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Stephan von Wengland: Chroniken der Verborgenen Lande - Chronikband Ende 19. Jh.
Stephan von Wengland: Chroniken der Verborgenen Lande - Chronikband Ende 19. Jh.
Stephan von Wengland: Chroniken der Verborgenen Lande - Chronikband Ende 19. Jh.
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Stephan von Wengland: Chroniken der Verborgenen Lande - Chronikband Ende 19. Jh.

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About this ebook

Die Verborgenen Lande sind eine von mir erfundene, fiktive Region, die - wäre es so möglich, wie ich es mir erdacht habe - in der Alpenregion zwischen Deutschland, Österreich, Italien und der Schweiz zu suchen wäre. Wer immer sich dort schon herumgetrieben hat, wird wissen, dass da nichts weiter ist, als direkt aneinander stoßende Grenzen ...

Solch schnöde Realität muss ja nicht an der Fantasie hindern, dass diese Region in einer anderen Dimension versteckt ist, die mithilfe von Magie erreicht werden kann - nun, jedenfalls in unserer Zeit.

Die Verborgenen Lande sind vier souveräne Staaten: Das Fürstentum Breitenstein, das Herzogtum Scharfenburg sowie die Königreiche Wengland und Wilzarien. Alle vier Länder existieren etwa seit dem 9. Jh. unserer Zeitrechnung.

Im Zentrum der Geschichten steht das Königreich Wengland, dessen Historie ich anhand eines entscheidenden Abschnittes im Leben des jeweiligen Thronfolgers vom frühen Mittelalter bis in die Gegenwart erzähle.

Sommer 1897: Stephan, der ältere Sohn und Thronfolger von König Alexander und Königin Simone von Wengland, hat seinen Militärdienst beendet und will an der Universität Christophstein in der wenglischen Grafschaft Aventur Vermessungstechnik studieren. Sein Vater ist besorgt, weil Aventur - trotz eines fast dreißigjährigen Waffenstillstands zwischen den Königreichen Wengland und Wilzarien - immer noch ein Zankapfel zwischen den verfeindeten Reichen ist.

Sein Sohn teilt die Bedenken nicht und hat zwei gute Gründe, nicht bei seinem Vater in Wachtelberg zu studieren: Erstens, dass eben sein Vater der Professor ist und er eine zu subjektive Beurteilung befürchtet. Und zweitens, weil seine große Liebe Sandra Habermann ebenfalls in Christophstein studiert. Letzteres verheimlicht der junge Mann seinen Eltern jedoch.
Er ahnt nicht, dass Gobur Simat, der schon seine Onkel Friedrich und Eberhard auf dem Gewissen hat und beinahe auch seinen Vater beseitigt hätte, als Fürst von Bonat in Wilzarien zu Ehren gekommen ist und mit der Rückgewinnung Aventurs für Wilzarien nach der Krone greifen will.

Bonat bekommt die Unterstützung unzufriedener Milchbauern wilzarischer Herkunft in Aventur, die er geschickt zu nutzen weiß - auch gegen den Willen des neuen Königs von Wilzarien, der Aventur endgültig aufgeben will, um endlich Frieden mit dem Nachbarland zu haben.

Stephan und seine Freunde sehen sich gezwungen, buchstäblich in den Untergrund zu gehen, um Aventur als wenglische Provinz zu erhalten.
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateMar 21, 2022
ISBN9783347540941
Stephan von Wengland: Chroniken der Verborgenen Lande - Chronikband Ende 19. Jh.
Author

Gundula Wessel

Gundula Wessel, geboren 1960 in Hamburg, wuchs als jüngeres von zwei Kindern dort auf, machte Abitur und begann eine Ausbildung als Versicherungskauffrau und arbeitete mehr als dreißig Jahre in diesem Beruf. Schon seit eh und je an Geschichte interessiert, begann sie bereits während ihrer Schulzeit Romane mit historischem Hintergrund zu schreiben. Die Bandbreite reicht inzwischen vom Mittelalter bis zum 2. Weltkrieg.

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    Book preview

    Stephan von Wengland - Gundula Wessel

    Prolog

    Der Sommer 1897 war heiß und entsprechend heißblütig wurde der 1.010. Jahrestag der Gründung des Königreichs Wengland gefeiert. Wie immer hatte es am 10. Juli ein großes Feuerwerk gegeben, am 11. Juli, dem eigentlichen Feiertag, fand die große Militärparade statt.

    König Alexander I. von Wengland nahm die Parade in Begleitung seiner Gemahlin, Königin Simone, von der Königsloge des Steinburger Schlosses aus voller Vaterstolz ab. Sein jüngerer Sohn Friedrich war als Leutnant der Gardekavallerie mit dabei. Neben ihm standen noch Tochter Ursula, Friedrichs Zwillingsschwester, und der ältere Sohn Stephan, der Kronprinz.

    Alexander nahm vertraulich die Hand seiner Frau.

    „Täusche ich mich oder ist es heute fünfundzwanzig Jahre her, dass wir beide von hier aus die Parade gesehen haben?", fragte er leise. Simone lächelte.

    „Nein, du täuschst dich nicht", erwiderte die Königin und drückte ihrem Mann einen sanften Kuss auf die Wange. Seit sieben Jahren regierte König Alexander – und sie, die Tochter des radikalsten Sozialistenführers im ganzen Königreich Wengland, war die Königin eines modernen und aufgeschlossenen Wengland.

    In Wengland hatte sich politisch viel verändert. Schon 1875, als Alexander nach dem Tod seiner beiden älteren Brüder Friedrich und Eberhard Kronprinz geworden war, hatte er angekündigt, die Regierungsform in eine konstitutionelle Monarchie umwandeln zu wollen. König Wilhelm war davon zunächst wenig angetan gewesen, hatte seinen Sohn aber letztlich nicht behindert, als er ab 1880 entsprechende Vorbereitungen getroffen hatte, weil sich die reichsweite Änderung erst nach Alexanders Regierungsübernahme auswirken sollte. Der damalige Kronprinz hatte dafür gesorgt, dass sich Parteien bilden konnten, die sich zunächst auf der untersten Verwaltungsebene, den Städten und Dörfern, als Mittler des politischen Willens der Bevölkerung etablierten. Etwa fünf Jahre später, nachdem das System auf kommunaler Ebene funktionierte, hatte der Prinz sich mit den Spitzenpolitikern aller wenglischen Parteien – einschließlich der Sozialisten – getroffen und in jahrelanger Arbeit einen Verfassungsentwurf erarbeitet, der einen Teil der königlichen Macht an das Volk abtrat. Die Vorbereitungen waren so gründlich gewesen, dass ein halbes Jahr nach Alexanders Krönung ein Parlament gewählt worden war, zu dem alle Wengländer beiderlei Geschlechts das aktive und passive Wahlrecht hatten, sofern sie volljährig, also einundzwanzig Jahre alt waren.

    Genau genommen wählte das Volk nur das Unterhaus, die eigentliche Volksvertretung, während das Oberhaus, die Vertretung des Adels, durch die Grafen und Barone erbliche Sitze hatte. Den alten Grafenrat gab es nicht mehr, dafür war das Oberhaus eingesetzt worden. Das Oberhaus hatte Kontrollfunktion gegenüber dem Unterhaus, wirkte bei der Gesetzgebung mit, hatte wohl ein Vetorecht, jedoch nur ein aufschiebendes, das durch eine Zweidrittelmehrheit des Unterhauses überstimmt werden konnte. Ein absolutes Vetorecht hatte nur der König – und das nur in Angelegenheiten des Adels. König Alexander selbst hatte diesen Passus eingefügt, weil er der Ansicht war, dass das Volk im Wesentlichen selbst seine Geschicke bestimmen sollte und dafür auch haften sollte, wenn es notwendig war …

    Die erste fünfjährige Wahlperiode war beendet, die Regierungspartei der Königlich Konservativen unter Premierminister Maximilian Bärmann war im Amt bestätigt worden und hatte sogar Stimmengewinne auf Kosten der Sozialisten verzeichnen können.

    Auch in der Verkehrstechnik hatte sich vieles verändert. In den letzten fünfundzwanzig Jahren hatte die Eisenbahn unter ihrem Direktor Alexander von Wengland ein so dichtes Netz von Verbindungen erstellt, dass beinahe jeder Ort mit Marktrecht von der Eisenbahn erreicht werden konnte. Felsbruck, damals im Jahr 1872, noch ein Flecken mit sieben Häusern und neun Spitzbuben, war Wenglands Eisenbahnhauptstadt geworden. Zwar war die Hauptverwaltung der KWE, der Königlich Wenglischen Eisenbahn, in Steinburg, aber die größte Regionalverwaltung, die RV West, befand sich in Felsbruck. Außerdem hatte Felsbruck das Ausbesserungswerk, was eigentlich eine grobe Untertreibung war. In Felsbruck wurde nicht nur repariert, die Eisenbahn arbeitete auch sehr eng mit den beiden dort befindlichen Lokomotivfabriken und drei Waggonwerken zusammen. Im so genannten Ausbesserungswerk befand sich die Erprobungsabteilung mit eigenem Labor, die ihresgleichen suchte. Schon seit zehn Jahren experimentierte man dort mit elektrisch getriebenen Fahrzeugen, seit einem guten Jahr hatte die LFF, die Lokomotivfabrik Felsbruck, die erste Elektrolok zur Serienreife gebracht. Spätestens zur Jahrhundertwende sollte die erste Teilstrecke elektrifiziert sein und künftig mit Elektroloks befahren werden.

    König Alexander nahm weiterhin regen Anteil am Geschick seiner Bahn. Schließlich hatte er sie geplant, war ihr Bauleiter und Direktor gewesen. Als er 1890 nach dem Tod seines Vaters Wilhelm zum König gekrönt worden war, hatte er den Direktorenposten zugunsten seines damaligen Stellvertreters Anselm Krantz aufgegeben, hatte aber immer noch einen Sitz im Vorstand der Königlich Wenglischen Eisenbahn. Sein ehemaliger Hauptmitarbeiter, Dr. Ing. Andreas Ettinger, hatte an der Steinburger Universität den Lehrstuhl für Geologie, war glücklich verheiratet, hatte fünf Kinder, drei Töchter und zwei Söhne, die mittlerweile alle das Steinburger Martinsgymnasium besuchten. Die väterliche Intelligenz hatte bei den Ettinger-Kindern voll durchgeschlagen.

    Fünfundzwanzig Jahre zuvor wäre es schiere Utopie gewesen, dass die Kinder eines selbst aus armen Verhältnissen stammenden Vaters ein Gymnasium besuchten. Intelligenz allein hätte ihnen nicht geholfen. Der Vater hätte es sich ob des teuren Schulgeldes einfach nicht leisten können, seine Kinder auf ein Gymnasium zu schicken. Doch noch unter der Regierung König Wilhelms war bereits vor zwanzig Jahren auf Anregung des damaligen Kronprinzen Alexander das Schulgeld abgeschafft worden. Schul- und Hochschulbesuch waren kostenfrei, ebenso die dazugehörigen Lernmittel. Die Folge war ein deutlicher Bildungsschub gewesen, der sich jetzt richtig auswirkte. Die Anzahl der Studenten – und Studentinnen! – hatte sich glatt vervierfacht, was zur Gründung weiterer Universitäten geführt hatte. Außer der altehrwürdigen Hochschule in Wachtelberg gab es nun die Universität Steinburg, die einen guten Ruf im Bereich der Naturwissenschaften und in der Archäologie hatte, die Universität von Siebeneich, die sich eher den sprachlichen Wissenschaften verschrieben hatte, sowie die Universität von Christophstein, die neben dem Polytechnikum auch die medizinische und juristische Fakultät mit der landesweit größten Bedeutung hatte. Eine besondere Spezialität der Universität Christophstein war der Umstand, dass alle Fächer sowohl in wenglischer, also deutscher, als auch in wilzarischer Sprache unterrichtet wurden.

    Alexander konnte mit dem, was er erreicht hatte, durchaus zufrieden sein. Mit seiner Hilfe hatte Wengland den Sprung in eine neue Zeit geschafft, war ein mobiles, politisch waches und gebildetes Land geworden. Die Narben der alten Teilung, die noch bis in die Regierungszeit König Wilhelms zu spüren gewesen waren, waren ausgelöscht. Es schien, als sei Wengland nie etwas anderes gewesen, als das Land, was es jetzt war.

    Doch es gab eine kleine Ausnahme – und das war Aventur. Aventur war die südöstlichste und die jüngste Grafschaft Wenglands, auch wenn die Zugehörigkeit bereits über sechshundert Jahre andauerte. Seit 1265 gehörte die Provinz zu Wengland. Gleichwohl wurden dort beide Sprachen gesprochen, verlief doch die Sprachgrenze zwischen dem Wenglischen und dem Wilzarischen mitten durch die Provinz. Sämtliche Orte waren zweisprachig bezeichnet, in den Schulen wurde zweisprachig unterrichtet. Kam ein Beamter oder Angestellter nach Aventur, musste er nachweisen, dass er beide Sprachen fließend beherrschte. An der Universität Christophstein gab es deshalb eine große Anzahl von Studenten mit mindestens wilzarischen Wurzeln, wenn sie nicht sogar wilzarische Staatsbürger waren. Und weil es im Gegensatz zu Wengland in Wilzarien keine Studienmöglichkeit für Frauen gab, war der Frauenanteil unter den wilzarischen Studierenden besonders hoch.

    Auch wenn es seit nunmehr über sechshundert Jahren zu Wengland gehörte, war und blieb es ein Zankapfel mit dem östlichen Nachbarn Wilzarien. Aber auch hier schien eine Lösung am Horizont zu sein. Zwei Jahre zuvor war mit Paul von Silla zum ersten Mal seit Jahrhunderten ein König gekrönt worden, der nicht aus dem Buchenberger Fürstenhaus stammte. Sein Vorgänger, König Livor IV., hatte zwar einen Sohn gehabt – doch hatte er diesen Sohn hinrichten lassen, weil er einem wenglischen Spion aus der Zitadelle von Buchenberg zur Flucht verholfen hatte.

    In Wilzarien erbte nach wie vor nur ein Sohn. Weder eigene Töchter des Erblassers noch andere Angehörige hatten in irgendeiner Form ein Erbrecht. Das gesamte Erbe ging an den ältesten Sohn. Hatte der Erblasser keine Söhne, ging das gesamte Erbe an den Provinzfürsten. Im Falle des Königs ging das Erbe auf den Fürstenrat über, der den neuen König dann aus seiner Mitte wählte.

    So war Paldor von Silla zum König gekrönt worden. Der Name kam von einer Stadt, die schon lange nicht mehr wilzarisch war; unter dem Namen Christophstein war Silla die Hauptstadt der wenglischen Provinz Aventur.

    Was sich die Wilzarenfürsten mit Paldor von Silla als König eingehandelt hatten, merkten sie erst, als der die absolute Macht des wilzarischen Königs in der Hand hatte. Kaum dass der letzte Fürst ihm den bedingungslosen Gehorsam geschworen hatte, hatte der neue König eröffnet, dass er das Verbot des Christentums aufhebe und dass er sich selbst zum Christentum bekenne und den Namen Paul annehme. Er widersagte der wilzarischen Sitte, nach der der König einen Harem von wenigstens zwanzig Frauen unterhielt. Weiterhin kündigte Paul an, sich nunmehr mit dem Nachbarn Wengland ein für allemal auszusöhnen und einen dauerhaften Frieden schließen zu wollen. Die wilzarischen Adligen waren hell entsetzt – und es gab durchaus welche, die an einen gewaltsamen Umsturz dachten.

    Für einen dauerhaften Frieden war eine endgültige Lösung für Aventur unumgänglich, das war König Paul klar. Da immer wieder die Behauptung kursierte, die Wilzaren in Aventur wünschten eine Rückkehr nach Wilzarien, beschloss Paul, das näher zu untersuchen – aber unauffällig. Er sandte eine ganz besondere Vertrauensperson nach Aventur …

    Kapitel 1

    Neuer Lebensabschnitt

    Für den Kronprinzen Stephan bedeutete dieser 11. Juli 1897 den Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt. Er hatte seinen zweijährigen aktiven Militärdienst beendet, war als Oberleutnant aus den Reihen der Gardepioniere ausgeschieden und würde am folgenden Tag nach Christophstein reisen, um sein Studium aufzunehmen.

    Dass er gerade Vermessungstechnik studieren wollte, hatte niemanden verwundert. Schließlich war sein Vater Doktor-Ingenieur in diesem Fach, hatte darin eine Gastprofessur an der Universität Wachtelberg und arbeitete – wenn seine Aufgaben als König Wenglands es zuließen – noch immer als freier Vermessungstechniker für sein viertes Kind, die Königlich Wenglische Eisenbahn. Aber dass Stephan ausgerechnet in Christophstein studieren wollte, bereitete seinem Vater doch gewisse Sorgen.

    Alexander hatte selbst zu oft in Grenzkonflikten mit Wilzarien um Aventur gestanden, als dass er seinen Erben gerade dort wissen wollte. Zwar hatte Stephan seinen Militärdienst dort geleistet, aber er hatte das Glück gehabt, dass in den beiden Jahren seiner Dienstzeit kein neuer Krieg wegen der Provinz ausgebrochen war. Der König wusste noch nicht recht, was er von seinem neuen Kollegen auf wilzarischer Seite halten sollte und mochte dem Angebot zu endgültigen Friedensverhandlungen nicht wirklich trauen.

    Doch Stephan hatte darauf bestanden, nicht in Wachtelberg zu studieren. Ihm war die Gefahr zu groß, dass sein Vater ihn als dortiger Professor für Vermessungstechnik entweder zu sehr bevorzugen oder zu sehr unter Druck setzen würde. Das jedenfalls war Stephans offizielle Version, weshalb er gerade nach Aventur zurück wollte.

    Der wirkliche Grund hatte lange Beine, dunkle Haare, rehbraune Augen, beim Lächeln niedliche Grübchen in den Wangen und hieß Sandra Habermann. Er wusste, dass Sandra wilzarischer Herkunft war und dass sie in Christophstein Jura studieren wollte. Sie waren sich im März des Jahres 1897 bei einem Tag der offenen Tür in der Pionierkaserne von Christophstein begegnet – und es hatte sofort gefunkt.

    Stephan sah auf die Parade, aber er war nicht bei der Sache. Seit Wochen freute er sich auf seine Abreise am 12. Juli nach Christophstein, freute sich auf das Wiedersehen mit Sandra – aber darüber konnte er mit seinen Eltern einfach nicht sprechen. Dass ausgerechnet er, der Thronfolger Wenglands, eine in eine Wilzarin verliebt war, konnte er bei aller Toleranz seiner Eltern nicht offen aussprechen.

    Seine offensichtliche Geistesabwesenheit deutete sein Vater falsch, dafür entschuldigend. Er war der Meinung, Stephan befasse sich intensiv mit einem Vermessungsproblem, das sie am Abend zuvor besprochen hatten und das auch noch beim Frühstück Thema gewesen war.

    Wenn Stephan sein Studium aufnahm, würde er in seinem Fach kein Anfänger mehr sein. Er war unter den Fittichen eines Vermessungsingenieurs aufgewachsen und hatte schon als Junge gelernt, mit einem Theodoliten umzugehen. Rein aus Jux hatte Stephan den Steinburger Burgberg mit den Gerätschaften seines Vaters vermessen, die Werte auf eine Karte übertragen und nachgezeichnet. Unter Anleitung seines Vaters hatte er die Vermessung in Holz nachgebaut – und es war ein fast originalgetreues Abbild des Burgberges im Maßstab 1:100 herausgekommen. Von diesem Moment an hatte Alexander das offensichtliche Talent seines Ältesten gefördert. Genau genommen würde das Studium für Stephan ein Wiederholungskurs mit staatlichem Abschluss sein.

    Am folgenden Tag brachte Alexander seinen Sohn selbst und außer dem Kutscher ohne Begleitung zum Steinburger Hauptbahnhof. Königin Simone konnte eine Bahnhofstrennung nicht ertragen. Sie hatte immer schreckliche Angst um ihre Kinder. So hatte der König seine Kinder bislang immer allein zum Bahnhof gebracht, wenn sie aus immer welchen Gründen ohne ihre Eltern reisen mussten. Nie hatte er das Gefühl gehabt, dass es sich um einen unabsehbar langen Abschied handeln könnte. Doch diesmal beschlich ihn eine eigenartige Ahnung.

    „Du fährst in eine Gegend, bei der mir nicht ganz wohl ist, Stephan", sagte er, als sie auf dem Bahnsteig auf den Zug warteten.

    „Was soll schon passieren, Vater?, fragte der junge Mann. „Im Dezember sind Semesterferien, und ich komme heim. Ich hab’ doch meinen Militärdienst auch dort abgeleistet, und du hast nie etwas dazu gesagt.

    „Da warst du Soldat, mein Junge, und deine Einheit war dort stationiert", erinnerte Alexander.

    „Damit, dass ich die Uniform ausgezogen habe, habe ich nichts davon verlernt, wenn du das meinst. Außerdem haben du und Großpapa immer gesagt, dass ein Wengländer immer Soldat sei, ob mit oder ohne Uniform. Und Paul von Wilzarien gehört nicht zu der Sorte Wilzaren, die auf Aventur scharf sind."

    „So? Wer sagt das?"

    „In Christophstein pfeifen es die Spatzen von den Dächern. Hat Paul dir nicht sogar schon direkte Verhandlungen angeboten?"

    „Ich traue den Wilzaren nicht. Ich habe zu oft erlebt, dass sie uns mit List und Tücke Aventur entreißen wollten. Mir wäre es wirklich lieber gewesen, wenn du in Wachtelberg studieren würdest."

    „Weiß ich, Paps, aber Christophstein gefällt mir nun einmal besser. Ist auch die einzige Gegend in der ich ab und zu mal ausprobieren kann, ob es sich gelohnt hat, Wilzarisch zu lernen."

    Alexander seufzte tief. Es fiel ihm schwer, seinen Sohn loszulassen …

    „Ich … wünsche dir alles Gute, mein Junge. Mach mir keine Schande", sagte er schließlich.

    „Erwartest du, dass ich Abschlussbester werde?", fragte Stephan mit verschmitztem Grinsen.

    „Mindestens!, gab sein Vater lachend zurück, auch wenn sich ein Schatten in das Lachen mischte. „Christophstein ist eine schöne Stadt, sagte er dann leise.

    „Warst du auch mal dort?"

    „Ich habe auch einen Teil meiner Militärzeit in Aventur verbracht. Daran denke ich zwar nicht gern, aber Christophstein … oh ja, davon träume ich manchmal noch."

    „Grund?", fragte Stephan.

    „Wenn man zum ersten Mal richtig verliebt ist, dann ist jede Gegend rosarot."

    „Oh, wer war sie?"

    „Jedenfalls nicht deine Mutter; der bin ich erst viel später begegnet. Ich habe mir oft gewünscht, ich hätte deine Mutter schon damals gekannt. So schön weit weg von allen Anstandswachen …, erwiderte Alexander. „Aber das ist kein Freibrief, mein Sohn!, schränkte er dann ein. „Ich erwarte, dass du fleißig studierst und einen guten Abschluss machst."

    „Jawohl, Majestät!", bestätigte Stephan grinsend.

    „Auf Gleis drei fährt ein Schnellzug nach Christophstein über Ahrenstein, Wutzbach, Turmesch, Rothenfels, Buchhausen. Nach Markbach in Ahrenstein umsteigen, nach Limmstedt in Wutzbach umsteigen, nach Karlstedt in Turmesch umsteigen!", rief der Aufsichtsbeamte aus, als der Zug einrollte und mit quietschenden Bremsen am Bahnsteig zum stehen kam. Dampf entwich zischend aus den Bremsventilen. Alexander und sein Sohn gingen am Zug entlang, bis sie zu einem Wagen der II. Klasse kamen.

    „Eins versteh’ ich nicht: Wieso reist du eigentlich nicht I. Klasse?", fragte der König, als er dem angehenden Studenten das Gepäck hinaufreichte.

    „Ach, Paps, ich möchte ein stinknormaler Studiosus sein, erwiderte Stephan mit einem Seufzen. „Ich erinnere mich, dass mein Herr Papa das auch immer gewollt hat und außerhalb von Steinburg nur ungern der Kronprinz war … Wir haben viel gemeinsam, Vater.

    „Daraus schließe ich, dass niemand in Christophstein weiß, wer du wirklich bist", schmunzelte der König.

    „So ist es. Dort bin ich als Stephan Steiner eingeschrieben."

    „Du Lümmel!", schalt Alexander, aber der Klang machte deutlich, dass es ironisch gemeint war. „Ich habe mich ja wenigstens noch von Steinburg genannt."

    „Zieht nicht mehr, der Trick ist bekannt, Paps. Deshalb habe ich mich fürs volle Inkognito entschieden. Außerdem … falls doch was schiefgeht, wissen die Wilzaren nicht sofort, dass Wenglands Kronprinz unter ihrer Nase tanzt."

    „Das beruhigt mich jetzt mehr, als du ahnst, mein Junge."

    „Nach Christophstein bitte einsteigen und Türen schließen! Vorsicht an der Bahnsteigkante!", rief der Aufsichtsbeamte, ein schriller Pfiff ertönte. Stephan schloss die Abteiltür und zog das Fenster hinunter.

    „Bis Weihnachten, Papa. Grüß Mama und die Kleinen."

    „Ja, mache ich. Lass es dir gutgehen und schreib bitte mindestens einmal in der Woche. Und telegrafiere unbedingt gleich, wenn du angekommen bist. Mama macht sich sonst Sorgen. Du kennst sie ja."

    Stephan nickte. Der Fahrdienstleiter hob die grüne Kelle, die dem Lokführer die geschlossenen Türen der Wagen signalisierte. Die Dampfpfeife der Lok fiepte schrill auf, als das Ausfahrtsignal auf „Freie Fahrt" klappte. Der Zug setzte sich mit einem heftigen Ruck in Bewegung. Stephan blieb am offenen Fenster stehen und winkte, bis der Zug in die Kurve hinter dem Bahnhof fuhr, wo die Strecke gen Osten nach Ahrenstein abzweigte.

    Zum ersten Mal in seinem Dasein als Vater hatte Alexander ein flaues Gefühl in der Magengrube, als er die roten Schlusslichter des Zuges am Ende der Kurve hinter dem Steinburger Stadtwald verschwinden sah.

    ‚Hoffentlich bereut Stephan seine Entscheidung nicht‘, durchzuckte es den König. Langsam ging er zur Empfangshalle, vor der Gottlieb, sein persönlicher Diener, mit der Kutsche auf ihn wartete.

    „Majestät sehen nicht glücklich aus", bemerkte der Diener.

    „Wie soll ich glücklich sein, wenn ich meinen Jungen wieder hergeben muss, kaum dass er zu Hause war?", seufzte Alexander.

    „Darf ich Majestät daran erinnern, dass der Herr Außenminister Walter in einer Stunde einen Termin bei Ihnen hat?", fragte Gottlieb.

    „Ja, danke, Gottlieb. Fahren Sie nach Hause."

    Kapitel 2

    Bekanntschaften

    Kaum dass der Zug den Steinburger Hauptbahnhof verlassen hatte und die Silhouette der heimatlichen Burg hinter der Talbiegung verschwunden war, schob Stephan das Fenster wieder hoch und setzte sich auf den Fensterplatz in Fahrtrichtung. Das Abteil war – abgesehen von seinem Platz – leer. Er griff in die Innentasche seine Jacke und nahm einen Brief heraus, dem anzusehen war, dass er schon oft gelesen worden war.

    Stephan las den Brief mit einem Lächeln. Seine Sandra! Was für ein Mädchen! Die junge Dame wilzarischer Herkunft hatte es dem Königssohn mit einer Macht angetan, die ihn völlig umgerissen hatte.

    Dass sie eine Bürgerstochter mit Studienabsichten war, konnte seine Eltern nicht stören. Schließlich war seine Mutter ebenfalls bürgerlich erzogen und gebildet, seine Großmutter war eine Bürgerstochter gewesen. Aber der Umstand, dass Sandra wilzarisches Blut hatte, konnte Schwierigkeiten machen. Zwar waren Ehen zwischen Wengländern und Wilzaren nicht verboten, waren gerade in Aventur eher normal als eine Ausnahme, doch Stephan sollte eines Tages den Thron erben – und eine Königin mit Wilzarenblut auf Wenglands Thron, das ging gar nicht! Das konnte gut einen Volksaufstand geben.

    Die meisten Wengländer mochten den Wilzaren nicht verzeihen, dass sie in den nun über tausend Jahren, die es Wengland als Königreich gab, immer wieder Streit gesucht hatten. Mit erschreckender Regelmäßigkeit waren wilzarische Heere mindestens seit dem Jahr 1200 immer wieder mit so erbarmungsloser Grausamkeit über Südwengland, zuweilen auch Eschenfels, Karlsfeld und Hirschfeld hergefallen, dass es geradezu sprichwörtlich war, zu sagen: Hier sieht’s ja aus, als hätten die Wilzaren gehaust, wenn etwas massiv unaufgeräumt oder großflächig beschädigt war …

    Stephan hatte die Geschichte der Könige Wenglands aufmerksam gelesen. Jeder König oder Fürst hatte versucht, mit Wilzarien einen Ausgleich zu finden, was seit 1265 regelmäßig an der Aventurfrage gescheitert war. Seit König Ranador die Provinz 1265 nach einem verlorenen Krieg die Provinz als Sicherheitszone hatte abtreten müssen, hatten seine Nachfolger immer wieder eine Rückeroberung versucht, hatte Wengland wenigstens hundert Kriege mit Wilzarien nur um

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