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Laozi: Mein Weg: Eine Autobiographie
Laozi: Mein Weg: Eine Autobiographie
Laozi: Mein Weg: Eine Autobiographie
Ebook597 pages6 hours

Laozi: Mein Weg: Eine Autobiographie

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About this ebook

Laozi versammelt in 81 Kapiteln die Geistesgrößen seiner Zeit um sich und diskutiert mit ihnen über ihre Ideen. Sein Vorgehen enthüllt die reiche Vielfalt der Denkansätze aus der Zeit der klassischen chinesischen Antike. Jedes Gespräch findet auf einem Berg oder in dessen Nähe statt. Laozi durchwandert die ganze chinesische Welt und erschließt sich so die Vielfalt der Landschaften und ihrer Fauna und Flora, die den atmosphärischen Rahmen der Gespräche bilden. Das Material zu diesem Buch stammt hauptsächlich aus den Originaltexten der chinesischen Antike. Dabei finden nicht nur die Klassiker Berücksichtigung, sondern insbesondere Nebenlinien und Fragmente.
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateJan 8, 2021
ISBN9783347228078
Laozi: Mein Weg: Eine Autobiographie
Author

Thomas Emmrich

Thomas Emmrich, geb. 1958 in Bielefeld, wohnt heute in Mettmann. Er befasst sich seit seinen Studien an der WWU Münster und der RFWU Bonn mit Fragen der klassischen chinesischen Antike. Die Idee zu diesem Buch entstand während eines 10jährigen Arbeitsaufenthalts an verschiedenen Orten in China.

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    Book preview

    Laozi - Thomas Emmrich

    I. Am Anfang des Weges

    Am Anfang bin ich. Vor dem Anfang war nichts. Am Ende bin ich immer noch. Nach dem Ende kommt nichts. Mein Weg hat mich heute in die Tai-Berge geführt. Der erste Frühlingsmonat ist da, und es ist einfach nur schweinekalt. Dazu bläst der Wind durch jede erdenkliche Ritze. Ich ziehe mich warm an, aber ich kann anziehen, so viel ich will, ich friere. Ich bewege mich, aber ich kann mich bewegen, so viel ich will, ich friere. Ich mache Feuer, aber ich kann Feuer machen, so viel ich will, ich friere und friere und höre nicht auf zu frieren. Dabei soll der Winter eigentlich längst vorbei sein, nur gelingt es dem Frühling einfach noch nicht, wohltuende Temperaturen zu generieren. Meine Nase fühlt sich an, als sei sie ein Eiszapfen, meine Finger knacken bedenklich bei jeder Bewegung, und mich über andere Körperteile zu verbreiten verbietet mir die gute Sitte.

    Man sagt mir, dass im ersten Frühlingsmonat die Sonne im Zeichen Yingshi stehe, zur Zeit der Abenddämmerung das Sternbild Shen und zur Zeit der Morgendämmerung das Sternbild Wei kulminiere. Seine Tage seien Jia und Yi, sein göttlicher Herrscher sei Taihao, sein Schutzgeist Goumang, seine Tiere seien die Schuppentiere, seine Note sei Jue, seine Tonart Taizu, seine Zahl acht, sein Geschmack sauer und sein Geruch muffig. Man sagt mir auch, man opfere den Türgeistern und unter den Opfergaben stehe die Milz voran. Der Ostwind löse das Eis. Die Tiere beginnen aus ihrem Winterschlaf zu erwachen. Die Fische stoßen das Eis auf. Der Fischotter opfere Fische. Die Zuggans ziehe nach Norden. All dies sagt man mir vom ersten Frühlingsmonat.

    Dreihundert Meilen südlich des Du-Gebirges und zweihundert Meilen östlich des Yan-Gebirges liegt das im ganzen Land berühmte Tai-Gebirgsmassiv (im heutigen Bezirk Tai'an in der Provinz Shandong). Auf dessen Höhen kann man Jade gewinnen, und an seinen Hängen findet man metallische Mineralien. Hier wächst der glänzende Liguster, ein immergrüner Baum, der bis zu zehn Meter hoch werden kann. Seine Blätter sind glänzend dunkelgrün, an der Unterseite heller, von ledriger Konsistenz, eiförmig zugespitzt von acht bis zwölf Zentimeter Länge. Wenn er blüht, wird das Laub fast völlig von cremeweißen Blüten verdeckt. In diesem Gebirge entspringen der Huan-Fluss, der von hier aus Richtung Nordwesten ins Meer fließt, und der Gou-Fluss, der nach Nordosten in den Lao-Fluss fließt. In seinem Wasser schwimmen Xiu-Fische.

    Auf der Höhe und an den Hängen lebt ein Tier namens Tongtong, das aussieht wie ein Schwein und Magen-, Gallen- und Nierensteine hat, die in der Medizin so manches Wunder wirken. Seinen Namen hat das Tier von den Geräuschen, die es von sich gibt, wenn es seinesgleichen ruft. Am Fuße des Massivs lebt in kleinen Herden ein Wasserbüffel namens Fei. Er hat den Körper eines Rindes, einen weißen Kopf und einen Schlangenschwanz. Sein Fell ist spärlich und braun über grau bis schieferfarben-schwarz gefärbt, seine Beine sind häufig vom Sprunggelenk abwärts schmutzigweiß. Wo er vorbeikommt, trocknet das Wasser. Wo er entlanggeht, vertrocknet das Gras. Und wo er erscheint, bricht eine Epidemie aus. So sagen wenigstens die Bewohner dieser Gegend.

    Jeder Ort ist ein guter Ort, seine Gedanken schweifen zu lassen, also wohl auch dieser. Auch wenn es nicht viel hilft, die grässliche Kälte zu vertreiben, gehe ich am Ufer eines kleinen, gänzlich zugefrorenen Sees auf und ab und denke darüber nach, was zu tun und was zu unterlassen sei. Und da kommt mir wie so oft der Weg in den Sinn, der, den ich gehe, und dessen Beschreibung nicht nur mir solche Mühe bereitet. Und das Sinnieren über den Weg führt mich ganz natürlich zum Anfang aller Dinge und heute zur Abwechslung auch zu meinem eigenen Anfang.

    Mit einem eingeschränkten Maß an Sicherheit werde ich am sechsundvierzigsten Tag des Sechtzigerzyklusses, im dritten Jahr des regierenden Herzogs nach der gegenwärtigen Zeitrechnung, ganz sicher aber am Tag, im Monat und Jahr Null oder Eins, je nach Betrachtungsweise und Einstellung, meiner eigenen Zeitrechnung (das entspricht dem dreißigsten November zweihundertfünfzig vor unserer Zeitrechnung) im Dorfe Daodejing im Kreis Ku des Staates Chu (im heutigen Kreis Luyi in der Provinz Henan), südlich des Flusses, der unser Land und unsere Pläne durchkreuzt und unser Leben bestimmt, im Tierkreiszeichen Fisch, das von allen Tierkreiszeichen das wichtigste ist, weil es Glück und langes Leben verspricht, und über dessen, nämlich des Fisches, reales Empfinden viel später mein Freund Zhuang und Herr Hui debattieren werden, nun endlich geboren.

    Nun wird ja ständig irgendwo irgendwer geboren, einer irgendwann angeblich nach einer merkwürdig unfleischlichen Kopulation eines, noch dazu heiligen Geistes mit einer Jungfrau, und dann logischerweise als Sohn eines Gottes, in Bethlehem oder Nazareth, ein anderer zu ebenso unbekannter Zeit, aber wohl immerhin nach einem natürlichen Geschlechtsakt natürlicher Wesen, als Haschemit in Mekka, und wieder ein anderer, auch wohl wieder auf natürliche Weise, als Shakyamuni in Lumbini. Während aber all jene und alle nicht genannten Anderen denn doch sehr gewöhnlich sind, bin ich alleine das, was mit außergewöhnlich nur ausgesprochen unzureichend bezeichnet werden kann.

    Ich bin also trotz meiner Einzigartigkeit natürlich nicht das Ergebnis einer unbefleckten Empfängnis, ich bin nicht einmal in der Lage - geschweige denn willens - mir vorzustellen, wie so etwas überhaupt funktionieren kann. Ich bin vielmehr sicher, dass meine Eltern bei meiner Erzeugung viel Freude aneinander haben. Anders möchte ich es mir jedenfalls nicht ausmalen. Und meine Mutter liegt auf einer bequemen Unterlage in den Frauengemächern eines gepflegten Anwesens, nicht im piekenden Stroh eines Stalles.

    Und dann komme ich.

    „Seid gegrüßt, werte Frau Mutter!"

    „Der kann ja sprechen!"

    „Seid gegrüßt, werte Frau Großmutter!"

    „Das ist doch unmöglich!"

    Nichts ist unmöglich!

    „Seid gegrüßt, werte Frau Muhme!"

    „Ein Wunder! Welch ein Wunder!"

    Es gibt natürlich keine Wunder. Aber warum sind Mutter, Oma und Tante so überrascht? Nur, weil ich sie, wie es sich für einen erstgeborenen Sohn, Enkel und Neffen gehört, begrüße? Ich kann doch nichts dafür, dass man andere Neugeborene erst schlagen muss, damit sie wenigstens anfangen zu schreien. Ich bin nun einmal von Anfang an anders. Und daran ändert sich auch nichts, bis ich die Welt nach Westen verlasse. Ich kann übrigens auch lesen und schreiben und überhaupt alles, was Andere auch nach viel mühseliger Lernerei entweder schlecht oder gar nicht beherrschen. Das merkt aber erst einmal niemand, da weder Bambusstreifen noch Pinsel oder Tusche zur Hand sind.

    Die aufgeregten Weiberleute rufen die Männer der Familie auf den Plan. Gerade spielen sie noch Karten und trinken ein Schäpschen, da stürzen sie herein und besehen sich die Bescherung.

    „Seid gegrüßt, werter Herr Vater!"

    „Das ist doch …"

    „Seid gegrüßt, werter Herr Großvater!"

    „Das kann doch nicht …"

    „Seid gegrüßt, werter Herr Ohm!"

    „Das gibt es doch nicht!"

    Oh doch!

    Den Herren bleibt im Nebel ihres leichten Rausches die Spucke weg. Sie machen einen etwas ratlosen und verstörten Eindruck. Als Erster fängt sich mein Vater.

    „Wieso hat das Kind einen Bart?"

    „Wieso hast du keinen Bart?"

    „Wir müssen ihm einen Namen geben!"

    „Wie soll er denn heißen?"

    „Langnase."

    „Die ist aber ganz klein und knuddelig."

    „Kullerauge."

    „Die sind aber ganz schmal und verschmitzt."

    „Schlappohr."

    „So ein Unfug."

    „Schmollmund."

    „Quark."

    Namensgebung ist immer wieder Anlass zu Streitereien, warum soll das in meiner Familie anders sein als in deiner. So dauert es also ein Weilchen, aber schließlich nennen sie mich Er, das hört sich an wie Öhr und bedeutet Ohr, und so heiße ich Li Er, weil unser Familienname Li lautet, aber unter diesem Namen kennt mich kein Schwein. Mich fragt man nicht, wie ich gerne heißen möchte, aber das ist mir egal. Später nennt man mich Lao Dan und Laozi, aber diese Namen sind für ein Neugeborenes erst einmal ungeeignet. Namen und Begriffe werden mich allerdings zeit meines ganzen Lebens auf allen Wegen begleiten.

    Nun, da ich einen Namen habe, kann ich auch eigene Entschlüsse fassen. Und während um mich herum noch ein großes Durcheinander herrscht, drehe ich mich um und verlasse den Ort und die Zeit des Geschehens. Sofort verblasst mein Name, es verblassen die Erinnerungen der Familienmitglieder an die Ereignisse, es verblasst meine ganze Existenz. Über die wird schon zu meinen Lebzeiten viel spekuliert. Dabei schaut der Betrachter in viele Richtungen und sieht überall nichts. Niemand weiß etwas Genaues, aber jeder hat Wesentliches dazu beizutragen. Ich selbst vertraue nur auf meine eigene Einschätzung und gehe meinen Weg.

    „Ist aber der Weg, den ich begehe, der absolute Weg?"

    „Das wird man sehen."

    „Und ist der Name, den ich nenne, nicht der ewige Name?"

    „Doch wohl eher nicht."

    „Ist der Anfang von Himmel und Erde unnennbar?"

    „Für die meisten menschliche Dummköpfe wohl schon."

    „Ist immerhin die Mutter aller Dinge nennbar?"

    „Man kann es ja mal versuchen."

    „Begierdelos mag man den tiefen Sinn betrachten, voll von Begierde betrachtet man sicher nur die Oberfläche."

    „Beide haben wohl einen Ursprung aber verschiedene Namen. Man mag es dunkel nennen, und dann ist das Dunkelste vom Dunklen vielleicht das Tor zum tiefen Sinn."

    „Wer aber will durch dieses Tor eintreten?"

    Genug der Spekulation. Es ist an der Zeit, mich zurückzuziehen in die Natur, in die Ruhe einsamer und zugleich aufregend schöner Gegenden. Von nun an begegne ich anderen Menschen nur noch gelegentlich und nur für kurze Zeit, und das ist auch gut so. Und irgendwann höre ich auch auf zu frieren.

    II. Der Weg an die Macht

    Mein Weg hat mich in die Tiandi-Berge geführt. Der mittlere Frühlingsmonat ist da. Abends ist es zwar meist noch ziemlich frisch, aber tagsüber verleitet einen eine angenehme Wärme schnell zu zu leichter Bekleidung. Heute scheint die Sonne und lässt die trübe Welt in hellem Glanz erstrahlen. Wohin man blickt, blüht Leben. Die Pflanzen knospen, und nicht nur die Tiere fallen zum Zwecke der Vermehrung übereinander her. Über der Wiese flattern die Schmetterlinge, und während ich sie betrachte, muss ich sogleich an meinen alten Freund Zhuang denken. Dabei fröstelt es mich ein wenig.

    Man meint mir gegenüber, dass im mittleren Frühlingsmonat der Sohn des Himmels in der Jingyang-Halle im mittleren Raum weilt. Er fährt im Fasanenwagen, an dem große blauschwarze Drachenpferde angespannt sind. Es werden grüne Flaggen aufgesteckt. Man kleidet sich in grüne Kleider und trägt grünen Nephrit. Man isst Weizen und Schaffleisch. Die Opfergefäße sind durchbrochen, um die Luft durchziehen zu lassen. Man meint mir gegenüber auch, dass man in diesem Monat die Keime und Sprossen schont. Man pflegt das Neugeborene und Junge und sorgt für alle Waisen. Der Sohn des Himmels wählt einen günstigen Tag und lässt auf den Erdaltären Gebete darbringen. All dies meint man mir gegenüber vom mittleren Frühlingsmonat.

    Ich weile nach langer Wanderung heute auf einer Lichtung im fernen Westen und genieße die Ruhe. Das Tiandi-Gebirgsmassiv liegt dreihundertfünfzig Meilen westlich des Bozhong-Gebirges (im heutigen Bezirk Wushan in der Provinz Gansu). Auf seinen Höhen wachsen Palmen und an seinen Hängen gedeihen Känguruh- und Orchideengras. Hier gibt es schwarze Riesenhörnchen mit hundeähnlichen Körpern. Ihre Füße sind sehr kräftig und enden in scharfen Krallen. Sie sind ausgesprochen lebhaft und springen mit bis zu sechs Meter langen Sätzen durch das Geäst. Zum Ruhen kommen sie in Baumhöhlen unter, und nur zur Fortpflanzungszeit bauen sie Nester aus Pflanzenteilen in den Ästen. Diese Nester können gewaltige Ausmaße annehmen und einen Durchmesser von fast zwei Metern haben. Die Nahrung der Riesenhörnchen besteht aus Nüssen, Früchten und Rinde, gelegentlich auch aus Vogeleiern. Ihre Felle kann man bearbeiten und dann zum Schutz gegen Insekten tragen.

    Außerdem gibt es hier Froschsperber. Ihre Körper ähneln denen von Hühnern. Sie haben rote Haare im Gesicht und der Rest ihrer Körper ist ganz schwarz. Der gebogene Schnabel ist von einer grauen Färbung und die Wachshaut am Schnabelansatz erscheint orangenfarben. Die Froschsperber ernähren sich überwiegend von Fröschen, wer hätte das gedacht, aber auch von großen Insekten wie Heuschrecken, sowie von Eidechsen und kleinen Vögeln. Mit ihnen heilt man Hämorrhoiden.

    Hier wächst auch Haselwurz wie wilder Ingwer. Es hat die Gestalt einer Sonnenblume und riecht nach Miwu. Füttert man damit ein Pferd, galoppiert es deutlich schneller. Außerdem kann man damit Tumore am Nacken kurieren.

    Ich bin wie immer am liebsten allein und meditiere und möchte dabei nicht gestört werden. Heute aber dringt völlig unverfroren ein junger Prinz mit seiner gesamten Entourage in meine Ruhe ein. Ich kenne ihn, das ist Ying Zheng aus dem Staate Qin, ein vorlauter und total verzogener Lümmel. Er hat eine große Schnauze und nichts dahinter, aber niemand wagt ihm zu widersprechen. Niemand?

    „Komm raus und zeig Dich, du Miniphilosoph!"

    „Troll dich, du Minikaiser!"

    „Du wagst es?"

    „Du sagst es!"

    „Holt ihn mir!"

    Eine ganze Horde ergebener Dienstlinge beginnt mich zu jagen. Sie hören meine Stimme, aber sie können mich nicht finden.

    „Wo bist du?"

    „Hier!"

    Aber das hilft ihnen auch nicht. Der Prinzenlümmel wird grün vor Wut und stampft wie ein Rumpelstilzchen auf die Erde.

    „Wenn du nicht herauskommst, lasse ich einen Dienstling erschlagen!"

    Das meint der doch jetzt nicht im Ernst, oder?

    „Ich sage das kein zweites Mal!"

    Na gut, ich habe ihn genug geärgert. Während die Dienstlinge noch Jagd auf mich machen, stehe ich dem hochwohl geborenen Jüngling und seinem beflissen bückelnden Adjutanten bereits direkt gegenüber und rette damit zumindest einem der trotteligen Dienstlinge das Leben.

    „Warum störst du meine Kreise?"

    „Das ist alles mein Land!"

    „Das ist keine Antwort auf meine Frage!"

    „Du hast mich gar nichts zu fragen, du Wurm!"

    Ein Regenwurm war schlechter Dinge, vor Einsamkeit hat er geweint.

    „Du könntest mich doch einfach in Ruhe lassen."

    „Ich lasse in Ruhe, wen ich Lust habe."

    „Ich habe gerade so schön meditiert."

    „Wozu soll das denn gut sein?"

    „Es entspannt den Körper und macht den Geist frei."

    „Es ist also völlig nutzlos!"

    „Und was machst du, wenn du nicht gerade mit anderen Leuten Streit suchst?"

    „Ich stähle meinen Körper und meinen Geist."

    „Wie machst du das?"

    „Ich trainiere meinen Körper und meine Kampfkraft mit den besten Trainern aus den Ländern der Mitte. Ich trainiere meinen Geist und meine Intelligenz und habe dazu die weisesten Gelehrten um mich versammelt und studiere ihre Lehren."

    „Soso."

    „In deinem Buch heißt es, wer sich selbst besiegt, ist unbesiegbar! Was bedeutet das?"

    „Ich kann mich nicht daran erinnern, so einen Quark verfasst zu haben. Und ein Buch habe ich schon gar nicht geschrieben."

    „Du lügst!"

    „Warum sollte ich?"

    „Und vom wem stammt der Satz, wenn alle das Schöne als schön erkennen, so ist dadurch schon das Hässliche gesetzt?"

    „Woher soll ich das wissen?"

    „Und der Satz, wenn alle das Gute als gut erkennen, so ist dadurch schon das Schlechte gesetzt?"

    „Von dir oder einem deiner Weisen?"

    „Das wäre zwar schön, entspricht aber leider nicht den Tatsachen. Dann hast du also auch keinen der folgenden Sätze gesagt: Sein und Nichtsein erzeugen einander."

    „Nein."

    „Schwer und Leicht vollenden einander."

    „Nein."

    „Lang und Kurz gestalten einander."

    „Nein."

    „Hoch und Tief verkehren einander."

    „Nein."

    „Klang und Ton stimmen einander."

    „Nein."

    „Vorher und Nachher folgen einander."

    „Und nochmal nein."

    „Und auch keinen der folgenden Sätze: Der Weise wirkt ohne Handeln."

    „Nein."

    „Er belehrt ohne Worte."

    „Wie das denn?"

    „Alle Wesen treten hervor, und er verweigert sich ihnen nicht."

    „Nein."

    „Er erzeugt und besitzt nicht."

    „Hmh."

    „Er wirkt und behält nicht."

    „Hmh."

    „Ist das Werk vollbracht, so nimmt er nichts dafür. Und weil er nichts nimmt, verliert er auch nichts."

    „Das immerhin hätte von mir sein können."

    „Du willst mir also keine klare Antwort geben?"

    „Ich denke, meine Antworten waren klar und deutlich."

    Er schnaubt. Bei all seinem körperlichen Training und all seinen gelehrigen Studien ist die Besänftigung seines aufbrausenden Charakters wohl etwas zu kurz gekommen.

    „Wer mich anlügt, muss bestraft werden!"

    „Bei wem hast du das denn gelernt?"

    „Ich habe mich intensiv mit der Lehre der Legisten vertraut gemacht!"

    „Ich bin schwer beeindruckt!"

    Ohne Warnung schlägt der Adjutant mir mitten ins Gesicht. Ich halte ihm die andere Wange hin, und er hält inne.

    „Wehr dich, du Feigling!"

    „Ich schlage mich nicht nur nicht mit den Adjutanten aufgeblasener Prinzlinge!"

    Wieder schlägt der Adjutant ansatzlos zu. Ich werde immer ruhiger. Wenn man eine ungerechte Strafe erhält, darf man sich zwar wehren, aber ich finde Gewaltanwendung einfach ekelhaft.

    „Verneige dich vor mir, Du Hund!"

    „Wenn du noch einmal Hund zu mir sagst, fange ich an zu bellen."

    Humor ist auch nicht gerade seine Stärke. Dabei will ich ihn nur mit einem harmlosen Witz zum Lächeln veranlassen. Aber er lächelt nicht.

    „Das sollst du büßen!"

    Inzwischen brechen auch die letzten Dienstlinge ihre erfolglose Suche nach mir ab, stehen um uns herum und feuern den Adjutanten ihres verehrten Prinzen an.

    „Gib's ihm!"

    „Immer auf die Schnauze!"

    „Mach ihn fertig!"

    Ich bin zwar immer noch eher ruhig und auch nicht besonders ängstlich, aber all die aufgeregten Claqueure rund um ihren schäumenden Lümmel von Herrn nebst gewalttätigen Adjutanten lassen mich schon ein historisches Schaudern verspüren. Zum Nachdenken ist jetzt aber keine Zeit, hier regiert die reine Physis. Und so beziehe ich eine Tracht Prügel, die sich gewaschen hat.

    Gut jetzt! Das muss doch langweilig sein, wenn man sich nicht wehrt. Aber auch ein wehrloses Opfer will erst einmal ein wenig traktiert werden. Hätte ich im Angesicht der rohen Gewalt nicht doch besser meinen Schnabel halten sollen? Oh nein, so einfach wollen wir es den Gewalttätigen dieser Welt dann doch nicht machen.

    Endlich ziehen sie ab. Ich habe zwei blaue Augen, meine Lippe ist aufgeplatzt und blutet, mein Nasenbein ist gebrochen, mein Kopf brummt und mein ganzer Körper ist voller blauer Flecken. Aber das alles tut nur eine Weile weh und vergeht.

    Ach, was sind die Menschen schon in ihrer Jugend dämlich! Und dieser aufgeblasene Lümmel will Kaiser werden. Na, herzlichen Glückwunsch!

    III. Der Weg ins Verderben

    Mein Weg hat mich in die Ganzao-Berge geführt. Der letzte Frühlingsmonat ist da, und es wird immer wärmer. Und obwohl es ein wenig regnet, genieße ich die mich umgebende Natur und lasse meinen Gedanken freien Lauf. Bald wird der Frühling zu Ende gehen und die Hitze des Sommers Einzug halten.

    Manche behaupten mir gegenüber, dass im letzten Frühlingsmonat der Befehl an den Aufseher der Boote geht, die Boote umzukehren. Nachdem er sie fünfmal umgekehrt und fünfmal wieder aufgerichtet hat, berichtet er, dass die Boote für den Sohn des Himmels zum Gebrauch bereit stehen. Der Sohn des Himmels besteigt nun zuerst wieder ein Schiff und bringt einen Stör in den hinteren Gemächern des Ahnentempels zum Opfer dar und fleht um Fruchtbarkeit für die Weizenernte. In diesem Monat regt sich die Lebenskraft aufs stärkste, die Kraft des Lichten steigt empor und dehnt sich aus. Alles Wachsende kommt hervor. Die Keime kommen alle ans Licht. Es geziemt sich nicht, zu dieser Zeit Steuern einzutreiben. Manche behaupten mir gegenüber auch, dass der Sohn des Himmels den Einfluss seiner Tugend verbreitet und Gnade ausübt. Er befiehlt den Beamten, die Scheunen und Keller zu öffnen, um den Armen und Bedürftigen in ihrer Not und ihrem Mangel zu helfen. Es werden die Schatzkammern geöffnet und Seidenstoffe hervorgeholt, die an die Fürsten im ganzen Reich zur Aufmunterung gesandt werden. Er erkundigt sich nach berühmten Gelehrten und ehrt die Würdigen. All dies behaupten manche mir gegenüber vom letzten Frühlingsmonat.

    Dort, wo der gelbe Fluss von Norden kommend abrupt seine Richtung nach Osten ändert, erheben sich fünfunddreißig Meilen westlich des Quzhu-Gebirges die Ganzao-Berge (im heutigen Bezirk Yongji in der Provinz Shanxi). An diesem Ort entspringt der Fluss Gong, der in westlicher Richtung zum Gelben Fluss fließt. In den Höhenlagen wächst die Duftzeder, eine Laubbaumart aus der Familie der Mahagonigewächse, die nicht nur so heißt, sondern auch tatsächlich gut riecht und außerdem Schädlinge fernhält. In tieferen Lagen wächst ein immergrüner mehrjähriger Strauch, der bis zu fünf Meter hoch wachsen kann. Er fühlt sich im gleichen Lebensraum wie Sanddorn heimisch und besitzt auch die Fähigkeit, arme Böden zu verbessern und loses abschüssiges Gelände zu stabilisieren. Seine Wurzeln ähneln denen der Kui-Sonnenblume, aber er hat mandelförmige Blätter, gelbe Blüten und Hülsenfrüchte. Diese Pflanze kann Augenleiden heilen.

    In den Ganzao-Bergen leben Malaienbären, die aussehen wie ein großer Marder mit Streifen auf dem Kopf. Sie haben ein kurzhaariges, schwarzes Fell mit einem weißlichen oder gelblichen, halbmondförmigen Fleck auf der Brust. Ihre kurze Schnauze hat eine hellgelbliche Färbung, die sich oft bis über die Augen hinaus ausdehnt. Charakteristisch sind die kleinen und runden Ohren, ihre lange Zunge, die großen, gebogenen und spitzen Krallen sowie die nackten Sohlen der Tatzen. Sie sind nachtaktiv, tagsüber schlafen sie in den Bäumen, hoch über dem Erdboden. Sie brechen oder verbiegen Äste, um daraus ein Nest oder eine Aussichtsplattform zu errichten, manchmal kann man sie auch beim Sonnenbaden beobachten. Am Boden bewegen sie sich wie alle Bären als Sohlengänger fort. Im Gegensatz zu vielen anderen Bärenarten halten sie keine Winterruhe, da ihre Nahrungsquellen das ganze Jahr über verfügbar sind.

    Malaienbären sind Allesfresser, wobei Insekten und andere Wirbellose den Hauptbestandteil der Nahrung ausmachen. Mit ihren Krallen reißen sie die Baumrinde ab, um an Bienen sowie deren Honig und an andere baumbewohnende Tiere zu gelangen. Auch Termiten verzehren sie gerne, zu diesem Zweck brechen sie deren Baue auf und halten die Vorderpfoten abwechselnd hinein. Sobald genug Beutetiere darauf geklettert sind, schlecken sie die Pranken ab. Darüber hinaus machen Früchte einen großen Teil ihrer Nahrung aus. Selten verzehren sie auch kleine Wirbeltiere wie Nagetiere, Vögel und Echsen und manchmal auch Aas. Richtig zubereitet kann man mit ihnen Nackentumore behandeln.

    Ich sitze bei leichtem Nieselregen unter dem Schutz einer Zeder und pflege der Muße. Ich bin zwar an Jahren immer noch ziemlich jung aber jetzt schon weiser als alle, die vor mir gelebt haben und nach mir leben werden. Dabei ist Weisheit nichts, wonach ich strebe. Ich strebe allein nach Ruhe und Einklang mit der Natur, falls man das bei mir überhaupt Streben nennen mag.

    Heute stört mich Herr Lü. Er ist berühmt für seinen Reichtum, seine Macht und seinen Einfluss. Was mag er wollen?

    „Ich grüße dich, alter Meister!"

    „Alt bin ich nicht, und ein Meister will ich nicht sein."

    „Tu doch nicht so bescheiden!"

    „Ich bin wie ich bin. Du magst es gerne bescheiden nennen."

    „Nun gut."

    „Was willst du? Du störst."

    „Ich habe Angst."

    „Dann sind deine Erziehungsversuche also gescheitert."

    „Ich hätte es ahnen müssen. Wie will man auch jemand belehren, der schon als junger Mensch wehrlose Philosophen verprügeln lässt."

    „Und jetzt?"

    „Ich bin auf der Flucht."

    „Und was willst du hier?"

    „Zuspruch."

    „Da könntest du dich doch besser an deine eigenen Werke wenden."

    „Da steht zwar alles Wissenswerte drin, aber es hilft mir trotzdem nichts."

    „Das ist auch nicht verwunderlich."

    „Wieso?"

    „Die Frage hast du dir eigentlich schon selbst beantwortet."

    „Was soll ich tun?"

    „Schweigen und verschwinden."

    „Zwölf Zyklen, acht Betrachtungen und sechs Erörterungen, und alles vergeblich."

    „Du sollst nicht einmal laut denken."

    „Mir kommt immer wieder mein alter Freund, der Wagenlenker Qing, in den Sinn."

    „Wieso das denn?"

    „Er hat mit seinem Herrn nur eine kleine Ausfahrt in den Park gemacht."

    „Ja und?"

    „Sie kamen an eine Brücke und plötzlich scheuten die Pferde."

    „Weshalb?"

    „Das sollte Qing herausfinden. Sein Herr schickte ihn zur Inspektion der Brücke."

    „Und dann?"

    „Qing schaute unter der Brücke nach und entdeckte seinen alten Freund Yu, der so tat, als sei er tot, und der, wie es aussah, Übles im Schilde führte."

    „Er wollte wohl den Herrn ermorden?"

    „So ist es. Daraus ergab sich aber ein Dilemma für Qing: Entweder er meldete seine Entdeckung und verleugnete seine Freundschaft, oder er verschwieg seine Entdeckung und verleugnete sein Dienstverhältnis."

    „Wie hat er sich entschieden?"

    „Er beging Selbstmord."

    „Das war dann doch wohl etwas übertrieben."

    „Er wusste keine andere Lösung."

    „Und warum musst du dauernd an diese merkwürdige Geschichte denken?"

    „Ich befinde mich wohl auch in einem Dilemma."

    „Du bist den Herrschenden einfach nur ein wenig zu mächtig geworden."

    „Was kann ich tun?"

    „Warum fragst du mich das immer wieder?"

    „Du bist der Weiseste weit und breit."

    „Das stimmt zwar, aber dir ist nicht zu helfen. Entweder du wirst ermordet, oder du bringst dich selbst um."

    „Zuspruch ist das ja nun nicht gerade."

    „Warum hast du ihn bei mir erwartet? Du hättest die Tüchtigen nicht bevorzugen sollen, und niemand hätte Streit mit dir."

    „Die Tüchtigen sind aber doch der Rückhalt des Staatswesens."

    „Wenn du meinst. Dann hättest du wenigstens die Kostbarkeiten nicht schätzen sollen, und niemand wollte dir etwas stehlen."

    „Die Kostbarkeiten sind aber doch, wonach wir alle streben."

    „Ich zumindest strebe nicht danach. Nichts Begehrenswertes hättest du zeigen dürfen, und niemandes Herz wäre wirr geworden."

    „Lechzt nicht auch dein Herz nach den Wonnen der Begierde?"

    „Selbst wenn dem so wäre, würde ich es dir zuallerletzt zugeben. Denn der Weise regiert auf folgende Weise: Er leert die Herzen der Menschen und füllt ihre Bäuche. Er schwächt ihren Willen und stärkt ihre Knochen und macht, dass alle ohne Wissen und ohne Wünsche bleiben, und sorgt dafür, dass jene Wissenden nicht zu handeln wagen. Ohne Tätigkeit kommt so alles in Ordnung."

    „Das verstehe ich nicht."

    „Das wundert mich nicht."

    „Das ganze Gespräch mit dir ist wenig erbaulich."

    „Berichte das bitte weiter. Je weniger man von mir erwartet desto besser."

    Und so zieht er endlich wieder ab, seinem traurigen Ende entgegen. Und mich umgibt, was ich am höchsten schätze, wohltuende Ruhe. Und so sitze ich wieder bei leichtem Nieselregen unter dem Schutz einer Zeder und pflege der Muße.

    IV. Der Weg des Gesetzes

    Mein Weg hat mich in die Beixiao-Berge geführt. Der erste Sommermonat ist da, und schon haben wir den Salat. Es ist so warm, dass ich nackt durch das Gelände laufen möchte. Immerhin ist die Zeit des Frierens für die nächsten Monate vorbei. Allerdings macht diese elende Hitze auch kein rechtes Vergnügen. Aber mir kann es das Wetter eh nie ganz recht machen.

    Es wird mir gegenüber behauptet, dass die Förster im ersten Sommermonat den Befehl erhalten, die Gefilde und Ebenen zu durchreisen und die Bauern anzufeuern und das Volk zu ermahnen, die Zeit nicht ungenützt vorübergehen zu lassen. Es wird weiterhin behauptet, dass der Unterrichtsminister den Befehl erhält, in den Städten und Dörfern herumzureisen, um die Bauern zu fleißiger Arbeit anzuhalten und zu verhindern, dass sie sich in den Städten herumtreiben. In diesem Monat verjagt man die wilden Tiere, damit sie das Korn nicht schädigen, doch sollen keine großen Jagden stattfinden. All dies wird mir gegenüber vom ersten Sommermonat behauptet.

    Dreihundert Meilen nördlich der Gouyu-Berge und dreihundertfünfzig Meilen südlich der Liangqu-Berge erhebt sich das Beixiao-Massiv (im heutigen Bezirk Lingqiu in der Provinz Shanxi). Hier gibt es verhältnismäßig wenig Felsen. An den Nordhängen wird Jaspis gewonnen, an den Südhängen Jade. Hier lebt ein ganz weißes Tier namens Dugu, das wie ein Tiger aussieht, aber einen Kopf wie ein Hund, einen Schweif wie ein Pferd und Haare wie ein Schwein hat. Sein dickes und langes Fell schützt es vor den niedrigen Temperaturen. Im Sommer ist das Fell allerdings wesentlich kürzer als im Winter. Darunter verbirgt sich am Bauch und an den Flanken eine bis zu fünf Zentimeter dicke Fettschicht, die ihm zusätzlich hilft, extreme Kälte zu überleben. Das Dugu lebt normalerweise als Einzelgänger, markiert sein Revier mit Urin und Kratzspuren und ist vorwiegend nachtaktiv. Seine Beutetiere sind Hirsche, Schweine und Rehe. Mit seinem kräftigen Körper kann es sehr schwere Beute über weite Strecken tragen, um sie an einem ruhigen Ort zu fressen oder aufzubewahren.

    Das Dugu verbringt viel Zeit mit der Jagd, da nur ein kleiner Teil seiner Angriffe erfolgreich ist. Ein solcher Angriff beginnt mit dem Anschleichen an die Beute. Ist es nahe genug herangekommen, springt es mit einem gewaltigen Satz von hinten auf das Opfer, um seine Eckzähne in dessen Nacken zu schlagen. Mit seinen Hinterbeinen steht es fest auf dem Boden, um das Tier nach unten zu drücken. Größere Tiere werden danach mit einem Kehlenbiss getötet, kleinere Beutetiere sterben bereits an den Verletzungen im Nacken.

    Außerdem lebt hier der Vogel Banmao, ein Wachtelkauz, der wie eine Krähe aussieht und ein menschlich anmutendes Gesicht hat. Er schläft am Tag und fliegt in der Nacht. Sein Gefieder ist braungelb gestreift, der Rücken etwas dunkler. Er wird vierzehn bis siebzehn Zentimeter groß und hat eine gelbe Iris. Zu seiner Nahrung zählen Mäuse und junge Vögel, die er gerne auch aus den Nestern holt. Mitunter sucht der Wachtelkauz auch die Rinde der Bäume nach Insekten ab. Sein Weibchen legt drei bis fünf Eier am Ende des Frühlings. Mit ihm behandelt man erfolgreich Fieber.

    In diesen Bergen entspringt der Qin-Fluss, der in östlicher Richtung in den Mangze-See mündet. Hier oben ist er noch ein Bach, in den ich gedankenversunken Kieselsteine werfe. Die machen ein so beruhigendes Plopp beim Eintauchen. Und wieder werde ich gestört, diesmal von Herrn Han, der die Frechheit hat, in seinem lausigen Werk so zu tun, als würde er meine Gedanken kommentieren.

    „Seid gegrüßt, alter Meister!"

    Welch eine dämliche Anrede!

    „Warum lässt du mich nicht in Ruhe und widmest dich deinen Machwerken?"

    „Dann hast du also schon davon gehört?"

    „Ich weiß mehr, als du dir vorstellen kannst!"

    Auch wenn es mir manchmal eher wie eine Last vorkommt.

    „Ich möchte deine Meinung zu meinen Kommentaren hören."

    „Ach ja? Und wenn ich zu dem Unfug keine Meinung habe?"

    „Sei doch nicht so grantig! Ich habe gehört, du seist ganz nett."

    „Hör auf, dich einzuschleimen! Das macht mich erst richtig grantig. Du bist doch auch nur ein Dieb fremder Gedanken."

    „Wieso das denn?"

    „Dem Herrn Shang hast du den Einsatz von Gesetzen unter intensiver Anwendung von Bestrafung und Belohnung geklaut."

    „Das ist ein wichtiger Ansatz für eine gute Regierung."

    „Dem ersten Herrn Shen hast du die Methode politischen Handelns geklaut."

    „Den Gedanken habe ich mir geliehen."

    „Und dem zweiten Herrn Shen hast du die Ausübung von Macht geklaut."

    „Die Ausübung von Macht ist eine Erfahrungstatsache. Und sei doch nicht gleich eingeschnappt! Kennst du eigentlich folgendes Sprichwort aus alter Zeit? Regieren ist wie Haare waschen, man verliert zwar Haare dabei, aber man muss es tun."

    „In alter Zeit gab es keine leeren Sprüche. Ein Weiser aus alter Zeit sprach: Man stolpert nicht über einen Berg, aber über einen Ameisenhaufen."

    „Mir ist aber wichtig, die richtige Art zu Herrschen zu beschreiben."

    „Mir nicht. Herrschen ist schon an sich ein Fehler."

    „Aber ohne Herrschen geht es nicht!"

    „Wer sagt das?"

    „Ich! Und ich gebe dir gerne ein Beispiel für vorbildliches Herrschen."

    „Bitte nicht!"

    „Doch, doch! Vorbildliches Herrschen bedarf eines klarsichtigen Herrschers."

    „So etwas Ähnliches hatte ich schon befürchtet."

    „Der Weg eines klarsichtigen Herrschers entspricht nun der Antwort, die Herr Yu Herrn Fu gab."

    „Was soll das denn bedeuten?"

    „Hört sich ein klarsichtiger Herrscher Reden an, so lobt er die Beredsamkeit."

    „Vielleicht sollte er das Geschwätz besser unterbinden."

    „Beobachtet er Verhaltensweisen, so würdigt er deren Tragweite."

    „Das hört sich sehr beeindruckend an."

    „Deshalb gehen Minister, Beamte und das Volk in ihren grundsätzlichen Reden auf alle Umstände ein und gehen in die Tiefe. In ihrem persönlichen Verhalten entfernen sie sich von der gemeinen Welt."

    „Das sollten sie vielleicht besser nicht tun."

    „So antwortet Herr Tian dem König von Jing, so macht Herr Mo Weihen aus Holz und so baute der Sänger Gui den Wu-Palast. Medizin oder praktische Worte, klarsichtige Herrscher verstehen sich darauf."

    „Und? Was hat das mit der Antwort zu tun, die Herr Yu Herrn Fu gab?"

    „Herr Fu verwaltete die Stadt Shanfu."

    „Welch unbedeutendes Kaff."

    „Mag sein. Aber das spielt hier auch keine Rolle. Herr Yu besuchte ihn und erkundigte sich: Was seid ihr so abgemagert? Herr Fu antwortete: Der Fürst hat meine Untätigkeit ignoriert und mir befohlen, diese Stadt zu verwalten. Die Amtsgeschäfte machen mir Stress und Sorgen, deshalb bin ich abgemagert."

    „Da hätte er wohl besser auf das Amt verzichtet."

    „Hat er aber nicht. Herr Yu antwortete ihm: Einst schlug der legendäre Herrscher Shun die fünfsaitige Zither, sang das Lied vom Südwind, und alle Welt war wohlgeordnet. Ihr macht euch Sorgen über die Verwaltung dieser unwichtigen Stadt. Was wäre nur, wenn ihr die ganze Welt regieren müsstet? Hat man eine Strategie zur Lenkung der Welt, dann sitzt man oben in der Halle, hat den Teint einer Jungfrau, und trotzdem ist es der Regierung nicht abträglich. Hat man keine Strategie zur Lenkung der Welt, dann kann man sich persönlich verausgaben und abmagern, und es bringt trotzdem keinen Nutzen."

    „Also alles nur eine Frage der richtigen Strategie."

    „So ist es."

    „Na prima. Dann kannst du jetzt ja wieder verschwinden."

    „Erst erzähle ich dir noch einen Witz."

    „Auch das noch. Bitte verschone mich."

    „Auf keinen Fall. Ein Mann aus Zheng wollte Schuhe kaufen. Er nahm zuhause an seinem Fuß Maß, vergaß das Maß aber, als er auf den Markt ging. Dort fand er Schuhe, die er kaufen wollte. Da er aber das Maß vergessen hatte, ging er erst wieder nach Hause zurück, um es zu holen. Als er wieder zum Markt kam, war dieser bereits aus, und er bekam keine Schuhe mehr. Jemand fragte: Warum hast du sie nicht anprobiert. Er antwortete: Ich glaube lieber dem Maß als mir selbst."

    „Du kennst wirklich keine Gnade."

    „Eine Anekdote hab' ich noch."

    „Warum hilft mir bloß keiner?"

    „Ein Bauer aus Song hatte einen Edelstein gefunden und wollte ihn dem Herrn Han darbringen. Herr Han nahm ihn nicht an. Der Bauer sprach: Das ist ein Schatz, ein Gerät für einen edlen Herrn wie euch und nichts für einen kleinen Mann wie mich. Herr Han antwortete: Für dich ist der Edelstein ein Schatz, für mich ist das Nichtannehmen des Edelsteins ein Schatz. Das ist nun ein gutes Beispiel für die Forderung des alten Meisters: Das Nichtbegehren begehren und schwer zu erlangende Güter nicht überschätzen."

    „Der alte Meister fordert dich auf zu verschwinden."

    „Eine Anekdote hab' ich noch."

    „Nimmt denn das überhaupt kein Ende?"

    „Ein Bauer aus Song bestellte seinen Acker, in dessen Mitte sich ein alter Baumstumpf befand. Eine Hase rannte mit hoher Geschwindigkeit über den Acker, knallte gegen den Baumstumpf und brach sich dabei das Genick. Daraufhin gab der Bauer die Bestellung seines Ackers auf und wartete lieber auf den nächsten blöden Hasen. Ein solcher kam aber nie und er wurde von den Leuten in Song verspottet. Wenn man aber die Leute der Gegenwart mit den Methoden der Vergangenheit regieren will, dann verhält man sich genau wie dieser Bauer."

    „Ich sagte bereits, dass ich mich nicht für deine Ansichten zur Regiereritis interessiere."

    „Schade."

    „Ist nicht der Weg ein unerschöpfliches Gefäß, abgründig wie der Urahn aller Dinge."

    „Was soll das denn jetzt?"

    „Mildert er nicht ihre Schärfe? Löst er nicht ihre Wirrsale? Mäßigt er nicht ihren Glanz? Vereinigt er sich nicht mit ihrem Staub?"

    „Du redest irre."

    „Ist er nicht tief und doch wie wirklich? Wessen Sohn er auch sei, er scheint früher zu sein als der himmlische Herrscher."

    „Nun reicht es aber wirklich."

    „Warum bist du nur so bockig und uneinsichtig?"

    „Ich bin weder bockig noch uneinsichtig."

    „Da hast du den Beweis. Wenn du jetzt nicht verschwindest,

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