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Meine SoulFood Journey: 14 Essstörungen, 14 Heilungswege
Meine SoulFood Journey: 14 Essstörungen, 14 Heilungswege
Meine SoulFood Journey: 14 Essstörungen, 14 Heilungswege
Ebook478 pages6 hours

Meine SoulFood Journey: 14 Essstörungen, 14 Heilungswege

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About this ebook

In diesem Buch geben 14 Autor*innen authentisch, offen und ehrlich tiefe Einblicke in ihren persönlichen Weg durch die eigene Essstörung.

Wir stehen mit diesem Buch dafür auf, dass Heilung möglich ist und setzen somit ein wichtiges Zeichen für alle Menschen mit einer Essstörung. Mit unterschiedlichen Geschichten zeigen wir, dass jede Frau und jeder Mann eine Essstörung überwinden kann.

Auf mehr als 300 Seiten erwarten dich 14 individuelle Geschichten von Frauen und Männern, für die ihre Essstörung als Wegweiser zurück zu sich selbst und zu innerem Frieden gedient hat. Du kannst dich von ihren Geschichten inspirieren lassen, um mutig deinen eigenen Weg zu gehen.

Mit dem Buch sagen wir dir auch: "Du bist nicht allein". Du gewinnst durch die 14 Geschichten neue Selbsterkenntnisse für dich und entwickelst echte Neugier, Offenheit und Freude für das, was du durch deine Essstörung auf deinem Lebensweg entdecken darfst. Du legst deine innere Kampfhaltung gegenüber der Essstörung und somit dir selbst gegenüber ab, um Schritt für Schritt in deinem eigenen Tempo inneren Frieden und Freiheit zu erlangen.

Die Geschichten handeln von Perfektionismus, Selbsthass, Kontrolle, Essen, Nicht-Essen, Kalorien-Tracking, Triggern, verzerrter Selbstwahrnehmung, Gefühlswelten und Erwartungen an sich selbst und den eigenen Körper. Immer von heute aus gesehen, aus einer reflektierten Perspektive. Uns geht es um die tiefgründigen Themen, mit denen wir uns auf dem Weg durch eine Essstörung beschäftigen dürfen. Die oftmals in der Tiefe unseres Unterbewusstseins verborgen liegen.

Folgende Autor*innen teilen ihre Geschichten:

Lea Gericke
Mounia Jayawanth
Marek Harloff
Juliane Richter
Franziska Krusche
Oona Mathys
Nila Conzen
Lisa Heinig
Anke Glaßmeyer
Noemi Christoph
Aron Boks
Sophie Rudolph
Bernadette Salini
Kira Siefert
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateJun 18, 2021
ISBN9783347309432
Meine SoulFood Journey: 14 Essstörungen, 14 Heilungswege

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    Book preview

    Meine SoulFood Journey - Kira Siefert

    Hey beautiful Soul!

    von Kira Siefert, Gründern von SoulFood Journey

    Schön, dass du dich für dieses Buch entschieden hast und es jetzt in deinen Händen hältst. Egal ob du Betroffene*r einer Essstörung bist, die Mutter oder der Vater einer betroffenen Person, therapeutisch mit essgestörten Menschen arbeitest oder persönlich gar nichts mit dem Thema am Hut hast – dieses Buch ist wichtig. Für dich. Für dein Umfeld. Für unsere Gesellschaft. Für die Welt.

    Mein Name ist Kira und ich bin die Gründerin von SoulFood Journey, einer ganzheitlichen Coaching-Plattform, bei der wir Frauen und Männer mit einer Essstörung nach einer ambulanten oder stationären Therapie alltagsnah und praxisorientiert auf ihrem Heilungsweg begleiten. Entstanden ist SoulFood Journey durch meine eigene Geschichte, die ich 2017 angefangen habe, im gleichnamigen Podcast öffentlich zu teilen. Der Podcast ist mittlerweile zum Sprachrohr für Menschen mit Essstörungen in der großen, weiten Podcast-Welt geworden, da ich neben Solo-Folgen gerne Menschen zu ihrer persönlichen Geschichte interviewe.

    Mir geht es darum, dass unsere Gesellschaft einerseits ganzheitlich über die Tiefe von Essstörungen aufgeklärt wird, andererseits ist es mein größter Wunsch, dass jede Frau sowie jeder Mann mit einer Essstörung an die eigene Heilung glaubt. Die meisten kämpfen jahrzehntelang gegen ihre Essstörung und somit gegen sich selbst in der Hoffnung, dass sie das Symptom eines Tages durch diesen Kampf loswerden. Doch wie du bestimmt weißt, weil du es vielleicht selbst schon mal erlebt hast, erzeugt Druck auch immer Gegendruck. Wenn wir gegen eine Essstörung ankämpfen, die Teil unserer unterbewussten Identität ist, dann wird sie sich angegriffen fühlen und wehren. Sie wird ihre Existenz verteidigen und so wie der Mensch an sich versuchen zu überleben. Doch auch wenn sich der Weg durch die Essstörung wie eine „never ending story" anfühlt – es gibt einen Weg und dieser ist mit Sicherheit so individuell wie jeder Mensch auf unserer Erde.

    Deshalb habe ich mich mit 13 Gleichgesinnten zusammengetan, um dieses Buch zu schreiben. In Meine SoulFood Journey teilen wir insgesamt 14 individuelle Heilungswege durch unterschiedliche Formen der Essstörung. Wir haben bewusst darauf geachtet, keine konkreten Gewichtsangaben zu verwenden, weil wir möchten, dass du jede Geschichte von Anfang bis zum Ende liest. Auch wenn Trigger auf dem eigenen Heilungsweg wichtige Hinweisschilder sind, wo wir noch mal etwas genauer hinschauen dürfen, möchten wir dir den Lesefluss so einfach wie möglich machen.

    Die Geschichten sind alphabetisch nach dem Vornamen der Autor*innen geordnet, das heißt, du kannst dein Herz entscheiden lassen, mit welcher Geschichte du beginnst. Und wann du mit welcher Geschichte weitermachen möchtest. Da es sich um authentische und individuelle Geschichten handelt, sind die Texte von der Sprache und dem Stil her komplett unterschiedlich. Dadurch bekommst du einen sehr persönlichen und tiefen Einblick in das Leben, die Welt und den Heilungsprozess jeder einzelnen Person. Es gibt Geschichten, die zu Tränen rühren, andere sind wie spannende Romane geschrieben, die dich in eine andere Welt entführen. Doch ganz egal, was der einzelne Text in dir auslöst oder auch nicht, lass die Worte in dein Herz fließen und dir ein Spiegel deiner eigenen Innenwelt sein.

    Heilung ist nicht der Moment, in dem sich das Symptom namens Essstörung nie wieder auf deiner Verhaltensebene zeigt. Heilung ist das, was geschieht, wenn du dich auf die Erfahrung einer Essstörung einlässt und bereit bist, hinter das Symptom zu blicken. Eine Essstörung ist der Hilferuf deiner eigenen, tief verwurzelten Seele. Sie versucht dir etwas Wichtiges mitzuteilen. Solange du kämpfst, sie versuchst loszuwerden oder einfach immer wieder unterdrückst, kann sie ihre wahre Aufgabe nicht erledigen. Wenn du dich ihr jedoch zuwendest, ihr zuhörst und Mitgefühl entgegenbringst, dann könnt ihr auf lange Sicht eine friedliche Beziehung miteinander aufbauen. Dann kannst du dich ganz bewusst von ihr distanzieren.

    Wir können nur das heilen, was uns bewusst ist und was wir an der Oberfläche sehen können. Alles, was sich unterhalb der Wasseroberfläche abspielt, kannst du im Moment auch noch nicht heilen. Jedes Thema bekommt seine Zeit genau dann, wenn du bereits dazu bist, darin die Möglichkeit für Heilung zu erkennen.

    Was du jetzt und in jedem einzelnen Moment tun kannst, ist, dich für Heilung zu entscheiden. Und zwar nicht mit dem Kopf, sondern mit deinem Herzen. Lege jetzt deine Hände auf dein Herz und spüre deinen Herzschlag. Mach dir in diesem Moment bewusst, dass dein Herz in deinem ganz eigenen Lebensrhythmus für dich schlägt. Ohne dass du dich dafür anstrengen oder irgendetwas tun musst. Dein Herz sagt dir mit jedem Schlag: „Du heilst, „du heilst, „du heilst"…

    Fang an auf dein Herz zu hören, erkenne in jedem Moment die Möglichkeit zu heilen und lass dich von uns dazu inspirieren und ermutigen, dich mit Mut, Offenheit und Neugier auf deine eigene Journey einzulassen.

    Ich wünsche dir unvergessliche Momente mit unserem Buch und freue mich schon jetzt unendlich darauf, dich in unserer Facebook Gruppe zu begrüßen, kennenzulernen und mich mit dir auszutauschen. Und wenn dir das Buch gefallen hat, empfehle es gerne weiter.

    Ein Hoch auf Uns!

    Vorwort

    Aus fachlicher Sicht, aber so gar nicht neutral

    von Jennifer Schneider, Psychologische Psychotherapeutin

    Über psychische Erkrankungen im Allgemeinen – und über Essstörungen im Speziellen – gibt es sehr viel Fachliteratur. Während meines Studiums habe ich mich aber oft gefragt, warum wir uns eigentlich von einem Prof. Dr. Sowieso erklären lassen, wie Essstörungen funktionieren. Wo doch – zumindest statistisch gesehen – im Hörsaal vermutlich einige Expert*innen sitzen: Innerhalb eines Zeitraums von 12 Monaten erleben etwa 25% aller Erwachsenen Symptome einer psychischen Erkrankung – und über das ganze Leben betrachtet jede*r Zweite. Ich habe nie verstanden, warum man uns Studierenden nur bei ganz seltenen Gelegenheiten mal einen „echten psychisch kranken Menschen" vorstellt. Als sei das eine totale Rarität. Von wegen.

    Mein Traum war: ein Diagnosen-T-Shirt für alle Psychologiestudent*innen. Sowas wie: „Frag mich, wenn du wissen willst, wie sich F33.1 anfühlt". Ich habe mir gewünscht, dass unsere Geschichten kein Tabu mehr sind, kein Stigma, kein Makel – sondern unsere ganz persönliche Expertise, die wir gern mit anderen teilen. Und eine enorme Ressource: die Erfahrung, dass man heilen kann. Dass es Hilfe und Hoffnung gibt.

    Es war sowas von an der Zeit, dass die echten Expert*innen zu Wort kommen.

    Und ich bin froh, dass du dieses Buch in der Hand hältst.

    Denn viele von uns Fachleuten, Betroffenen und Angehörigen haben vielleicht schon zu viel Neutrales gehört und gelesen. Zu viel fachlich Fundiertes. So viel, dass es uns erscheint, als sei „eine Essstörung" ein leicht greifbares Problem. Rational erklärbar, in Kategorien einzuteilen, messbar.

    Und als läge die Lösung auf der Hand – mit klaren Lösungsansätzen: manualisierte Therapien, Essenspläne, Zielgewichte und Gewichtskorridore.

    Letzten Endes schafft das Distanz, wo es Verbundenheit bräuchte. Orientierung am Außen, wo es endlich mal um das Eigene gehen müsste. Es schafft bei den Betroffenen mehr Struktur, wo eigentlich lebendiges Chaos fehlt.

    Klingt vertraut? Kein Wunder. Das ist das Prinzip, nach dem die Essstörung funktioniert. Sie schafft ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle – und wird selbst unkontrollierbar. Sie ermöglicht Erfolgserlebnisse – und irgendwann nur noch Angst vor Verlust und Versagen. Sie ist etwas, was man ganz für sich allein hat, schafft ein Gefühl von Autonomie und Identität – und damit entfremdet sie einen vom Rest der Welt. „Nicht essen zu müssen oder „alles essen zu können, das fühlt sich erst mal wie ganz große Freiheit an – und wird schnell zum Gefängnis.

    Für Außenstehende ist es oft unbegreiflich, warum Gesundwerden so schwierig ist. Warum Betroffene sich „nicht einfach helfen lassen, „nicht einfach essen, „nicht einfach aufhören". Und viele Betroffene machen sich Vorwürfe, weil sie es vermeintlich besser wissen müssten. Weil sie so viel Expertise entwickelt haben – nur um sie dann doch gegen sich, gegen ihren Körper, gegen die eigene Gesundheit einzusetzen. Weil irgendwas im Weg steht. Irgendwas noch fehlt. Weil die Essstörung Halt und Orientierung bietet und ihre ganz eigenen Regeln aufstellt. Es ist ein Dilemma: Jeder Schritt, ob auf die Essstörung zu oder von ihr weg, fühlt sich gleichermaßen nach Versagen an.

    Wir Behandler*innen lernen von und mit unseren Patient*innen, dass jede Geschichte einmalig ist. Jeder Lebenslauf, jede Vorgeschichte, jede Essstörung. Und auch jede Heilung funktioniert nach ihrem ganz individuellen Prinzip. Das ist für beide Seiten manchmal auch frustrierend: Es gibt keine Anleitung, keinen Plan, keine schnurgerade asphaltierte Straße raus. So unterschiedlich die Gründe dafür sind, eine Essstörung zu entwickeln, so unterschiedlich sind auch die Wege hinaus. Und manchmal erscheint alles wie ein einziger Umweg, ein Irrweg, wie verlorene Zeit. Es braucht oft lange. Viele Schleifen, die man drehen muss. Viele Schritte zurück, um zu erkennen, dass man dort doch gar nicht mehr hin wollte. Erlebnisse, Begegnungen, Fügungen, Impulse. Und immer wieder: Zweifel. Angst. Schmerz.

    Wachstumsschmerz.

    Gesundwerden ist eine abenteuerliche Reise mit offenem Ausgang. Eine Reise, auf der man sich nahekommen muss. Sich selbst. Auch wenn das extrem viel Angst macht. Es geht auf dieser Reise um dich. Nicht um die Essstörung. Es geht darum, was dir fehlt. Welche Lücke das Essen füllt.

    Darum, von was du zu viel hast. Von welchen Gedanken dich das Kalorienzählen ablenkt. Es geht darum, wer du bist. Wer du wirklich bist.

    Heilung hat immer mit Sichtbarwerden zu tun. Damit, Dinge laut auszusprechen, vor sich selbst und manchmal auch vor anderen. Und mit Verbundenheit, sich selbst nicht mehr fremd, einsam, hoffnungslos verloren zu fühlen.

    Dieses Buch soll dich spüren lassen, dass du nicht allein bist. Dass es Menschen gibt, die dich verstehen. Die Dinge gesehen haben, die du auch gesehen hast. Und die Wege gefunden haben, Begleiter, Hilfe und Hoffnung. In diesem Buch findest du Geschichten von anderen, die sich auf den Weg gemacht haben. Vielleicht wirst du Parallelen entdecken, dich wiedererkennen. Vielleicht können die Erkenntnisse der anderen dir helfen, die Hintergründe deiner Geschichte besser zu verstehen – wie Puzzleteile, die dein eigenes Bild ergänzen. Vielleicht werden dich manche Passagen verunsichern, schockieren, dir Angst machen. Manches wird dir sehr vertraut sein, anderes ganz fremd. Hoffentlich wirst du aber auch an der ein oder anderen Stelle etwas entdecken, das du ganz genau in diesem Moment gebrauchen kannst. Etwas, das dich wie ein Talisman, ein Mantra, ein Hoffnungsschimmer durch die nächste Etappe auf deiner Reise begleitet.

    Falls du dich gerade fragst, ob du die Reise wirklich antreten sollst:

    Du bist schon auf dem Weg. Und wir sind an deiner Seite.

    Du heilst.

    Vor uns liegt eine abenteuerliche Reise.

    Lass uns eintauchen in die Geschichten von Menschen, die ihren Heilungsweg gegangen sind.

    Entdecke deine Möglichkeiten, Hindernisse in Sprungbretter zu verwandeln.

    Erkenne dein Potential, zu heilen.

    Bist du bereit?

    Anke Glaßmeyer

    ,,Mir war ganz klar, dass Simba nicht mein Therapiehund sein wird und mich nicht retten kann. Doch die Verantwortung, die ich für dieses Lebewesen haben werde, gab mir große Kraft, mich der Stimme in meinem Kopf, die verführerisch mit Ess-Brechanfällen lockte, zu widersetzen."

    Ich kämpfe für mein Glück

    Bin ich schon bereit dazu?

    3. September 2020

    Ich öffne meinen Laptop, um meine E-Mails zu lesen. Ein paar Newsletter wandern ungelesen in den Papierkorb. Dann stutze ich. Eine E-Mail von Kira:

    Liebe Anke,

    ich komme heute mit einem sehr besonderen und mir extrem wichtigen Anliegen auf dich zu. Wenn ich dir jetzt erzähle, dass ich vor Kurzem meinen Buchvertrag bei einem großen, renommierten Verlagshaus aufgelöst habe, magst du mich für verrückt erklären doch ich möchte mit einem Buch, auf dem mein Name steht, mehr als meine Geschichte teilen und wähle deshalb einen anderen Weg, um den Traum von einem Gemeinschaftswerk zu realisieren.

    Mit dem großartigen Fairliebt Verlag von Isabell Schumann aus Hamburg bringen wir ein gemeinsames Werk heraus, für alle Menschen, die aktuell auf ihrem Weg durch eine Essstörung sind.

    Ein Buch von Seelen für Seelen.

    Ich bin dir schon jetzt unendlich dankbar dafür, dass du dir die Zeit für meine Nachricht genommen hast und freue mich natürlich umso mehr, wenn wir dieses Projekt Hand in Hand umsetzen. Es geht um dich und deine Geschichte. Du bist wichtig.

    Ganz herzliche Grüße aus Berlin & ein Hoch auf Dich!

    Deine Kira

    Ich muss erst einmal schlucken. Ich fühle mich geehrt und bin ziemlich begeistert. Ein Buch zu schreiben war schon immer mein Traum. Aber bin ich schon so weit? Bin ich stabil genug, um anderen Betroffenen Mut zu machen? Kann ich bei dem Projekt mitmachen, wenn ich noch auf dem Weg der Heilung bin? All diese Fragen gehen mir durch den Kopf. Nach einigen Tagen Bedenkzeit sage ich zu. Aber ein mulmiges Gefühl bleibt. Denn das Jahr 2020 war, abgesehen von Corona, für mich lebensbedrohlich, lebensverändernd und sehr prägend. Ich weiß, dass meine Geschichte vielen Mut machen kann, auch wenn sie sehr von Tiefen geprägt ist und viele vielleicht denken, dass ich es nie schaffen werde. Ich habe niemals aufgegeben und werde es auch niemals tun. Ich besiege die Magersucht und Bulimie und erzähle dir nun davon.

    Ich konnte nicht einmal die Vorwärtsrolle

    Ich wurde 1987 als erstes Kind meiner Eltern geboren. Sie waren zu dem Zeitpunkt zwei Jahre verheiratet und freuten sich sehr auf mich. Meine Mutter war einige Jahre zuvor aus Polen nach Deutschland gekommen und hatte sich in meinen Vater verliebt. Drei Jahre später kam meine Schwester und sechs Jahre später mein Bruder zu Welt. Ich war immer ein sehr ehrgeiziges Kind, das viel las und wenig Freunde hatte. Schon im Kindergarten fühlte ich mich zu dick und unwohl, verglich mich mit den anderen dünnen Mädchen und war neidisch. Dieses Gefühl verstärkte sich in der Grundschule. Ich war zwar in allen Fächern die Klassenbeste, aber in Sport war ich eine der Unsportlichsten und hatte immer eine 3. Ich beneidete die anderen Mädchen, die in ihrer Freizeit Kunstturnen machten, denn ich konnte noch nicht mal eine Vorwärtsrolle.

    Nach der Grundschule wechselte ich aufs Gymnasium und fand erstmals Freunde. Wir waren eine Vierer-Clique und gehörten zu den Beliebtesten der Klasse. Mit dem Lernstoff kam ich gut zurecht und schrieb immer noch sehr gute Noten. Nachmittags traf ich mich mit meinen Freundinnen, ging zum Messdienertreffen, hatte an der Musikschule Gitarrenunterricht oder ging mit unserer Golden Retriever-Hündin Bonny, die wir 1997 nach langem Betteln und Flehen bekommen hatten, spazieren. Im Alter von elf Jahren sollte sich mein Leben gewaltig ändern …

    Mit Zwang lässt sich die Essstörung nicht heilen

    Es war um die Fastenzeit, als ich mit meinen drei besten Freundinnen auf eine Idee kam: „Hey, lasst uns alle auf die Süßigkeiten verzichten." Gesagt, getan. Ich war nie ein dickes Kind gewesen, sondern würde mich als kräftig bezeichnen. Ich aß sehr gerne – am liebsten Eis, Käsebrötchen mit Kassler und weiße Schokolade. Vieles davon strich ich damals von meinem Speiseplan und es fiel mir gar nicht schwer. Ostern kam, die Fastenzeit war vorbei, aber ich suchte nicht wie sonst bei meinen Großeltern mit meinen Geschwistern, Cousins und Cousinen Ostereier und auch aufs Kuchenessen verzichtete ich. Es ging alles rasend schnell. Ich nahm ab und machte immer mehr Sport. Zunächst bekam ich Komplimente, dass ich toll abgenommen hätte. Auch belog ich meine Eltern. Mal hatte ich schon bei einer Freundin gegessen, mal war mir schlecht oder ich ließ beim Abendessen mein Brot geschickt verschwinden. In der Schule warf ich mein Pausenbrot regelmäßig in den Müll und meine einzige Nahrung wurden zuckerfreie Kaugummis. Nach einer relativ kurzen Zeit merkten meine Eltern, dass etwas nicht stimmte und machten sich immer größere Sorgen – auch eine Form von Aufmerksamkeit. Sie suchten in der Psychosomatik einer Uniklinik Hilfe. Eines Tages schleppten sie mich dorthin und die Ärztin sprach mit mir. Wenn ich nicht zunehmen würde, dann müsste ich stationär aufgenommen werden. Das wollte ich auf keinen Fall und beteuerte, dass es mir gut ginge und ich zu Hause wieder essen würde. Doch dem war natürlich nicht so. Und so wurde ich im Herbst auf einer psychosomatischen Station für Kinder und Jugendliche aufgenommen. Zwar freiwillig, aber die Einsicht, krank zu sein, hatte ich nicht. Ich wurde gewogen, mir wurde ein Zielgewicht genannt und ich kam in ein Doppelzimmer. Das Essen wurde für mich portioniert, die Brötchen schon fertig geschmiert und ich durfte erst aufstehen, wenn alles aufgegessen war. Ich schlug mich tapfer. Mich schreckten die anderen Mädchen ab, die mehrmals täglich per Sonde ernährt wurden.

    Also aß ich meine Portionen, weinte viel und wurde regelmäßig gewogen. Therapie? Die hatte ich kaum. Die Therapeutin ging nicht auf mich ein, es passierte viel mit Zwang und mir wurde immer wieder mit einer Magensonde gedroht. Nahm ich nicht zu, durfte ich nicht in die Krankenhausschule. Ich wollte nach Hause, also „fraß" ich mich regelrecht raus.

    Rückblickend muss ich leider sagen, dass bei diesem ersten Klinikaufenthalt viel in mir kaputt gegangen war. Ich habe kaum noch Erinnerungen, aber ich weiß noch, wie unglücklich ich war und dass damals mein Entschluss keimte: Ich werde später Psychotherapeutin und mache es anders. Ich verstand nicht, warum man mir nicht erklärte, weshalb ich dies und jenes machen musste und andere Dinge nicht durfte. Die Krankenschwestern und Sozialarbeiter waren zwar nett und jeden Nachmittag bastelten wir oder fuhren ins Kino oder in die Stadt, aber an den Ursachen meiner Magersucht wurde nicht gearbeitet. Fast 20 Jahre später sollte ich verstehen, dass eine verborgene narzisstische Persönlichkeitsstruktur den Ursprung bilden sollte. Denn ich sehnte mich nach Anerkennung und Aufmerksamkeit, um meinen geringen Selbstwert zu stabilisieren, wurde aber nicht adäquat gesehen. Bis dahin war es aber noch ein langer Weg.

    In der Klinik besuchten mich meine Eltern immer wieder. Sie waren hilflos und vertrauten der Klinik, denn sie waren mit ihrem Latein am Ende. Sie taten alles für mich und versprachen mir, dass wir, wenn ich gut mitarbeiten würde, alle zusammen das erste Mal in den Urlaub fliegen sollten. Das hatte ich mir immer schon gewünscht. Ich blieb viele Wochen in der Klinik und spielte mit. Schließlich kam der große Tag: Ich hatte das Zielgewicht erreicht. Am nächsten Tag wurde ich entlassen. Hatte ich gelernt, mir selbst Essen zu portionieren? Nein. Hatte ich gelernt, mich zu lieben und gut zu versorgen? Nein. Hatte ich verstanden, weshalb ich hungerte und dass es ein Schrei nach Liebe war? Keinesfalls. Hier muss ich aber anmerken, dass meine Eltern immer versuchten, alles richtig zu machen, doch war es für mich in dem Moment nicht das, was ich brauchte. Angehörige wollen dem Erkrankten selten schaden, doch sie sind oft einfach überfordert.

    „Du siehst schwanger aus"

    Die erste Zeit zu Hause verlief gut. Ich aß das, was ich auch in der Klinik vorgesetzt bekommen hatte und begann eine ambulante Therapie. Ich ging wieder zur Schule und traf meine Freundinnen. Doch ich fühlte mich weiterhin und mehr denn je zu dick. Und so schlich sich die nächste Essstörung ein. Meine Eltern achteten akribisch darauf, dass ich genug aß und so erbrach ich mich nach ein paar Monaten zum ersten Mal. Wie ich auf die Idee kam? Ich hatte davon das erste Mal in der Klinik gehört, als ich mich mit Lisa, einer bulimischen Mitpatientin, unterhalten hatte. Zuvor hatte ich noch nie erbrochen und ich war froh, dass es problemlos funktionierte. Heute wünsche ich mir, es hätte damals nicht geklappt. Ich war zu diesem Zeitpunkt in einem Zustand, in dem ich die Essstörung nicht aufgeben wollte, und suchte somit geradezu nach Tipps und Tricks. Wäre ich damals schon einsichtiger gewesen, wären diese „Tipps" wahrscheinlicher eher auf taube Ohren gestoßen.

    Die erste Zeit erbrach ich mich immer mal wieder, aber nicht regelmäßig. Essanfälle waren zu Beginn noch undenkbar. Mit der Zeit nahm ich langsam ab und irgendwann erwischte meine Mutter mich auf dem Klo. Zuerst leugnete ich alles und redete ihr ein, sie habe sich verhört. Doch irgendwann gestand ich es meinen Eltern. Sie wandten sich wieder an die Uniklinik und ich musste zu einem ambulanten Gespräch kommen. Dort wurde mir wieder ins Gewissen geredet und mit einem erneuten Klinikaufenthalt gedroht. Doch diese Worte erreichten mich gar nicht.

    In dieser Zeit lernte ich mit 14 Jahren meinen ersten Freund kennen. Eigentlich war ich in seinen besten Freund verliebt, aber da alle meine Freundinnen schon einen Freund gehabt hatten, ließ ich mich auf Lukas ein. Er war verliebt und ich dachte, das würde sich bei mir auch noch einstellen. Einmal, wir waren schon ein paar Monate zusammen, sagte er mir, als wir zusammen nach dem Abendessen auf meinem Bett lagen: „Boah, du siehst ganz schön schwanger aus." Zack! Diese Worte sollten mich und mein ganzes weiteres Leben prägen.

    Ich weiß nicht mehr, was ich damals darauf entgegnete, aber dieser Satz führte dazu, dass ich mich seitdem extrem auf meinen Bauch fixierte. Mein gesamter Körper war mir egal, Hauptsache, ich hatte einen flachen Bauch. Mit der Zeit wurde mein Essverhalten immer schlimmer, ich aß zu Hause recht viel, wollte dort aber nicht aufs Klo gehen. Also sagte ich meiner Mutter, ich würde ein wenig mit Bonny spazieren gehen, um mich abzulenken. Das war natürlich eine Lüge – ich ging mit dem Hund in den Wald und übergab mich dort. Oder ich fuhr nach dem Abendessen zu meinem Freund, machte einen Umweg in den Wald und ließ das Abendessen dort. Teilweise übergab ich mich in meinem Zimmer in einen Mülleimer. Große Essanfälle waren aber noch immer die seltene Ausnahme.

    Psychische Vergewaltigung

    Ich nahm durch das Erbrechen immer weiter an Gewicht ab und es kam, wie es kommen musste: Der nächste Klinikaufenthalt stand bevor. Meine Eltern machten ernst, obwohl ich es ihnen nicht zugetraut hatte. Der zweite Klinikaufenthalt war um Welten schlimmer als der erste. Zu Anfang aß ich zwar, nahm aber ab und wurde zum Essen gezwungen. Ich wand und wehrte mich. Ich erbrach immer häufiger in der Klinik und in den wenigen Therapiegesprächen ging die Therapeutin nicht auf mich ein. Irgendwann sah sich die Klinik gezwungen, mir eine Magensonde zu legen. Gegen meinen Willen! Anschließend hatte ich strikte Bettruhe, durfte nicht zur Schule und nahm innerhalb von zehn Tagen mehrere Kilogramm zu.

    Rückblickend würde ich dieses Vorgehen als „psychische Vergewaltigung bezeichnen. Ich war total überfordert, da ich therapeutisch nicht begleitet wurde. Ich schrie und weinte und als Konsequenz wurde ich mehrere Tage in den sogenannten Time-Out-Raum gesperrt. Das war ein Raum mit einem kleinen Fenster, einem Bett und gepolsterten Wänden. Ich weiß noch, dass ich immer ganz laut „Steh auf, wenn du am Boden bist von den Toten Hosen hörte. Die CD hatte mein Freund für mich gebrannt. Ich vermisste ihn sehr.

    So vergingen die Wochen, mein Freund, meine Freundinnen und Eltern besuchten mich. Ich ließ alles über mich ergehen und die Sondierungen entsorgte ich mit einigen Tricks anschließend im Waschbecken. Ich wollte einfach nicht gesund werden und in dieser Klinik ging man nicht auf mich ein. Es war ein starkes Machtgehabe der Ärzt*innen und Therapeut*innen und ich fühlte mich nicht gehört. Irgendwann wurde ich dann entlassen, weil die Therapeut*innen merkten, dass ich nicht will. Im Teamgespräch sagten der Chefarzt und meine Therapeutin vor dem ganzen Team (ich durfte dem Gespräch hinter einer Scheibe zuhören), dass sie nicht denken, dass ich 20 Jahre alt werden würde.

    Als meine Eltern mich abholten, war dicke Luft, sie waren sauer und enttäuscht. Schon auf der Rückfahrt aß ich Schokolade und mein erster Gang zu Hause führte zum Klo. Rückblickend gesehen hat mich die Klinik kränker gemacht als ich zuvor war. Ich möchte die Schuld aber nicht nur der Klinik geben. Ich war damals noch nicht bereit und wollte keine Hilfe. Wahrscheinlich hätte es mir aber geholfen, wenn man mir die Zusammenhänge genauer erklärt und nicht mit Zwang, sondern mit Freiwilligkeit, gearbeitet hätte. Natürlich hatten sie auch die Verantwortung für mich, aber letztendlich lernte ich dort eher, wie ich Regeln umgehen kann.

    Zu Hause ging es weiter wie bisher. Ich aß und erbrach. Ich will mir nicht vorstellen, wie es meiner Familie damit ging. Vor allem meine Schwester litt sehr darunter und distanzierte sich aus Selbstschutz sehr von mir. Mit meinem Bruder hatte ich damals, sicherlich auch bedingt durch unseren Altersunterschied, noch gar keine Beziehung. Die sollte erst später kommen und er zu einem meiner engsten Vertrauten werden. Zu Hause gab es oft Streit, mein Vater schloss das Bad ab und oft schrien wir uns an. Irgendwann ging es nicht mehr und es stand ein neuer Klinikaufenthalt an. Diesmal sollte es in die Klinik am Korso in Bad Oeynhausen, einer Fachklinik für Essstörungen, gehen. Dort kam ich auf die Jugendstation, da ich gerade 14 Jahre alt war. Mit dem Essen klappte es ziemlich gut. Ich erbrach mich nicht und fühlte mich recht wohl. Dennoch lernte ich von den anderen Patient*innen, von denen viele nicht freiwillig da waren. Ich bekam einige Strategien, um noch besser abzunehmen. Das war wieder ein guter Nährboden, um sich Dinge „abzuschauen". Ich vermisste meine Familie, meinen Freund und Bonny enorm. An den Wochenenden bekam ich jedoch immer Besuch von ihnen, was mir Kraft gab. Nach einigen Wochen wurde ich zwar gestärkt, aber nicht gesund, entlassen und die erste Zeit klappte es auch recht gut. Ich aß regelmäßig und erbrach nicht. Das war jedoch kein Resultat von innerer Transformation und Weiterentwicklung, sondern allein meiner Disziplin geschuldet. Ich hatte noch nicht verstanden, dass sich meine Probleme durch das Ausleben der Essstörung nicht lösen ließen.

    Same procedure as every summer…

    Ich ging regelmäßig zur ambulanten Therapie und es sollte viele Jahre kein Klinikaufenthalt folgen. Auch mit meinen Eltern klappte es wieder besser und wir stritten weniger. Doch der Satz meines Freundes, dass mein Bauch schwanger aussehe, schwirrte immer in meinem Kopf herum. Der nächste Sommer kam und ich fühlte mich wieder zu dick. Erst aß ich einfach nur etwas weniger, doch irgendwann schlich sich das Erbrechen wieder ein und verselbstständigte sich. Ich gab in meiner Freizeit häufig Nachhilfe und arbeitete im Sommer im Freibad an der Kasse. So finanzierte ich mir meine Bulimie. Nach dem Arbeiten oder der Nachhilfe fuhr ich einkaufen, kam nach Hause, ging direkt in mein Zimmer, aß und erbrach mich oft in den Mülleimer. Zu dieser Zeit waren es sogenannte Essanfälle: Ich stopfte mehrere Tausend Kalorien in mich hinein und erbrach anschließend. Einerseits füllte es die innere Leere, das Erbrechen diente aber auch dazu meine Spannung abzubauen. Anschließend fühlte ich mich kurzfristig erleichtert, aber langfristig plagten mich immer wieder Schuldgefühle. Als Mensch, der nie eine Essstörung hatte, kann man sich schwer einen Essanfall und die Mengen von Nahrungsmitteln vorstellen. Es geht dabei nicht um den Genuss der Speisen, sondern darum, möglichst viele Kalorien in möglichst kurzer Zeit in sich reinzustopfen und sich dann möglichst schnell wieder zu entleeren. Und das immer wieder. An manchen Tagen aß und erbrach ich von morgens bis abends.

    Mit 16 Jahren trennte sich Lukas nach über zwei Jahren von mir, da ihn meine Essstörung sehr belastete. Zunächst war es ein Schock für mich, aber die Essstörung in mir freute sich, denn nun hatte sie mich ganz für sich allein. In der Schule hatte ich eine Sonderrolle, denn durch meine Klinikaufenthalte sammelte ich viele Fehlzeiten und bekam trotzdem gute Noten. Viele Mitschüler waren neidisch und ließen mich dies spüren. Aber ich denke, dass auch die Lehrer*innen einfach hilflos waren. In meiner Freizeit, die ich neben der Essstörung und Arbeit noch hatte, lernte ich viel, denn mein Traum, Psychotherapeutin zu werden, bestand immer noch und ich wusste, dass ich dafür gute Noten brauchte.

    Die Zeit verging und ich lernte Torben, meinen neuen Freund, im Internet kennen. Ich genoss die Zeit, aber Gefühle entwickelte ich nicht so richtig. Im Nachhinein glaube ich, dass es die Zweisamkeit und das Gefühl, geliebt zu werden, waren, die mich eineinhalb Jahre bei ihm bleiben ließen. Ich traf mich oft mit ihm, nebenbei machte ich meinen Führerschein. Trotz Essstörung konnte ich also ein fast normales Leben führen. Natürlich verpasste ich viel. Zum Beispiel hatte ich keine so unbeschwerte Jugend wie andere Gleichaltrige, fuhr nicht mit in Sommerlager, ging nicht auf Festivals oder Partys und war einfach viel allein. Denn die Aktivitäten hätten bedeutet, dass ich mit anderen zusammen hätte essen müssen, und das war für mich in dieser Zeit nicht vorstellbar. Oft denke ich traurig an all das, was ich verpasst habe, zurück. Aber es ist auch eine Motivation, all die Zeit, die ich noch habe, besonders zu genießen.

    Das Abitur rückte immer näher. Ich hatte mit dem Berufsberater in der Schule gesprochen und er hatte mir empfohlen, in den Niederlanden zu studieren, denn ich wusste nicht, ob ich mit meinem Abischnitt einen Platz in Deutschland bekommen würde. Die Abiturprüfungen verliefen gut. Letztendlich bekam ich zwar einen Studienplatz in Deutschland, doch damals befand ich mich schon in Groningen in einem dreiwöchigen Niederländisch-Sprachkurs. Kurz zuvor hatte ich mich von Torben getrennt. Wieder mal wegen der Essstörung und auch, weil ich einfach keine Gefühle zulassen konnte. Rückblickend ist mir das ganz klar, denn durch die Essstörung versuchte ich, all meine Gefühle zu unterdrücken und zu betäuben.

    Ich komme meinem Traum einen Schritt näher

    Ich zog nach Groningen in eine WG und lebte mich gut ein. Zunächst ging es mir mit der Essstörung recht gut und ich war stabil. Ich aß regelmäßig, war aber all die Jahre immer untergewichtig. Die Uni und das Studium der Psychologie machte mir sehr viel Spaß und ich schrieb gute Noten. Auch lernte ich einige Leute kennen. Doch dann rutschte ich wieder in die Bulimie und zog mich stark zurück. Rückblickend kann ich gar nicht genau sagen, was diesen Rückfall ausgelöst hat. Wahrscheinlich waren es die Einsamkeit und Sehnsucht nach Anerkennung. Damals kontaktierte mich eine Filmstudentin, die gerne eine Dokumentation über mich und meine Geschichte drehen wollte. Ich stimmte zu und wir machten einige Aufnahmen. Zur Ausstrahlung kam es jedoch nicht. Ich weiß noch, wie ich für den Dreh auf meinem Balkon stand und eine meiner Jeanshosen, in die vielleicht ein elfjähriges Kind passt, zerschnitt, denn ich wollte nie wieder hineinpassen. Dennoch war ich noch lange nicht gesund.

    Im zweiten Studienjahr war ich so untergewichtig, dass meine Eltern mich zu sich holten und ich erneut in eine Klinik gehen wollte. Deshalb stellte ich mit meinem Hausarzt zusammen einen Antrag und wurde zeitnah noch einmal in der Klinik am Korso aufgenommen.

    Dort hatte ich eine gute Zeit und mit einigen Mitpatient*innen habe ich immer noch losen Kontakt. Ich konnte mich besser als bei meinem ersten Aufenthalt mit den Ursachen meiner Essstörung auseinandersetzen und ließ mich mehr ein. Die Zeit war aber auch nicht leicht. Ich nahm verhältnismäßig sehr schnell zu, obwohl ich dafür nur wenig essen musste. Deshalb war ich immer sehr neidisch auf die, die mehr als die normale Portion zu essen bekamen und zusätzlich Fresubin tranken. Fresubin ist eine hochkalorische Trinknahrung, die beispielsweise ältere Menschen, Personen, die keine feste Nahrung zu sich nehmen können, oder auch Essgestörte bekommen. Ich aß nur die halbe Portion und nahm stetig zu. Heute weiß ich, dass jeder Körper einen anderen Nährstoffbedarf hat und ich konnte damals auch nicht hundertprozentig sagen, ob die anderen nicht anderweitig kompensierten oder tricksten. Aber ich wollte gesund werden und mein Studium weiterführen.

    Nach meiner Entlassung ging es wieder zurück nach Groningen. Meine Bachelorarbeit schrieb ich über die geschichtliche Entwicklung der Anorexie und beschrieb, dass es Essstörungen auch schon in früheren Jahrhunderten gab und es nicht unbedingt ein Phänomen der Neuzeit ist. Man könnte meinen, dass ich durch mein Studium Wege aufgezeigt bekommen hätte, wie ich mir selber helfen kann, jedoch war ich bei mir selbst eher betriebsblind. Diese Einsichten bekam ich jedoch in meiner eigenen Psychotherapie. Gesund war ich während meines Studiums nicht, aber ich war recht stabil. Ich hatte mal bessere und mal schlechtere Phasen, war sehr einsam, hatte weder Freunde noch eine Beziehung und die Essstörung war meine Verbündete. Doch mein Traum, Psychotherapeutin zu werden, ließ mich weiterkämpfen. Ich bin sehr dankbar, dass ich diesen Traumberuf durch die Erfahrung in der Klinik ergreifen wollte, denn ich glaube, sonst hätte ich damals aufgegeben. Aber in Krisenmomenten sagte ich mir immer: „Ich habe schon so lange und hart gekämpft. Das wäre alles umsonst, wenn ich nun aufgebe." Mir selbst hat ein Ziel immer geholfen, am Ball zu bleiben.

    Ein Schritt Richtung Selbstverständnis und Selbstfürsorge

    Für meine Masterarbeit ging ich zurück nach Deutschland und machte in Münster in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ein sechsmonatiges Praktikum. In der Nähe meines WG-Zimmers war die Praxis einer Therapeutin, bei der ich eine ambulante Therapie begann, und die mich auch heute noch unterstützt. Sie warf damals auch den Begriff „weiblicher Narzissmus" in den Raum und brachte mich dazu zu verstehen, wieso ich mich so sehr nach Anerkennung sehne und schnell unsicher bin. Ich habe quasi zwei Selbstschemata. Ein Negatives, das Annahmen enthält wie: Ich bin nicht gut genug, niemand mag mich, ich muss etwas leisten, um gemocht zu werden, ich bin nicht liebenswert und so weiter. Daneben besteht das positive Selbstkonzept, welches aber nur durch kompensatorisches Leistungsverhalten zustande kommt. Durch die Anerkennung von außen stabilisiere ich meinen Selbstwert und fühle mich besser, allerdings nur kurzzeitig. Diese Therapeutin hat mir immer das Gefühl vermittelt, an mich zu glauben und mich nie unter Druck gesetzt. Das war neu für mich, denn zuvor war es in den Therapien und Kliniken meist anders gelaufen. Wir sprachen selten über das Essen und widmeten uns mehr den Ursachen meiner Essstörung. Dadurch ging ich alle Heilungsschritte meiner Essstörung aus eigener Motivation – dies ist immer langanhaltender als ein Klinikaufenthalt, bei dem es meist zunächst darum geht, in kurzer Zeit viel zuzunehmen. Es ist natürlich so, dass eine Gewichtszunahme nötig ist, um dann eigene Schritte zu gehen, wenn es aber nur durch Zwang und mit wenig Eigenverantwortung einhergeht, sind die Effekte meist nur kurzfristig. Natürlich gab es auch bei ihr immer wieder Rückschläge, aber ich fing an, mich selbst wertzuschätzen und mir auch mal etwas zu gönnen. Bisher hatte ich es mir zum Beispiel nie zugestanden, mich mal in ein Café zu setzen und einen Tee zu trinken oder Ähnliches.

    Krankheit als Chance

    Meine Masterarbeit schrieb ich über Kinder mit Autismus und auch das Praktikum bereitete mir viel Freude. Zeitgleich informierte ich mich über Institute, die

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