 4. August 1487, die gesamten 900 Thesen. Pico reiste im November aus Rom ab, erkennend, dass sein Anliegen von der Kirche nicht verstanden wurde.¹⁴ Wollte er in Paris eine erneute Diskussion einleiten? Fühlte er sich dort in seiner Methode besser verstanden? Die zweite Reise nach Frankreich erschließt sich nicht vollständig und es bleibt offen, ob er hier eine Akzeptanz seiner Arbeit erwartete. Auf dem Weg nach Paris wurde er in Lyon verhaftet. 1488 konnte er durch Unterstützung einflussreicher Persönlichkeiten nach Florenz zurückkehren und widmete sich dort ganz seinen Studien, bis zu seinem überraschenden Tod im November 1494.
Die Erlebnisse in Rom, insbesondere die reduzierten intellektuellen Fähigkeiten des Kreises, den er als Autorität zunächst aufgerufen hatte, wirkten in ihm nach; sie konnten ihn aber nicht brechen. Zu groß waren seine innere Überzeugung und der Drang, die verbindenden Argumente darzulegen und anderen mitzuteilen. Sein Interesse lag in einer Vereinigung von Philosophie, Theologie und Religion.¹⁵ Die Metaphysik spielte dabei eine wesentliche Rolle.¹⁶ Insofern steht Pico auch nicht in der geraden Tradition der Renaissance-Humanisten, die den metaphysischen Spekulationen reserviert gegenüber standen und sich auf die Moralphilosophie beschränkten.
In seinem großen vollständigen Werk über die Auslegung der Schöpfungsgeschichte, der ‚Heptaplus’ von 1489, gelangt es Pico ebenfalls, alle Strömungen einschließlich der kabbalistischen Ansichten zu integrieren und dadurch eine neue Stufe der Textinterpretation und Ausdeutung zu erreichen. Trotz des Einflusses von und der Nähe zu Savonarola behielt Pico seine typische, die Gegensätze verbindende Haltung bei und verfiel nicht einer dogmatischen Schwärmerei. ¹⁷ Sein tieferes Verständnis der christlichen Lehre war über jede Einseitigkeit erhaben, seine Erfahrungen in Rom hatten ihn Vorsicht gelehrt.
3. Die Texte – formale Rezeption
3.1. Die Eröffnungsrede
Die älteste Fassung der Eröffnungsrede ist handschriftlich in einem Manuskript erhalten und beinhaltet vermutlich das originale Konzept von Giovanni Pico della Mirandola¹⁸. Das Manuskript wird auf 1486 oder kurz danach datiert. Es war nicht für den Druck vorgesehen.
Der üblicherweise zitierte und edierte Text der Eröffnungsrede folgt in seiner Gesamtheit nicht sicher einer Konzeption Giovanni Picos, sondern möglicher Weise einer posthumen Verbindung durch seinen Neffen Gianfrancesco Pico della Mirandola (1469-1533). Dabei wurde der erste Teil der Rede weitgehend von der ursprünglichen Fassung übernommen, der zweite Teil wurde jedoch stark erweitert und große Teile aus der Einleitung der Apologia hinzugefügt.¹⁹ Diese Erweiterung wurde offensichtlich deshalb gemacht, weil zunächst nur die Rede, nicht jedoch die 900 Thesen und die Apologie in die Edition der Schriften von Gianfrancesco Pico 1497 aufgenommen wurde.
Das erweiterte Konzept der Rede fand schnell Beachtung, insbesondere wegen der innovativen anthropologischen Argumentation des ersten Teils. Daraus entwickelte sich auch der heute übliche Titel ‚de hominis dignitate’ (Über die Würde des Menschen).²⁰ Für diese Fassung finden sich viele Drucke aus der Barockzeit bis heute. Die heute geläufige textkritische Ausgabe stammt von E. Garin 1942.²¹
Schon früh wurde die von Gianfrancesco zusammengestellte Rede in verschiedene Sprachen übersetzt, darunter auch mehrfach ins Deutsche.²² Eine freie Übersetzung der alten (ursprünglichen?) Version liegt hier erstmalig vor.
3.2. Die 900 Thesen
Die Erstausgabe der 900 Thesen erschien am 7. Dezember 1486, gedruckt bei Eucharius Silber in Rom. Handschriftliche Konzepte von Pico für diesen Druck sind nicht erhalten. Alle weiteren Versionen der Thesen basieren auf diesem ersten Druck. Ein erster nicht autorisierter Nachdruck mit vielen Fehlern ist für 1487 dokumentiert, gedruckt bei Lescher in Ingolstadt. Durch den päpstlichen Bann wurden die meisten Exemplare dieser beiden Druckauflagen vernichtet. ²³ Nach Aufhebung der päpstlichen Zensur 1493 durch Papst Alexander VI. wurden die Thesen zunächst nicht in die Werkausgabe Picos integriert. Aus dieser Zeit existieren einige wenige handschriftliche Manuskripte, die das Interesse an Picos Thesen dokumentieren.²⁴ Erst 1532 erfolgte eine Wiederauflage der gesamten 900 Thesen in Paris.²⁵ Dabei wurden die beiden gedruckten Auflagen von Rom und Ingolstadt als Grundlage verwendet und unglücklich miteinander vermischt. Die Thesen wurden in dieser Fassung erstmals nummeriert. Basierend auf diesem Druck fanden die Thesen Eingang in die erste große Gesamtausgabe der Schriften Picos, die 1557 in Basel und Venedig gedruckt wurde.²⁶
Erst in neuerer Zeit wurden textkritische Ausgaben zu den 900 Thesen erarbeitet. Dabei basierten jedoch die beiden ersten (Kieszkowski 1973 und Biondi 1995) auf fehlerhaften Annahmen über die Reihenfolge und die Wichtigkeit der verschiedenen überlieferten Versionen und enthalten mehr Fehler als die barocken Nachdrucke.²⁷ Eine streng auf die Erstausgabe bezogene Textedition wurde von Farmer 1998 geleistet; sie wird heute allgemein als Textgrundlage anerkannt.²⁸
Über fünfhundert Jahre blieben die Thesen von Giovanni Pico della Mirandola in ihrer vollständigen lateinischen Form un-übersetzt. 1995 erfolgte eine erste Übersetzung in das Italienische (Albano Biondi), 1996 in das Englische (Stephen A. Farmer), 1999 in das Französische (Bertrand Schefer) und 2007-09 in das Spanische (Silvia Magnavacca). Eine vollständige deutsche Übersetzung liegt hier erstmalig vor.
3.3. Die Verteidigungsschrift
Die Erstausgabe der Verteidigungsschrift erschien am 31. Mai 1487, gedruckt in Neapel bei Francesco del Tuppo. Von dieser Ausgabe sind nachgewiesener Maßen noch 9 Exemplare über Europa verstreut vorhanden. ²⁹ Handschriftliche Konzepte von Pico sind auch hier nicht vorhanden.
Kurz nach Picos Tod wurde die ‚Apologia’ in der ersten Werkzusammenstellung³⁰ seines Neffen Gianfrancesco gedruckt, der einige redaktionelle Änderungen im Bezug zur Erstausgabe vornahm. Die markantesten waren das Voranstellen einer Widmung an Lorenzo Medici und das Entfernen der 46 Thesen am Ende. Der Kerntext erfuhr keine inhaltlichen Änderungen. Diese Version wurde in den folgenden Jahren tradiert und erschien so auch in der Basler Gesamtausgabe 1557.
Eine textkritische Ausgabe des Werkes steht erstmalig seit 2010 zur Verfügung.³¹ In dieser Ausgabe findet sich auch eine erste vollständige Übersetzung in das Italienische. Kürzere Auszüge aus der Apologie finden sich als deutsche Übersetzung bei Liebert (1905). Eine vollständige deutsche Übersetzung gibt es bisher nicht.
4. Die Texte – inhaltliche Gliederung
Sieht man die drei Werke als eine Einheit, so bilden sie den heute üblichen Aufbau einer wissenschaftlichen Arbeit ab: die Rede führt als Einleitung zum Thema und beschreibt die angewendeten Methoden, die 900 Thesen stellen die Ergebnisse dar, und die Verteidigung zeigt exemplarisch die Diskussion, die Pico in ihrer Gänze mündlich während der Verteidigung der Thesen führen wollte. Unter diesem Aspekt kann man sich die Wichtigkeit mit der Beschäftigung der 900 Thesen abschätzen, denn jede These ist ein Baustein der Beobachtung und konstruiert Picos neues Verständnis, und darf nicht als ein rhetorisch-beliebiges Zusammenwürfeln einzelner Aussagen aufgefasst werden. Kritisch muss dabei beleuchtet werden, in wieweit kurzfristige Änderungen noch während der Drucklegung das zunächst geschlossene Konzept trüben.
4.1. Einleitung und Methode
Die Eröffnungsrede ist in zwei Teile gegliedert, was formal dem Stil einer Inauguralrede zu Beginn der akademischen Vorlesungen ähnelt.³² Aus dieser Schrift wird die eigentliche Absicht Picos in Bezug auf die 900 Thesen klar und ohne sie wäre die Generierung der ei