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Der blonde Todesgott: Die Geschichte eines Psychopathen
Der blonde Todesgott: Die Geschichte eines Psychopathen
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Der blonde Todesgott: Die Geschichte eines Psychopathen

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About this ebook

Dies ist die Geschichte des Judenjungen Simon und seines verrückten Leidensgefährten Augustin, die sich im Frühjahr 1942 in einem Keller der Millionenstadt Prag vor der Gestapo versteckt halten. Augustin bildet sich ein, der berühmte Heurigensänger gleichen Namens aus dem Wien des Jahres 1679 zu sein.
Ihre verzweifelte Lage spitzt sich dramatisch zu, als die anonyme Gefahr in Gestalt eines SS- Offiziers, der die Wohnung über ihrem Versteck bezieht, konkrete Form annimmt: Reinhard Braumann, groß, drahtige Statur, blondes, streng gescheiteltes Haar, psychopathische Züge. SS- Standartenführer im Sicherheitsdienst des Reichssicherheitshauptamtes und zuständig für besonders schwierige Aufgaben. Scharfsinn und Skrupellosigkeit, Gnadenlosigkeit und Pragmatismus verbinden sich bei ihm in idealer Weise mit fast unbegrenzten Kraftreserven, brennendem Ehrgeiz, Mut und Kaltblütigkeit.
Was ihn besonders gefährlich macht: Er ist auf der Jagd nach dem Mitwisser des bestgehüteten Geheimnisses des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler, nämlich die an ihm im Jahre 1918 im Reservelazarett Pasewalk vom Greifswalder Psychiater Edmund Forster vorgenommene und angeblich immer noch fortdauernde Hypnose. Er muss unbedingt herausfinden, was die Bewohner des Kellers unter ihm darüber wissen und wer sich hinter dem verrückten Augustin wirklich verbirgt.
Für die Lösung dieses brisanten Falles hat er sich eine außergewöhnliche Methode ausgedacht, eine teuflische Mischung aus Hoffnung, Enttäuschung und Angst. Es beginnt der ungleiche Kampf Mann gegen Mann, Psychopath gegen wehrloses Opfer, bei dem es nach dem genialen Plan Braumanns nur einen Sieger geben kann, nämlich ihn selbst.
Doch nach dem Attentat auf Reichsprotektor und Sicherheitschef Heydrich, eine der schillerndsten und widersprüchlichsten Figuren des Dritten Reiches, überschlagen sich die Ereignisse. Braumann lädt eine schwere Schuld auf sich, die ihn verfolgen wird und die er in diesem Leben nicht abtragen kann.
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateDec 18, 2013
ISBN9783849573935
Der blonde Todesgott: Die Geschichte eines Psychopathen
Author

Eberhard Knippel

Eberhard Knippel wurde 1947 in Berlin geboren. Er ist Naturwissenschaftler und arbeitete lange Zeit in der medizinischen Forschung. Nun hat er sich der Belletristik zugewendet. Von ihm erschienen bereits die Erzählung Der Tempel sowie die Romane Amina, Der blonde Todesgott, Der Fluch der bösen Gene, Das Geheimnis der trügerischen Schatten und Die Jahrtausendwette.

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    Der blonde Todesgott - Eberhard Knippel

    Erster Teil

    Die Zuflucht

    Prolog

    Undurchdringliche Dunkelheit umgab mich, kein Laut drang an mein Ohr, es herrschte eine unheimliche Stille. Ein ungeheurer Druck lastete auf mir, ich versuchte mich zu bewegen, doch es gelang mir nicht. Die Last über mir drohte mich zu erdrücken, und ich hatte das Gefühl zu ersticken. In Bruchteilen einer Sekunde durchzuckte mich ein Gedanke, ein undenkbarer Begriff, das Grauen der menschlichen Existenz an sich: Ich war lebendig begraben.

    Dieses unbeschreibliche Grauen mobilisierte meine letzte Energie. Ich geriet in Panik und stemmte mich mit ganzer Kraft gegen den schweren Gegenstand über mir. Er war kalt und weich und gab nach, als ich ihn berührte. Mit großer Mühe gelang es mir, ihn etwas zur Seite zu bewegen. Durch einen schmalen Spalt traf mich ein Strahl trüben, milchigen Lichts und ich erkannte nun die Gegenstände, die mich umgaben, genauer.

    Mein Herzschlag stockte: Es waren Leiber, menschliche Körper, kalt und starr. Der Verstand weigerte sich, diese Entdeckung zu akzeptieren, doch die Wirklichkeit belehrte mich eines Besseren. Soweit ich durch den schmalen Spalt auch blickte, überall sah ich menschliche Körper, einer über dem anderen, neben dem anderen, in seltsamen Verrenkungen, mit angewinkelten Armen und Beinen und aufgedunsenen Bäuchen. Sie lagen so, als seien sie in aller Eile in diese schreckliche Grube geworfen worden. Alle lagen durcheinander, Frauen auf Männern, Männer auf Frauen, auch ein Kind war darunter. Es lag auf der Brust seiner Mutter.

    Plötzlich wurde die unheimliche Stille unterbrochen, es raschelte neben mir. Soweit es mir möglich war, drehte ich meinen Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch kam – und blickte in kleine, rotgeränderte Augen, die mich neugierig anstarrten. Die feinen Witterhaare der Ratte waren starr aufgerichtet, sie schien zu spüren, dass sie nun, unter der Masse der sich auflösenden toten Leiber, plötzlich etwas Lebendigem gegenüberstand. Sie schien genauso erschrocken zu sein wie ich, doch die Erstarrung dauerte nur Sekunden. Ich hob abwehrend meinen Arm, sie reagierte sofort, huschte über die toten Körper hinweg und war augenblicklich im trüben Dämmerlicht verschwunden.

    Unter großer Anstrengung versuchte ich, meinen Kopf noch weiter zu drehen. Da sah ich neben mir einen alten Mann liegen, zerfurchtes Gesicht, eingefallene, starre Züge, dunkle Augenhöhlen, die Augen unnatürlich weit aufgerissen, als könne er das Geschehene noch immer nicht begreifen. Soweit ich es in der Dämmerung erkennen konnte, war seine Haut merkwürdig dunkel verfärbt, aus dem halb geöffneten Mund ragte eine blaue Zunge. Eine wahrhaft groteske Maske des Grauens.

    Halb fasziniert, halb entsetzt von diesem Anblick glitt mein Blick weiter an seinem Körper hinab, ganz automatisch, wie von einem inneren Zwang gelenkt. Sein Hals lag bloß, und daraus ragte eine blauschwarze Beule hervor, aus der dicker Eiter quoll. Die Ratte, schoss es mir durch den Kopf, und meine Lippen formten sich tonlos zu einem Schrei, zu diesem schrecklichen, lähmenden, alle Hoffnung auslöschenden Wort: die Pest.

    Zu dem namenlosen Schrecken, dass ich lebendig begraben war, gesellte sich nun auch das Grauen dieser neuen Erkenntnis: Ich lag, lebendig wie ich war, in einer Grube unter lauter Pestleichen, alle im Endzustand der Seuche, die sie dahingerafft hatte, in der Zersetzung begriffen. Ja, in der Zersetzung, denn ich wusste: Hatten sie ihr Leben erst einmal ausgehaucht, wurden ihre Körper ein willkommener Brutplatz für Insekten aller Art, aus deren Eiern Larven schlüpften, die sich an der toten Substanz gütlich taten.

    Und erst die Millionen und aber Millionen von Pesterregern, die sich in den vereiterten Pestbeulen sammelten. Jede intensive Berührung mit einem einzigen Pestkranken, das wusste ich, führt unweigerlich zum Ausbruch der Erkrankung; wie sicher war dieser Ausbruch dann erst hier, wo Dutzende von Pestleichen neben und über mir lagen. Selbst wenn es mir gelänge, mich durch die übereinander liegenden Berge aus toten, starren Körpern an die Oberfläche zu kämpfen, war ich keineswegs gerettet. Schon jetzt hatte ich die Erreger in mir, ja, ich meinte ihren Pesthauch geradezu zu spüren, wie sie in meinem erschöpften Körper ihre Arbeit begannen, effizient und erbarmungslos, wie die Natur es ihnen eingegeben hatte. Und so wurde mir immer klarer, dass ich verloren war.

    Angstschweiß trat mir ins Gesicht, Hunderte Tröpfchen perlten auf meiner Stirn. Alles, was ich jemals über diese furchterregende Seuche gehört hatte, stand wie im Zeitraffer vor meinen Augen. Gestalten mit Schnabelmasken bewegten sich zwischen den Toten, räuchernd und sich zu ihnen hinabbeugend in einem aussichtslosen Kampf. Die Toten wiederum drehten sich im wilden Tanz, irre, schamlos, und in ihrer Mitte der Meister persönlich, der Gevatter Tod, sein Knochengesicht zu einer grinsenden Maske verzerrt, allwissend, allmächtig. Er winkte mir zu, kam heran und flüsterte: „Komm’ her Geselle, tanze mit uns, du gehörst nun dazu." Er kam noch näher heran, legte seine kalte Knochenhand auf meinen Arm und zog mich in den Kreis der Totentänzer.

    Da erwachte ich. Oder sollte ich besser sagen, ich befand mich nun in einem undefinierten Dämmerzustand, in der Schwebe zwischen Wirklichkeit und Traum? Jeder Mensch kennt diesen Zustand, die Traumwelten haben einen noch nicht vollständig losgelassen, sodass das wirkliche Leben nur zögernd von uns Besitz ergreift. Man könnte in solchen Augenblicken nicht mit Sicherheit sagen, was Traum ist und was Wirklichkeit, denn alles, was zum eigenen Leben gehört, alle Gewissheiten und Gefühle, mit denen man am Vortag eingeschlafen ist, gelangen erst nach und nach wieder ins Bewusstsein.

    In einem solchen Dämmerzustand ist es sehr wichtig, womit einen die Realität empfängt. Sind es Signale, die wir mit positiven Inhalten verbinden, oder solche, die negative Empfindungen hervorrufen. Es herrschte zwar wieder völlige Dunkelheit, wie in meinem Traumgrab, wieder war die Luft stickig und ich atmete schwer. Doch ich war immerhin nicht lebendig begraben, sondern hörte ………………… Bach. Musik für Solovioline, eine der dreißig Variationen aus der Partita in d-moll, wie ich von meinem Leidensgenossen, dem lieben, aber leider etwas verrückten Augustin wusste.

    Doch die genaue Bezeichnung der Musik war mir gleichgültig, denn sie war mir ohnehin zur Lieblingsmusik geworden, nicht nur deshalb, weil sie für mich eine wesentliche Verbindung zur Außenwelt darstellte, nein, sie war überhaupt nicht von dieser Welt, weder von der feindlichen dort draußen, noch von unserer hier unten. Sie schien direkt vom Himmel zu kommen. Jedenfalls kam es mir so vor, denn in den Augenblicken, wo ich sie hörte, konnte ich die Welt um mich herum vergessen, und das war viel in einer Zeit, in der unser Leben ständig in Gefahr war und nur das zeitweilige Vergessen einen vor dem Verrücktwerden bewahren konnte.

    Nie habe ich so intensiv wie in jenen Tagen empfunden, dass Sebastian Bach dem Ursprung der Musik näher war als jeder andere Mensch, und seit dieser Zeit ist jede Musik für mich mit seiner auf eine unerklärliche Art verbunden. Ich jedenfalls konnte vollständig in ihr aufgehen. Und so ging es mir auch jetzt, kurz nach dem Erwachen. Der böse Traum hatte sich in der Unendlichkeit dieser Musik aufgelöst, und seine Bedrohlichkeit war einem angenehmen Gefühl des Geborgenseins gewichen, das durch die regelmäßigen Atemzüge des armen Augustin neben mir noch verstärkt wurde.

    Alles schien gut, wenigstens für diesen Augenblick. Doch als ich noch diese beruhigenden Gedanken hatte und mich ganz von der Musik treiben ließ, brach sie so plötzlich, wie sie eingesetzt hatte, ab. Und als ob es nicht schon gereicht hätte, aus meinem schönen Musiktraum gerissen worden zu sein, geschah nun etwas, das ich nur allzu gut kannte: Ich war in einen neuen Albtraum geraten, der eine hatte den anderen abgelöst, nur dieser hier war ganz real, aus ihm konnte ich nicht erwachen.

    Von einer Sekunde zur anderen befiel mich eine dieser gefürchteten Angst- und Panikattacken. Mein Herz begann zu rasen, und ich hatte das Gefühl, mein Hals sei zugeschnürt und ich würde keine Luft mehr bekommen. Alles erschien mir plötzlich verändert, die Dunkelheit war noch beklemmender als sonst und die Schritte waren plötzlich so laut, als ginge jemand neben mir auf und ab. Ja, diese Schritte über mir, diese verfluchten Schritte, sie waren die Ursache für meine Attacken, das wusste ich nur allzu genau.

    Schritte, werden Sie sagen, was sind denn schon Schritte. Zu jedem Menschen gehören Schritte, einer geht wie der andere, was ist schon dabei. Doch glauben Sie mir, Sie täuschen sich gewiss. Kein Schritt eines Menschen gleicht dem eines anderen. Und ich wette mit Ihnen, dass die Schrittfolge eines beliebigen Menschen geradezu einzigartig ist und Sie seine Schritte aus Tausenden anderen Schritten heraushören.

    Schritte können einen schon in den Wahnsinn treiben, insbesondere solche von Menschen, die Stiefel tragen und feste Gewohnheiten haben wie der Bewohner der Räume über unserem Versteck. Die Schritte begannen an einer beliebigen Stelle des Zimmers, immer in der gewohnten Art, immer der gleiche wippende Schritt, der harte Klang der Absätze, der zeitliche Abstand des Aufsetzens. Und sie endeten stets an einer markanten Stelle des Raumes, direkt über unserer Schlafstelle. Hier verharrten sie für eine kleine Weile, immer die gleiche Zeit, man konnte den Sekundenzeiger einer Taschenuhr danach stellen. Wenn man den Atem anhielt, war es ganz ruhig, kein Laut war zu hören, so, als hätte es diese Schritte nie gegeben.

    Doch plötzlich, nach einem bestimmten Schema, setzten die Schritte wieder ein und entfernten sich von der besagten Stelle, um nach kurzer Zeit, genau in der gleichen Weise, wieder zu ihr zurückzukehren, wiederum zu verharren und sich dann zu entfernen. Die Prozedur wiederholte sich Dutzende Male, bis der Spuk plötzlich vorüber war und wieder die Musik einsetzte oder aber vollkommene, unheilverkündende Stille eintrat.

    Nun können solche Schritte an sich natürlich harmlos sein. Viele Dinge sind unter bestimmten Umständen harmlos, unter anderen hingegen gewinnen sie an Dynamik und können zu einer Gefahr werden, mitunter sogar zu einer tödlichen. So war es in unserem Fall. Der verrückte Augustin und ich hatten uns vor der Gestapo versteckt, irgendwo in der Millionenstadt Prag des Jahres 1942, denn die deutsche Besatzungsmacht hatte etwas gegen Geisteskranke und Juden. Und als ob das noch nicht gereicht hätte, wollte es der Zufall, dass die Wohnung über unserem Kellerversteck von der SS konfisziert wurde und vor kurzem dort ein strammer Standartenführer eingezogen war und es sich behaglich machte. Somit saßen wir in der Falle, denn ein Verlassen unseres Verstecks war natürlich viel zu gefährlich.

    Doch auch das reichte unserem Schicksal noch nicht, denn genau die Stelle über unseren Köpfen, wo die Schritte immer innehielten, war ein tödlicher Punkt. Dort befand sich nämlich ein geheimer Einstieg in unser Kellerverlies, zwar in aller Eile noch gut getarnt durch einen Teppich, worauf eine Kommode stand, doch zu allem Unglück arbeitete der SS- Standartenführer für den berüchtigten Sicherheitsdienst der SS im Reichssicherheitshauptamt, und der war dafür bekannt, hinter alle Geheimnisse zu kommen, jedenfalls hinter die meisten, es war alles nur eine Frage der Zeit.

    All diese Zufälle ergaben ein tödliches Gemisch, das zu jeder Zeit explodieren konnte. Und so werden wir weiterhin die Luft anhalten, wenn die Schritte genau über unseren Köpfen verharren, wir werden jedes Mal aufs Neue zittern und nach Luft ringen, und wenn die Schritte sich dann wieder entfernen dieses unglaubliche Gefühl der Erleichterung spüren, Sekunden nur, unbeschreibliche Sekunden, geschenkte Zeit, bis die Schritte sich wieder nähern, unerbittlich verstummen und über uns stehen bleiben, unendlich lange Zeit, und alles von vorn beginnt.

    Wir sind unserem Schicksal auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, und das Schicksal heißt, dem jungen, bösen Todesgott dort oben zu gehören, der solche himmlische Musik auf seiner Geige spielt, obwohl er doch ein Teufel ist, der seinen Daumen nur zu senken braucht und der nur ein Urteil kennt: den Tod, sofort oder später, etwas später. Wenn, ja wenn er den geheimen Einstieg in unser Versteck entdeckt. Oder eben nicht, das ist unsere Chance, vielleicht zehn Prozent. Aber eine andere gibt es für uns nicht. Wir sind auf diese zehn Prozent angewiesen, unser beider Leben hängt an diesen zehn Prozent wie ein totes Insekt an einem hauchdünnen Spinnweben.

    Doch die Zeit arbeitet gegen uns, jede quälend lange Sekunde zwischen zwei Stiefelschritten bringt uns einer Entdeckung unwiederbringlich näher, dem unsagbaren und undenkbaren Ende. Das Schicksal aber, meint mein Freund Augustin immer, schert sich nicht darum, ob es undenkbar ist oder nicht, es geht unbeirrt seinen Weg, jetzt und in alle Ewigkeit.

    Ein und ein halbes Jahr früher: Am Tag des Einmarsches der Wehrmacht in Paris nimmt sich ein deutscher Emigrant im Hotel Trianon in der Rue de Vaugirard das Leben. In seinem Nachlass befinden sich brisante Papiere, die das Dritte Reich verändern könnten, denn sie gewähren einen einzigartigen Einblick in die Psyche Adolf Hitlers, des Führers und Reichskanzlers des Deutschen Reiches und mächtigsten Mannes Europas. Die Jagd auf das Staatsgeheimnis Nummer eins beginnt. SS- Gruppenführer Reinhard Heydrich, der Chef des Berliner Reichssicherheitshauptamtes, schickt einen seiner besten Agenten in die französische Hauptstadt.

    Der jüdische Junge in seinem Versteck in Prag und der Agent des deutschen Sicherheitsdienstes – noch ahnen sie nicht, dass ihre Leben auf schicksalhafte Weise miteinander verknüpft sind. Beide haben ihre Träume und kämpfen ihren Kampf, doch jeder auf einer anderen Seite der Front.

    1

    Dies ist eine Geschichte von Menschen und ihrer Verführbarkeit und inneren Größe, von Menschen voller Eitelkeit und Gier nach Macht, Lust und ihrem kleinen Glück, geschlagen mit Blindheit und getrieben von verzweifelter Hoffnung. Und doch ist es keine alltägliche Geschichte, denn jede Geschichte ist einmalig wie auch jeder Mensch einzigartig ist.

    Böiger Wind peitschte feine Regentropfen durch die Grachten von Amsterdam. Der alte Mann hatte Mühe, sich vor der Nässe zu schützen. Den Mantelkragen hochgeschlagen, den Hut tief in der Stirn kämpfte er sich schwer atmend voran, scheinbar ohne Ziel, immer nur vorwärts. Für nichts hatte er Augen, nicht für die wenigen Passanten, die wichtige Erledigungen aus ihren warmen Wohnstuben getrieben hatten, nicht für die bizarren Wolkenfetzen am Himmel, die der Wind vor sich her trieb, und auch nicht für die ersten Lichter, die den Spätnachmittag ankündigten.

    Der alte Mann war aufgewühlt, denn er hatte gestern eine Postsendung erhalten, die seine Vergangenheit jäh wieder aufleben ließ. Immer und immer wieder stand ein Bild vor seinen Augen, das er einst irgendwo gesehen hatte. Kein anderes war so voller Spannung gewesen wie dieses, einer Spannung zwischen zwei extremen Polen, nämlich abgrundtiefer Bösartigkeit und völliger, blinder Vertrauensseligkeit. Ein Kardinal in rotem Gewand sitzt in weltfremder, ja geradezu schmerzhaft anmutender Ahnungslosigkeit in einem Sessel, während hinter ihm sein Mörder mit hassverzerrtem Gesicht schon die Hand mit dem Dolch erhoben hat. Der Betrachter erwartet jeden Moment den tödlichen Stoß. Wenn es ein Bild gab, das seine damalige Situation in ihrer ganzen Dramatik erfasste, dann war es dieses.

    Doch durch die Post hatte sich plötzlich alles verändert, denn alles war anders, als er bisher dachte. Damals, während des Krieges, hatte er sich als Jude vor der Gestapo verstecken müssen, um der Deportation in ein Konzentrationslager zu entgehen. Die alten Bilder standen wieder vor seinen Augen: das dunkle, feuchte Kellerverlies, sein Leidensgefährte, der verrückte Augustin, sein geliebter Schutzengel Libena, der beide unter Lebensgefahr versorgt hatte, dann der geheimnisvolle Unbekannte, der ihm letztlich die Flucht ermöglichte, und die quälende Ungewissheit über das Schicksal seiner Freunde aus dieser Zeit, die ihn ein Leben lang verfolgte.

    Bis gestern, als er dieses Tagebuch las, von dessen Existenz er nichts gewusst hatte. Erst jetzt fügte sich alles zu einem Ganzen, das aber ganz anders war als das, woran er bisher glaubte. Die beiden Menschen, die er in seinem Leben am meisten geliebt hatte, waren tot, seit über 50 Jahren, hingerichtet nur wenige Minuten nach seiner Flucht. Und er hatte nichts geahnt, die ganzen Jahre nicht. Das machte ihm am meisten zu schaffen.

    Und so ging das nun schon seit Stunden, der alte Mann irrte immer durch die gleichen Gassen, er sah nicht die Menschen, denen er begegnete, und spürte nicht den Regen auf seiner Haut. Doch plötzlich blieb er stehen. Er fröstelte und zog seinen Hut tiefer ins Gesicht. Dann ging er zielgerichtet auf den Eingang eines imposanten Gebäudes zu und verschwand in dessen Inneren. Es war das Rijksmuseum.

    Er eilte durch die hohen, Respekt einflößenden Räume und blieb schließlich vor einem Bild Rembrandts stehen, das den Titel „Die Judenbraut" trägt. Es zeigt das alttestamentarische Paar Isaak und Rebecca auf der Flucht. Lange Zeit stand der alte Mann mit dem markanten Gesicht unter silbergrauem Haar, den grauen Augen und buschigen Brauen, seinen Hut in der Hand, andächtig vor dem Bild, ganz versunken in das großartige Kunstwerk. Doch plötzlich schreckte er aus der Versenkung, denn ein Mann mittleren Alters hatte sich zu ihm gesellt und betrachtete das Bild ebenfalls aufmerksam. Nach einiger Zeit des Schweigens wandte er sich an seinen Nachbarn.

    „Das Bild ist einzigartig, nicht wahr? Diese Farben: feuerrot und sonnengelb, beleuchtet von einem aus der Höhe herabfallenden Strahl, und über allem weht ein Hauch von Bronze. Dieses Bild sagt Dinge, für die es einfach keine Worte gibt."

    „Man muss schon mehrmals gestorben sein, um so zu malen", erwiderte der alte Mann.

    „Wieder ein Zitat. Van Gogh. Es gibt wirklich nichts, was nicht schon einmal gedacht oder gesagt wurde. Darf ich fragen, ob Sie ein Rembrandt- Spezialist sind?"

    Der alte Mann lachte. „Ich bin Schriftsteller, mich interessiert Rembrandt so wie mich Bach und Mozart interessieren."

    „Für einen Laien wissen Sie aber gut Bescheid. Ich unterhalte mich, ehrlich gesagt, lieber mit klugen Laien als mit dummen Kollegen, die sich einbilden, schon alles zu wissen."

    Der Fremde lächelte hintergründig, ein offenes, sympathisches Lächeln, wie der alte Mann fand. „Übrigens, ich heiße Graf, Matthias Graf, Kunsthistoriker aus Bremen. Und ich freue mich immer, wenn ich irgendwo auf der Welt einen Landsmann treffe."

    „Simon Stein, stellte sich der alte Mann seinerseits vor. „Ich lebe in New York, wenn ich nicht gerade auf Reisen bin.

    „Was führt Sie denn ins alte Europa? Lassen Sie mich raten: Sie sehen sich jetzt Rembrandt in Holland an, um dann nach Wien zu fahren und sich Mozart und Beethoven anzuhören. Recht so, Künstler muss man dort erleben, wo sie gewirkt haben."

    Stein lachte. „Keine schlechte Idee, aber eigentlich bin ich aus einem anderen Grunde hier. Ich habe mich meiner Vergangenheit gestellt. Er machte eine kleine Pause und betrachtete sein Gegenüber eingehend, so als prüfe er dessen Eignung, Zeuge seines inneren Kampfes zu werden, dieses überaus intimen Ringens um seine Identität. Der offene Blick des Kunsthistorikers ermunterte ihn, und die überbordende Fülle an widerstrebenden Gefühlen in seinem Inneren zwang ihn geradezu weiterzureden. „Ich bin vor meiner eigenen Vergangenheit geflohen. Wie Ahavser. Sie kennen Ahavser?

    „Sie meinen den legendären Juden, der zu ewiger Wanderschaft verurteilt war, weil er Jesus von Nazareth auf dessen letzten Weg nach Golgatha Rast und Erfrischung verweigert hatte?"

    „Ja, er ist die Symbolfigur für das jüdische Schicksal, eine Legende nur, doch manchmal sind Legenden sehr lebendig, sie treiben uns um. Stein überlegte einen Augenblick. „Aber vielleicht kann man Legenden ja auch umdeuten, um ihnen ihre große Brisanz zu nehmen. Vielleicht war meine Flucht vor der Vergangenheit nicht nur der unbewusste Versuch einer Verdrängung, sondern ein Ausdruck des menschlichen Bedürfnisses nach Veränderung.

    „Einer Veränderung zum Guten?"

    „Vielleicht. Stein räusperte sich. „Ich bin Jude. Wenn Sie das nicht wissen, verstehen Sie meine Geschichte nicht. Heute ist es einfach, so etwas zu sagen, es kommt einem leicht über die Lippen. Aber es gab Zeiten, da konnte dieses Bekenntnis das Todesurteil bedeuten.

    „Sie meinen damals im Dritten Reich?"

    Stein nickte, und wieder überwältigte ihn die Erinnerung, wie gestern beim Studium der neuen Dokumente. Er konnte seine Erregung kaum verbergen. „Ich hatte eine Vergangenheit, bis gestern. Jeder Mensch braucht eine Vergangenheit, doch plötzlich ist alles ganz anders. Können Sie sich vorstellen, wie mir zumute ist?"

    Graf sah ihn verständnislos an, er konnte ihm nicht folgen.

    „Wie sollten Sie auch, Sie kennen ja meine Geschichte nicht. Und mehr zu sich selbst fuhr Stein mit leiser Stimme fort. „Man darf nicht versuchen, die Dinge festzuhalten, die man verloren hat. Dann verliert man sie unwiederbringlich ein zweites Mal.

    „Aber wir haben doch die Erinnerung daran."

    Stein lächelte gequält. „Hat unsere Erinnerung wirklich noch etwas mit unserer wirklichen Vergangenheit zu tun? Glauben Sie das? Wir selbst verfälschen unsere eigene Erinnerung mit der Zeit immer mehr, weil wir zu eng mit ihr verbunden sind. Bei jemand anderem sind unsere Erinnerungen wahrscheinlich besser aufgehoben."

    „Nicht umsonst erzählen die Menschen gern Geschichten."

    „Ja, Geschichten erzählen. Sie haben Recht, ich möchte Geschichten erzählen, was soll ein Schriftsteller auch anderes tun? Ein unbestimmtes Gefühl in seinem Inneren drängt ihn dazu. Aber meine eigene Geschichte aufschreiben, das möchte ich nicht, ich bin zu eng mit ihr verbunden. Ich muss sie jemand anderem überlassen, das bin ich den Menschen schuldig, die darin eine Rolle spielen, und das verlangt auch die Wahrhaftigkeit."

    Es entstand eine Pause. Stein musterte seinen Gesprächspartner, er wirkte angespannt, so als überlege er etwas. Dann sagte er kurz entschlossen: „Ich mache Ihnen ein Angebot und überlasse Ihnen die Rechte an meiner Geschichte mit allen daraus entstehenden Honoraren. Das Buch wird sich gut verkaufen, Sie werden es nicht bereuen."

    „Und die Gegenleistung dafür? Sie werden sicher verzeihen, aber bei soviel Uneigennützigkeit werde ich misstrauisch."

    „Ich verlange nichts von Ihnen, außer dass Sie mir zuhören."

    Graf überlegte kurz. „Auch ich mache Ihnen einen Vorschlag. Hier in der Gegend gibt es ein Cafe, wo man sich ungestört unterhalten kann. Auf dem Weg dorthin lasse ich mir Ihren Vorschlag durch den Kopf gehen. Sind Sie damit einverstanden?

    „Gut, ich bin sicher, Sie werden annehmen."

    Als sie das Museum verließen, hatte sich das Wetter etwas beruhigt. Die tief hängenden Wolken ließen nun größere Lücken frei, durch die der dunkelgraue Abendhimmel von

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