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Psychotherapie in Würde: Logotherapie konkret
Psychotherapie in Würde: Logotherapie konkret
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Ebook264 pages3 hours

Psychotherapie in Würde: Logotherapie konkret

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About this ebook

Die von Viktor E. Frankl begründete Logotherapie ist eine Psychotherapieform, die sich seit Jahrzehnten durch Kriegs- und Wohlstandsperioden hindurch zum Glück und im Unglück vieler Menschen bewährt hat. Ihre Erfolgsrate ist erfreulich hoch. Sie hilft auch in schweren Krisensituationen, noch geistig beweglich zu bleiben und neue Sinnmöglichkeiten zu entdecken. Bei all ihren ausgereiften Methoden setzt sie auf die unverlierbare Würde der Person, der sie zutraut, im Wechselspiel von Freiheit und Verantwortung über die eigenen Probleme und Schwächen hinauszuwachsen.

Im vorliegenden Buch berichten zwei Expertinnen der Logotherapie von ihren Erfahrungen. Die Leserinnen und Leser mögen sich anhand authentischer Fallgeschichten und deren professionellen Kommentierungen selbst davon überzeugen, wie segensreich diese Psychotherapieform wirkt.
LanguageDeutsch
Release dateMar 31, 2020
ISBN9783000654060
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    Psychotherapie in Würde - Elisabeth Lukas

    Eine kurze Einführung

    in die Logotherapie

    (Fragen von Bernd Ahrendt an Elisabeth Lukas)

    Bernd Ahrendt ist Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Personalmanagement, an der FOM Hochschule in Hannover. Er ist 2018 nach Wien gereist, um Elisabeth Lukas zu interviewen. Um die Leserinnen und Leser in einige Grundlagen der Logotherapie einzuführen, hat Bernd Ahrendt zugestimmt, dass Passagen aus seinem Interview hier abgedruckt werden.

    Ahrendt: Frau Prof. Dr. Lukas, können Sie in kurzen Zügen die Quintessenz der Logotherapie darlegen?

    Lukas: Viktor Emil Frankl, Jahrgang 1905, hat als junger Arzt seine Forschungen mit zwei Fragen gestartet, die ihn als angehender Psychiater sehr beschäftigt haben. Die erste Frage lautete: „Was macht den Menschen zum Menschen? Gibt es überhaupt etwas spezifisch Humanes? Die zweite Frage lautete: „Was erhält den Menschen seelisch gesund bzw. lässt ihn im Krankheitsfall wieder gesunden? Insbesondere die zweite Frage war zu Frankls Zeit innovativ. Denn alle damaligen Koryphäen der Seelenheilkunde fragten ausschließlich nach den Ursachen einer Krankwerdung und nicht nach den Gründen einer Gesundwerdung.

    In Beantwortung seiner ersten Frage kam Frankl der „Geistigkeit des Menschen auf die Spur, die er als die „dritte Dimension des Menschseins definierte. Man muss bedenken, dass damals in Anlehnung an die gängige Philosophie nur von „Leib (= erste Dimension) und „Seele (= zweite Dimension) die Rede war, und dass in der aufkeimenden Wissenschaftsdisziplin der Psychologie der althergebrachte Seelenbegriff einfach mit „Psyche" übersetzt wurde. Unter Psyche wurden dann unsere Kognitionen und Emotionen subsumiert. Damit war jedoch alles spezifisch Humane ausgeblendet, denn Gefühl und Verstand gibt es ja (bis zu einem gewissen Grad) auch bei den Tieren. Will man Urmenschliches erheben, muss man schon in jene geistige Dimension vorstoßen, in der Frankl Phänomene wie unsere (potentielle) Willensfreiheit und Verantwortlichkeit, unser ethisches und künstlerisches Gespür, oder unsere Suche nach Sinn und unsere Sehnsucht nach einem Letztsinn (Gott?) lokalisiert hat. Diese Phänomene übersteigen den tierischen Horizont, wie auch – in moderner Betrachtung – den Horizont intelligenter Computer und Roboter.

    In Beantwortung seiner zweiten Frage entdeckte Frankl die immense Bedeutung der Sinnperspektive für die (leib-)seelische Stabilität des Menschen. Gerade wenn es ernst wird im Leben, ist es ganz entscheidend, ob noch ein Sinn im Weiterleben gesehen wird oder nicht. Aber auch ein Wohlstandsleben verliert an Behaglichkeit, wenn es sinnentleert ist. In Zusammenschau dieser bahnbrechenden Erkenntnisse gründete Frankl seine „sinnzentrierte Psychotherapie genannt „Logotherapie. Sie versteht sich als eine „Psychotherapie vom Geistigen her und auf Geistiges hin".

    Ahrendt: Was hat Frankl auf seinem Forschungsweg bestätigt?

    Lukas: In den 1930er Jahren des letzten Jahrhunderts hat Frankl am psychiatrischen Krankenhaus „Am Steinhof in Wien gearbeitet. Dort hatte er die Gelegenheit, mit Hunderten von sehr kranken und schwer depressiven Patientinnen zu sprechen. U. a. erfuhr er von ihren Kindheitsnöten, von ihren Enttäuschungen und seelischen Verletzungen. Da hatte er den Einfall, eine Kontrolluntersuchung durchzuführen, indem er zahlreiche gesunde Personen (Ärzte, Krankenschwestern, Studenten …) interviewte, und siehe da: Bei diesen seelisch „normalen und unauffälligen Leuten, die ihren Berufen nachgingen und ihren Alltag tadellos meisterten, fand er ähnlich viele Traumen, Enttäuschungen und Verletzungen in deren Vorgeschichten, wie bei seinen Patientinnen. Daraufhin ließ Frankl die alte Trauma-Theorie von Sigmund Freud fallen. Er erkannte, dass es zwar pathogene, also krankmachende Faktoren im Leben gibt, dass es aber parallel dazu auch protektive, also schützende Faktoren gibt. Und dass, wenn genügend Schutzfaktoren vorhanden sind, die krankmachenden Faktoren an Gefährlichkeit einbüßen. Heute ist diese These unumstritten. Längst weiß man aus der Allgemeinmedizin, dass z. B. Infektionen sich hauptsächlich dann auswirken, wenn das Immunsystem einer Person geschwächt ist; bzw. umgekehrt wenig Schaden stiften, wenn die Krankheitsabwehr des Organismus gut entwickelt ist. Im seelischen Bereich zählt nun die innere Sinnerfüllung eines Menschen zu den stärksten protektiven Faktoren. Daraus folgerte Frankl, dass jede Förderung von Sinnfindung und Sinnerfüllung zum seelischen Genesungsprozess beiträgt. Dass dies tatsächlich funktioniert, hat er an Hand seiner reichhaltig dokumentierten Kasuistik nachgewiesen.

    Eines möchte ich dazu noch ergänzen: Die moderne Resilienzforschung hat Frankls Erkenntnisse hundertprozentig bestätigt. Alle jene „Stehaufmännchen und „Stehaufweibchen, die sich nach einem gravierenden Schicksalsschlag, der sie niedergeworfen hat, wieder aufrichten können, tun dies angesichts einer Sinnperspektive, die sie bejahen. Sie schauen nicht vorrangig auf ihr erlittenes Leid zurück, sondern verweilen in der Gegenwart, die sie unter Einbeziehung von wertorientierten Zukunftsvisionen bestmöglich gestalten. Auf diese Weise erretten sie sich selbst aus dem Pesthauch ihres Traumas (fast wie sich Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen hat).

    Ahrendt: Aber wieso bleiben dann so viele Menschen in ihrer als negativ empfundenen Vergangenheit stecken?

    Lukas: Dafür gibt es mehrere Erklärungen. Klagen ist leichter als etwas zu verbessern, beschuldigen ist leichter als Eigeninitiativen zu setzen, usf. Auch ist die herkömmliche psychoanalytische Denkrichtung nicht ganz unschuldig an dem unfruchtbaren Rückschau-Trend. Sie hat das „Wühlen in der Vergangenheit propagiert. Aber ich möchte es ihr nicht vorwerfen, denn die Psychotherapie ist eine extrem junge Fachrichtung, gerade erst rund 120 Jahre alt. Jede Evolution verläuft über die Versuch-Irrtum-Schiene, und so war es auch hier. Man hat ein therapeutisches Hilfskonstrukt nach dem anderen entwickelt, stets dazulernend, wo man korrigieren musste. Auch Frankl war ein wichtiger „Korrektor. Inzwischen ist die psychoanalytische Illusion, dass mit dem Aufdecken einer seelischen Krankheitsursache diese Krankheit weichen würde, dahingeschmolzen. Die aufdeckenden Strategien haben sich nicht bewährt, abgesehen davon, dass sie meistens mit zu viel unbewiesener Spekulation behaftet sind.

    Ahrendt: Hat das unter Umständen auch damit zu tun, dass es häufig nicht nur eine Ursache gibt, die zu einer seelischen Erkrankung führt bzw. führen kann?

    Lukas: Im Laufe der Fortschritte, die die Neurobiologie und Neuropsychologie seit Freuds Zeiten gemacht haben, hat sich gezeigt, dass die Krankheitsursachen enorm miteinander vernetzt sind. Die Genforschung hat uns die Augen dafür geöffnet, dass mehr seelische Dispositionen auf die Veranlagung zurückgehen, als man früher geahnt hat. Man erbt nicht bloß blonde Haare oder blaue Augen, sondern auch Charakterneigungen wie Suchtneigungen, hysterische oder melancholische Neigungen. Das heißt nicht, dass man eine entsprechende Krankheit ausbrüten müsste, sondern nur, dass man – bei gewissen Veranlagungen – vorsichtig sein sollte. Diese endogenen Dispositionen mischen sich dann mit exogenen Einflüssen, aber keineswegs nur seitens der Eltern und Erzieher. Die Medien mixen kräftig mit, und die gesellschaftlichen Strömungen sind auch nicht zu unterschätzen.

    Aber all das ist noch immer nicht das Essentielle. Denn zu dem gesamten Mischmasch aller Einflüsse tritt das Selbstgestaltungspotential des Menschen dazu und verleiht diesem seine jeweilige Endausprägung. Auch Kinder sind schon eigene kleine Persönlichkeiten und treffen ihre eigenen individuellen Wahlen. Obwohl die geistige Dimension bei den kleinen Menschlein teilweise noch „schläft bzw. nicht ausgereift ist, blitzt sie dennoch durch das Psychophysikum hindurch und bestimmt mit, was aus einem Menschlein wird. Kinder sind keinesfalls bloß „Erziehungsprodukte ihrer Eltern. Und Erwachsene sind auch keine puren Opfer ihrer vergangenen Umstände.

    Ahrendt: Das würde bedeuten, dass jeder einen deutlichen Einfluss auf sein Leben hat. Bereits als Kind, aber eben auch als erwachsener Mensch.

    Lukas: Richtig. Es ist (nach einem berühmten Gleichnis von Frankl) wie bei einem Baumeister. Die genetischen Anlagen und die diversen Umwelteinflüsse bilden gleichsam das Baumaterial, das einem Menschen zur Verfügung steht. Leider ist dieses Baumaterial nicht gerecht verteilt. Manche Erdenbürger erhalten ein fantastisches solides Baumaterial: Sie haben liebevolle Eltern, einen gesunden Körper, leben in einem friedlichen Land … Andere Erdenbürger finden minderwertiges Baumaterial vor: Ein asoziales Milieu, Armut oder Kriegswirren. Jetzt aber tritt die „dritte Dimension hinzu: Der Baumeister verwendet sein Material in personaler Komposition. Und sehen Sie: Mancher Baumeister, der die wunderbarsten Marmorblöcke bekommen hat (z. B. ein grandioses musikalisches Talent oder ein prachtvolles Vorbild an Nächstenliebe), lässt die Blöcke unbearbeitet liegen und vergammeln. Manch anderer Baumeister, dem nur unscheinbare bröckelige Sandsteine zugeteilt worden sind (z. B. ein niedriges Geburtsgewicht, keine schulische Förderung etc.), baut daraus ein heimeliges Häuschen oder eine hübsche Kapelle am Wegesrand. „Der Mensch ist das Wesen, das immer entscheidet, hat Frankl gesagt. „Und was entscheidet es? Was es im nächsten Augenblick sein wird."

    Ahrendt: Sie haben vom Begriff des Sinns berichtet, der in Frankls Konzepten einen gewichtigen Platz einnimmt. Können Sie diesen Begriff genauer erläutern?

    Lukas: Zunächst möchte ich die Begriffe „Sinn und „Werte differenzieren. Werte sind „Sinn-Universalien. Der Sinn ist hingegen „unikal. Das bedeutet, dass der „Sinn des Augenblicks", wie Frankl ihn nannte, ausnahmslos in Bezug zu einer bestimmten Person in einer bestimmten Lebenssituation steht. Er ist das Optimale (für alle Beteiligten), das diese eine Person aus dieser einen Situation machen kann. Wozu sie sozusagen „gerufen ist. Um es an uns beiden, Herr Professor, zu exemplifizieren: Für mich ist es der „Sinn des Augenblicks, Ihre Fragen so gut zu beantworten, wie ich kann. Würde ich zum Beispiel sagen: „Verehrter Herr Professor, heute ist draußen ein freundliches Wetter, deswegen halte ich es für sinnvoll, jetzt einen Spaziergang zu machen, dann würden Sie antworten: „Nein, nein, Frau Dr. Lukas, das ist jetzt nicht sinnvoll. Ich bin von Deutschland her angereist, um mit Ihnen einen Dialog zu führen. Sie haben mir dafür Ihre Zusage gegeben. Daher ist es jetzt sinnvoll, dass Sie hier sitzen bleiben und weiter mit mir plaudern! Das Beispiel demonstriert: Ein fröhlicher Spaziergang bei freundlichem Wetter hat durchaus einen Wert. Nur – dieser Wert ist bei mir momentan nicht „dran". Er ist nicht an der Reihe, realisiert zu werden. Später am Nachmittag jedoch, wenn wir uns verabschiedet haben, kann es durchaus sinnvoll sein, dass ich nicht am Tisch sitzen bleibe, sondern mich vor dem Schlafengehen noch etwas bewege.

    Genauso ist der „Sinn des Augenblicks" von Person zu Person verschieden. Wenn Sie mich später verlassen werden, wird etwas anderes auf Sie warten als auf mich. Im Fazit: Der Sinn ist ein immerwährender und ein immer anderer. Solange wir bei Bewusstsein sind, gibt es eine Sinnmöglichkeit für uns, egal, wie unsere jeweilige Situation auch beschaffen sein mag. Menschen, die ein reichhaltiges Wertsystem haben, also viele Werte in ihrem Leben kennen, tun sich natürlich leichter, den jeweiligen „Sinn des Augenblicks zu entdecken, denn irgendein Wert ist ständig „dran. Allerdings müssen sie aufpassen, dass sie die übrigen Werte in der Warteschleife halten und sich von diesen nicht unter Druck setzen lassen. Und dass sie bei aller Fülle nicht vergessen, dass auch die eigene Erholung und Rekreation ein hoher Wert ist.

    Ahrendt: Wie ist das eigentlich mit den drei Wertkategorien, die Frankl entwickelt hat?

    Lukas: Frankl sprach von „drei Hauptstraßen der Sinnfindung", den schöpferischen Werten, den Erlebniswerten und den Einstellungswerten. Wobei die schöpferischen Werte und die Erlebniswerte praktisch jedermann geläufig sind. Sie bilden eine Brücke zwischen Mensch und Welt. Schöpferisch schafft man etwas Neues in die Welt hinein. Zum Beispiel strickt eine Frau einen Pullover. Sie schenkt ihn „der Welt und freut sich, wenn er dem Empfänger passt. Bei den Erlebniswerten geht umgekehrt etwas Beglückendes von der Welt aus; wir werden quasi von „der Welt beschenkt. Allerdings gilt dabei die Voraussetzung, dass wir uns innerlich für dieses Geschenk öffnen und seinen Wert zu schätzen wissen. Das Wandern durch die freie Natur ist z. B. nur für denjenigen ein wertvolles Erlebnis, der eine Antenne für die Schönheiten der Natur hat. Wer stöhnend und jammern dahinstapft und nichts von den Blüten und Fluren ringsum wahrnimmt, der bringt sich selbst um den Erlebniswert.

    Kommen wir zu den Einstellungswerten. Für Frankl waren sie die höchstmöglichen Werte, die ein Mensch verwirklichen kann, weil sie die am schwierigsten zu verwirklichenden sind. Sie haben nicht mit Freude zu tun (wie die schöpferischen oder die Erlebniswerte), sondern mit Schmerz, denn sie stellen sich – nur und erst – dann zur Wahl, wenn ein Unglück geschehen ist, Hoffnungen verloren worden sind oder Menschen an unüberwindliche Grenzen gelangen. Kann in solchen Fällen noch eine Aktion unternommen werden, um die missliche Lage zu verbessern, so hat diese Aktion (im Sinne von schöpferischen Werten) selbstverständlich den Vorrang; sie hat die Priorität. Hat etwa jemand seinen Arbeitsplatz verloren, ist es gewiss sinnvoll, sich um einen neuen umzuschauen. Kann jedoch nichts mehr unternommen werden, um das Unglück zu eliminieren, ist man also mit einem unabänderlichen Leiden konfrontiert, etwa dem Verlust eines geliebten Menschen, dann kommt es darauf an, wie man dieses Leiden trägt und erträgt. Immer noch kann man sich auf unterschiedliche Weise dazu einstellen. Man kann seine Wut und seinen Hader mit dem Schicksal wild hinausbrüllen, man kann in dumpfer Verzweiflung versinken … man kann sich aber auch zu einer heroischen Akzeptanz durchringen und damit eine wertvolle Einstellung (= einen Einstellungswert) verwirklichen. Sie hat die Superiorität. Wenn sich z. B. jemand denkt: „Ich habe viel Gutes im Leben empfangen. Ich habe jahrelang das Geleit einer geliebten Person genossen, dafür will ich dankbar sein, auch wenn ich jetzt allein bin. Die Liebe stirbt nicht mit dem Tod, sie bleibt in meinem Herzen lebendig …" u. ä., so ist dies bei aller Trauer eine großartige Einstellung.

    Die Bedeutung der Einstellungswerte scheint insbesondere in folgendem Kontext auf: Einem biologischen Gesetz zufolge erzeugen Frustrationen automatisch Aggressionen. Auf psychophysischanimalischer Ebene ist eine Aggression nämlich nichts anderes als ein Kräftezufluss. Wird z. B. ein Tier von einem anderen Tier gejagt, ist das im biologischen Terminus eine Frustration, auf die hin das Tier „aggressiv wird, also durch Hormonausschüttungen die Kraft erhält, um sein Überleben zu kämpfen oder zu flüchten. Beim Menschen sind Frustrationen gewöhnlich seelische Bedrängnisse, die ihn ebenfalls „aggressiv machen, aber im Unterschied zu den Tieren kann der Mensch wählen, wofür er seinen biologischen Kräftezufluss verwendet. Auch er kann kämpfen, flüchten, sogar sich selbst schädigen (was Tiere nicht tun), oder die gewonnene Kraft verwandeln in eine noble Einstellung – dort, wo Kämpfen oder Flüchten sinnlos wäre.

    Ahrendt: Aber man spürt doch diese Wut, diesen immensen Zorn in sich.

    Lukas: Ja, das ist wahr. Deshalb lassen sich viele Menschen verleiten, ihre Wut „irgendwohin zu leiten, an „irgendjemandem auszulassen. Sie machen es wie der Tiger im Zirkus, der, wenn er Zahnweh hat, den Dompteur angreift. Den Dompteur, der am Zahnweh des Tigers unschuldig ist! Fachlich nennt man das eine „Übertragung" (der Aggression an den falschen Adressaten). Nur ist der Mensch eben mehr als ein Tiger, weshalb Übertragungen in unserer menschlichen Gesellschaft unethisch sind. Wenn sich ein Mann über seinen Chef ärgert, abends heimkommt, den Hund tritt und seine Frau anschreit, also seinen Ärger an Unbeteiligten und Unschuldigen abreagiert, so hilft ihm das wenig. Er vermehrt nur das Leid in der Welt, und sein Problem ist damit nicht gelöst. Da ist es wesentlich besser, entweder den Konflikt mit dem Chef tapfer anzugehen (= schöpferische Werte zu verwirklichen), z. B. durch klärende Aussprachen, berufliche Umorientierung etc., oder – wenn gar keine Alternative möglich sein sollte – sich positiv zu der Situation einzustellen, indem der Mann sich etwa sagt, dass er schließlich einen Arbeitsplatz hat, was super ist, dass er seine Familie ernähren kann, was ebenfalls positiv ist, und dass er auch noch lernen wird, die Eskapaden seines Chefs seelisch souverän an sich abgleiten zu lassen ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Das wäre eine beachtliche Einstellung, die er entwickeln könnte.

    Ahrendt: Da verlangen Sie ganz schön viel vom Menschen: Zum einen Selbstreflexion, um die Situation zu erkennen, und zum anderen das Aushalten von Leid.

    Lukas: Nicht ich verlange das, sondern „der Logos" verlangt das. Es ist die einzig sinnvolle Art, mit Schmerz und Kummer umzugehen; alles andere potenziert Schmerzen und Kummer, und das brauchen wir in unserer Menschenfamilie am allerwenigsten.

    Ich möchte dem etwas hinzufügen: Die wahren Helden sind nicht diejenigen, die auf steinernen Denkmälern prunken, weil sie Ländereien erobert und Schlachten geschlagen haben, sondern die eigentlichen Helden sind oftmals ganz einfache Leute. Sie sind verbreiteter, als Sie, Herr Professor, sich das vorstellen. Zahllose Menschen haben genug Herzensbildung, um die Kette des Leides abreißen zu lassen, wenn es nötig ist; man muss sie nur erkennen und ihre Leistungen würdigen. Nehmen wir an, eine Frau liegt im Krankenhaus und kann des Nachts nicht schlafen, weil ein Wundschmerz sie quält. Morgens betritt eine Krankenschwester ihr Zimmer, und die Frau wünscht ihr lächelnd einen guten Morgen. Was ist da passiert? Die kranke Frau hat eine fürchterliche Nacht hinter sich, aber sie schwingt sich zu einem freundlichen Gruß auf. Sie hat Schlechtes empfangen und gibt Gutes weiter. Das ist Heldentum! Und das liegt der Potenz nach in jedem Menschen, nicht nur das Böse, das sich perpetuiert. Es ist nicht unmöglich, erfahrenes Schlimmes mit ausgeteiltem Liebevollem zu beantworten – und genau darum bittet uns „der Logos".

    Ahrendt: Gibt es demnach etwas Größeres, das uns immer dazu aufruft? Aufruft, liebevoll in die Welt hinein zu wirken?

    Lukas: Es ist egal, wie Sie jenes geheimnisvolle „Größere nennen, Fakt ist, dass der Mensch nicht der Macher von allem ist. Wir sind nicht der „Macher von Sinn. Wir können Sinn nur demütig suchen, finden, ihn verwerfen oder ihm folgen, nicht aber seine inhaltliche Botschaft nach unseren Wünschen „verdrehen". Frankl meinte dazu lakonisch, dass es nicht darauf ankommt, was wir vom Leben zu erwarten haben, sondern darauf, was das Leben von uns erwartet. Meistens fühlen wir, was von uns erwartet wird. Wenn Sie auf der Straße gehen und ein alter Mann stürzt vor Ihnen auf den Gehsteig, dann fühlen Sie in Ihrem Innersten, was das Leben jetzt von Ihnen erwartet. Freilich können Sie gleichgültig an dem Gestürzten vorübergehen. Der Sinn zwingt Sie zu gar nichts. Aber er bittet Sie klar vernehmlich, inne zu halten und dem Gestürzten aufzuhelfen.

    Ahrendt: Sind das nicht meine moralischen Vorstellungen, die ich mitbekommen habe?

    Lukas: Auch, aber nicht allein. Sie haben nicht nur durch Ihre Erziehung allerhand Wegweisung mitbekommen, sondern auch qua Menschsein. Sie tragen ein „Sinn-Organ (= Gewissen) in sich. Es gibt genug Studien, die belegen, dass Menschen die alten Weisungen aus ihrer Kinderstube mit Nonchalance über Bord werfen können. Personen, die mit engen moralischen Ansichten aufgewachsen sind, brechen daraus aus und schwelgen in verbotenem Amüsement. Andere strampeln sich bravourös aus einem kriminellen häuslichen Milieu heraus. Wie bereits dargelegt, ist der „Baumeister (= die geistige Person) ununterbrochen am Werken, egal, welches „Baumaterial" ihm zu Füssen liegt.

    Menschsein heißt, eine Instanz in sich zu haben, die den Ruf des „Logos" vernimmt. Menschsein heißt aber auch, die Entscheidungsmacht zu besitzen, diesen Ruf zu ignorieren oder ihn zum Leitmotiv zu erküren.

    Ahrendt: Aber wo lernt man das denn? Wo lerne ich, diese Mächtigkeit zu spüren und zu wissen, wozu ich in einer bestimmten Situation aufgefordert bin? Was das Sinnvolle ist, das ich jetzt tun soll? Das unter Umständen nicht mich in den Mittelpunkt setzt, sondern anderes und andere?

    Lukas: Sie haben Recht, aus der Warte des Sinns bildet das Ich nicht den Mittelpunkt geistiger Erwägungen. Dennoch ist die Spaltung zwischen Egoismus und Altruismus eher eine illusorische. Wenn man sich für andere Menschen engagieren will, muss man sich selbst fit erhalten. Wer sich krass überarbeitet und dabei selbst schindet, handelt nicht sinnvoll – auch nicht, wenn er sich im Dienst an andere abrackert. Sein „Dienen" verliert kontinuierlich an Qualität, und er selbst verliert an Kompetenz. Das umgekehrte Übel kennen wir ebenfalls. Wer nur an sich selbst und seinem eigenen Wohlergehen interessiert

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