Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Jupiter 403: Krieg der zwei Schwerter
Jupiter 403: Krieg der zwei Schwerter
Jupiter 403: Krieg der zwei Schwerter
Ebook670 pages9 hours

Jupiter 403: Krieg der zwei Schwerter

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

DER ZWEITE BAND DER TRILOGIE - KAMPF DER EPOCHEN

Unruhige Zeiten herrschen auf dem Königsstern, als Hypatia und Myia im Herzen der Hauptstadt Neo-Rom mit ihrem Raumtransporter landen. Unvermittelt geraten sie in den schwelenden Konflikt zwischen dem Kaiser und seiner Heiligkeit, dem Pontifex Maximus. Im Wettlauf gegen die Intrigen ihrer Widersacher entspinnt sich ein Spiel aus Tarnung und Täuschung, der den Bund der Schwestern auf eine harte Probe stellt.

Die Reise der beiden Mädchen durch die Unendlichkeit der Galaxie findet im Kampf gegen die Willkür der Mächtigen, die Tücken der mittelalterlichen Investitur
und die Deutungshoheit des Klerus ihre spannende Fortsetzung.

Für Leser*innen, die schon immer wissen wollten, was eine Walnuss mit dem Anbeginn der Zeit zu tun hat, weshalb es unklug ist, Thomas Hobbes' Leviathan zu unterschätzen, und was es bedeutet, Teil des größten Experiments der Menschheitsgeschichte zu sein.
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateDec 9, 2020
ISBN9783347197282
Jupiter 403: Krieg der zwei Schwerter

Related to Jupiter 403

Related ebooks

Fantasy For You

View More

Related articles

Reviews for Jupiter 403

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Jupiter 403 - M. D. Strodtbeck

    IM LEUCHTTURM I

    Meist erwache ich, bevor die Bretter des Fensters entfernt werden und das warme Licht des anbrechenden Tages die Schatten der Nacht vertreibt. Die mich umgebende Dunkelheit raubt mir in den Augenblicken zwischen Schlaf und Erwachen oft die Orientierung, als ob für mich nur der eine Weg aus Hypnos’ Reich existiert, der durch einen dichten, finsteren Wald führt. Kein Phosphorus weit und breit erhellt den Pfad, keiner der Monde wacht am Firmament.

    Und genau in dieser kurzen Zeitspanne des Halbschlafes empfinde ich etwas, was dem Begriff der Zuversicht am nächsten kommt. Etwas, das ich als vage Hoffnung umschreiben könnte, oder besser gesagt, als Sehnsucht, endlich an einem anderen Ort aufzuwachen.

    Und so wundere ich mich Morgen für Morgen, dass die Monotonie der Umgebung seit meiner Ankunft keine Spuren in meinem Gedächtnis hinterlässt. Im Gegenteil, ich habe den Eindruck, dass sich mein Erinnerungsvermögen dagegen sperrt, diese Gefangenschaft als das anzuerkennen, was sie mittlerweile ist: Normalität. Um mir diese Leere zu nehmen, denke ich ständig über den Ursprung von allem nach, nur vorwärts komme ich dabei nicht. Ich trete auf der Stelle wie die exerzierenden Wachen auf dem Innenhof unter mir.

    Aber die Fragen, die sich mir aufdrängen, sind die richtigen. Sie kosten Zeit. Und die habe ich im Überfluss.

    Wo also beginnt sie, die Zeit? Und, was noch wichtiger ist: Wer begann die Zeit? Ein Gott? Stand am Anfang tatsächlich sein Wort, wie es im Johannes-Evangelium geschrieben steht? Diese Vorstellung gefällt mir, gerade weil sie so abstrakt, ja geradezu philosophisch klingt. Dennoch erklärt sie nichts. Zumindest nichts Konkretes.

    »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.«²

    Das Alte Testament dagegen beginnt greifbarer, denn Gott der Allmächtige soll die Welt in sechs Tagen erschaffen haben. Am ersten Tag schied er das Licht von der Finsternis, am zweiten schuf er das Himmelsgewölbe, und am dritten trennte er das Festland vom Meer. Den Himmelskörpern widmete er sich am vierten Tag und erschuf am fünften die Tiere des Wassers und der Luft. An seinem letzten Arbeitstag kümmerte er sich um die Landtiere, danach um die Menschen. Am siebten Tag ruhte er. Kann es wirklich so einfach gewesen sein?

    Wer aber liegt näher an der Wahrheit? Die Bibel oder die griechisch-römische Religion? Der Glaube der Menschen des Jupiters oder der meiner Heimat? Hat überhaupt eine Seite ins Schwarze getroffen? Wenn es den Allmächtigen tatsächlich gibt, was ist dann mit Prometheus? Taugt er nicht zu mehr als zu einer netten Geschichte, mit der man kleine Kinder unterhält? Ich selbst bin mit dieser Wahrheit, falls es denn eine ist, aufgewachsen und habe sie lange Zeit nicht in Frage gestellt wie vieles, was mir erzählt wurde.

    Demnach brachte Prometheus seinen Geschöpfen alles bei, damit sie ein angenehmes Dasein führen konnten. Er schenkte ihnen unter großen Schwierigkeiten das Feuer, ja er wollte es den Menschen gar ersparen, Opfer für die Götter erbringen zu müssen. Doch die Olympier wurden alsbald eifersüchtig, auch hatten sie die Geschichte mit dem gestohlenen Feuer noch nicht vergessen und schickten den naiven Menschen ein trügerisches Geschenk. Auf Zeus’ Geheiß wurde eine wunderschöne Frau erschaffen, die mit zahlreichen Talenten gesegnet war. Der unbesonnene Epimetheus³ machte seinem Namen alle Ehre und verliebte sich sofort ihn sie. Trotz der nachdrücklichen Warnung seines Bruders heiratete er schließlich die schöne Pandora, die eine verhängnisvolle Büchse im Gepäck hatte.

    Auch ich ignorierte Vaters Warnungen. Hätte ich nicht auf ihn hören müssen? Epimetheus und ich, wir handelten aus Liebe, und doch brach das Böse über uns herein. So wurde die Welt ein trostloser Ort. Und genau hier ist es allgegenwärtig, das Übel der Welt. Dieses jähe Ende der glücklichen Menschen durch das Öffnen der Büchse, das ein Zuwiderhandeln gegen eine göttliche Regel zeigt, erinnert mich wiederum an den biblischen Sündenfall, der zu Adam und Evas Vertreibung aus dem Paradies führte. Die beiden enttäuschten den Allmächtigen, fortan hatten die Sterblichen und ihre Nachkommen Schmerzen zu erleiden.

    Beiden Vorstellungen zufolge müsste also das Leben der ersten Menschen bis zu ihrem tiefen Fall durchaus angenehm gewesen sein. Gleichzeitig aber verdeutlichen die Geschichten, dass die Krone der Schöpfungganz alleine die Verantwortung für ihr späteres Unglück trägt. Sowohl hier auf Jupiter wie auch auf Uranus. Doch all diese Überlegungen sind nur eitle Spielereien in meinem Kopf, die mir die Zeit verkürzen sollen. Ich vermeide es tunlichst, über mein eigenes Schicksal nachzudenken, das derzeit im Dunkeln liegt.

    Besonders schwer belastet das Vergessen. So, wie dem neu Erlebten der Zugang zu meinem Verstand verwehrt wird, verschwimmen die Erinnerungen an meine Lieben von Tag zu Tag, Stück für Stück. Ihre Stimmen und Konturen werden unscharf, ihre Gesichter verblassen hinter einer Wand aus aufziehendem Nebel. Er umgibt diesen Leuchtturm und dringt täglich eine Handbreit weiter durch das undichte Fenster in das schwach schlagende Herz dieser Zelle. Dabei denke ich oft an Myia. An Mutter und Vater. An Ennio, Silvana, an Vitus und die Zwillinge. Manchmal sogar an die Parzen.

    Innerhalb der zurückliegenden Monate habe ich dank Isidor die Erlebnisse meines letzten Jahres niedergeschrieben. Anfangs kam mir die Aufgabe unvorstellbar lange vor, doch sie trotzte meiner Gefangenschaft einen gewissen Sinn ab. Dass Vitus, Myia, Pantekleia und letztendlich auch ich Margaretas Fängen entkamen, grenzt rückblickend an ein Wunder. Ihr boshaftes Antlitz, als sie erkannte, dass sie uns nicht mehr aufhalten konnte, hat sich tief in mein Inneres gebrannt wie glühender Stahl in die Haut arkadischer Bullen. Ihre verzerrte Fratze glich dem letzten Kopf der Hydra. Diese Frau ist so falsch und niederträchtig, schlimmer noch als eine Chimäre aus Dysnomiaund Ate. Selbst ihr Bruder war für sie nur ein Faden unter vielen, mit denen sie ihre Intrigen spann. Dafür hat sie Talent! Als enge Verbündete des Kaisers kriecht sie durch das dichte Gras Canossas wie eine Viper unter Nattern und genießt von höchster Stelle Amnestie für ihre abscheulichen Taten.

    Isidor reicht mir zusammen mit dem Nachtmahl, ohne dass ich danach fragen muss, Papyrus und Tinte durch die Luke. Wir tauschen kaum Worte miteinander aus, dennoch ist er ein wertvoller Verbündeter. Genauer gesagt, der Einzige. Für ihn läuft unsere Beziehung vermutlich auf ein Zweckbündnis hinaus, denn aus Dank für sein Vertrauen in mich, lese ich ihm täglich vor. Nach Abschluss der Odyssee widmeten wir uns nun dem »Trost der Philosophie«. Dieses anspruchsvolle Werk scheint für den alten Fischer eine erstaunlich aufbauende Lektüre zu sein. Nach dem Ende meines Monologs verweilt er oft noch lange vor der Türe. Ich kann es ihm nachfühlen.

    Es handelt sich um auch eine unglaubliche Niederschrift, in zweierlei Hinsicht: Sie erinnert mich zum einen an mein eigenes Verhängnis. Boethius’ Worte beschreiben die Geschichte eines Philosophen im Anblick des drohenden Todes. Wie ich, sitzt er hinter dicken Mauern und steht kurz davor, den Verstand zu verlieren. Erst ein unerwarteter Besuch reißt ihn aus seiner Lethargie. Kein Isidor, sondern die personifizierte Philosophie gibt sich die Ehre, seiner Verzweiflung Einhalt zu gebieten. Dank ihrer platonisch-stoischen Formeln gelingt es ihm schließlich, sein Schicksal zu akzeptieren. Ob Isidor die Parallelen erkannte?

    »Wahrlich nur das ist Elend,

    was du selbst dafür hältst,

    und jedes Los ist ein glückliches für den,

    der es mit Seelenruhe aufnimmt.«

    Zum anderen liegt die Faszination des Textes im Zeitpunkt seiner Erschaffung. Zumindest wenn es sich beim Leser um jemanden wie mich handelt. Ich entstamme einer früheren Epoche. Für mich dürfte Boethius gar nicht existieren, und trotzdem sind seine Aufzeichnungen schon wesentlich älter als die Besiedlung des Uranus, die vor etwa vierhundert Jahren stattfand. Demnach beschäftige ich mich mit einem Werk aus der Zukunft, das bereits Jahrtausende vor meiner Geburt erschaffen wurde.

    Eine absurde Frage drängt sich mir auf: Dürften CORDISCHE Bauernkinder zumindest die Werke lesen, die es noch gar nicht gibt?

    Neben der Literatur bahnt sich ein neuer Lichtblick durch den kalten Stein, der mir die Freiheit raubt: Es ist die Ankunft eines weiteren Gefangenen. Täglich erreicht mich sein Flötenspiel wie die Mut machenden Worte eines altbekannten Freundes. Auch er wird eine gefühlte Unendlichkeit die feuchte Kälte erdulden müssen, ohne Trost und ohne Beistand, getrennt von der Hoffnung, jemals wieder dieses graue Loch verlassen zu können.

    Selbst wenn ich von heute an die Tage in unserem Verlies zählen wollte, die Zeit hier kommuniziert in einer mir unbekannten Sprache. Sie zu messen, vermag ich nicht. Vermutlich sind die Wärter ebenso dankbar wie ich, wenn Musik diese erdrückende Stille durchdringt, zumindest lässt man dem Fremden das Instrument. Wer sollte dem Kaiser auch davon berichten, immerhin liegt eine beachtliche Entfernung zwischen dem Leuchtturm und der Kaiserstadt. Wahrscheinlich reicht die Macht des Canossischen Löwen nicht bis in den letzten Winkel dieses verfluchten Landes, auch sein Einfluss hat Grenzen.

    Es leben die Musen!

    ² NT, Joh 1,1-2.

    ³ Griech.: der Danach-Denkende, im Gegensatz zu seinem Bruder Prometheus – griech.: der Vorausdenkende.

    ⁴ Griech.: die Allbeschenkte.

    ⁵ Die Redensart lässt sich bis zur »Scala Naturae«, lat. die Stufenleiter der Natur, des Aristoteles zurückführen.

    ⁶ Griech. Mythologie: die Gesetzlosigkeit.

    ⁷ Griech. Mythologie: die Verblendung.

    ⁸ Von Anicius Manilus Severinus Boethius (ca. 480–524 n. Chr.) verfasst, der als »letzter Römer« gilt.

    ⁹ Zitat aus »Trost der Philosophie« des Boethius.

    TRANSIT

    Merkwürdig, dachte ich. Der blasse gelbe Punkt vor mir war zwar da, aber sobald ich ihn nur mit einem Auge fixierte, verschwand er wieder. Wenn ich dagegen in Richtung Ariel blickte, der auf der rechten Seite in mein Blickfeld geriet, kam diese kirschkerngroße Erscheinung erneut zum Vorschein ¹⁰ . Um mich mit diesem sonderbaren Phänomen nicht weiter beschäftigen zu müssen, bewunderte ich lieber Ariels beeindruckende Schönheit. Mutter erklärte, dass er der hellste und einer der größten Monde des Uranus sei, insgesamt gäbe es mehr als zwei Dutzend Trabanten, die um ihn kreisten. Und nicht nur das. Wir passierten zahlreiche Meteoriten, die auf der Suche nach einem unbekannten Ziel träge unsere Galaxie durchkreuzten. Regelmäßig erschwerten ganze Geschwader sonderbar geformter Gesteinsbrocken den Transfer zum Jupiter, besonders wenn die Alpha-Aquariiden-Stürme ihr wiederkehrendes Unwesen trieben. Ich glaubte Mutter jedes Wort, auch wenn mich ihr belehrender Tonfall ärgerte. Schließlich hatte sie sich mit dieser Thematik schon länger beschäftigt.

    Vitus beteiligte sich nicht oft an unserer Konversation, er schien mehr mit sich selbst beschäftig zu sein. Vermutlich nagte es an dem ehemaligen Pythagoräer, dass er seiner eigenen Schwester Margareta gegenübertreten musste, um ihr klar zu machen, dass er ab sofort auf der Seite ihrer Gegner kämpfte. Die letzten Stunden vor unserer Flucht waren an Dramatik nicht zu überbieten gewesen. Erst der lange, kräftezehrende Weg ins Departorium, dann die Bedrohung durch Diotima alias Margareta und die zwischenzeitliche Befürchtung, alles zu verlieren, mussten eine schwer zu heilende Wunde in ihm aufgerissen haben.

    Für mich war es noch immer eine seltsame Vorstellung, dass auch andere Planeten besiedelt waren. Das musste mit absoluter Sicherheit das größte Geheimnis der Menschheit sein! Früher verbrachte ich mit meiner Schwester ein beschauliches Leben im Arkatal bei unserem Vater, einem stolzen Wein- und Getreidebauern, genau bis zu dem Zeitpunkt, als Mutter in unser Leben trat. Mit ihr kam die Ungewissheit, und wir verloren neben Vater jeglichen Halt. Auch wenn er es war, der uns half, dorthin zu kommen, wo wir uns jetzt befanden, nämlich in Sicherheit. Sein Schicksal war uns seither unbekannt, schwer verletzt mussten wir ihn der Gunst der Götter überlassen.

    Wenn Mutter nicht versuchte, Myia, Vitus und mich mit interessanten Fakten über das Weltall zu füttern, zog sie sich völlig in sich selbst zurück. Niemand sonst beherrschte diese Fähigkeit so perfekt. Als Kind zweier Philosophen hatte Pantekleia eine umfangreiche akademische Ausbildung genossen, unter anderem war sie in pythagoräischer Meditation geschult. Diese Seelenreisen, die mit keinem Raumschiff zu bewältigen waren, schienen sie zu stärken. Manchmal kam mir Mutters Wissen unvorstellbar umfangreich vor, sie wirkte beinahe omniszient¹¹, aber das war natürlich ein Trugschluss. Ihre Unkenntnis trat immer dann zutage, wenn es um Fragen zur praktischen Raumfahrt ging. Sie hatte keine Vorstellung von den technischen Gegebenheiten dieser Maschine, die uns durch die Unendlichkeit trug. Vermutlich fehlte ihr lediglich das Interesse daran, ansonsten hätte uns mit Sicherheit sie und nicht Vitus darüber aufgeklärt, dass wir uns in einem autonomen Transporter vom Typ Armstrong befanden. Er kannte dieses Modell vom Hinflug, anscheinend gab es aber noch größere Raumfähren, die diese Route bedienten. Die notwendige Energie bezog unser Schiff aus einem Ionenantriebssystem, welche aus Fusionsbatterien stammte. Auf die Nachfrage, was das denn genau sei, lächelte mich Vitus nur entschuldigend an. Er konnte mit diesen abstrakten Begriffen genauso wenig anfangen wie Myia und ich.

    Das wäre mit unserem Vater Kratimedes, der ein begeisterter Tüftler war, ganz anders gewesen. Er hätte sich niemals damit zufriedengegeben, einmalig auf den Knopf eines Autopiloten zu drücken und dem unsichtbaren Kutscher fortan die Navigation der gesamten Reise zu überlassen.

    Da Vitus diesen interplanetarischen Transfer bereits vor ein paar Jahren absolviert hatte, half uns sein rudimentäres Wissen, die Angst vor diesem selbstfliegenden Ungetüm zu nehmen. Zumindest in den Zeiten, in denen er seine Melancholie überwinden konnte. So kümmerte er sich vom Start weg um uns drei Flugnovizen, und zeigte beispielsweise, wie die kompliziert wirkenden Gurte, die dem Geschirr eines Pferdes vage ähnelten, anzulegen waren. Die Sitze unseres Transporters dienten gleichzeitig als Lager für die Zeit des Schlafes. Noch machte sich die fehlende Bewegung nicht bemerkbar, wovor uns Vitus, der neben Pantekleia ganz vorne saß, frühzeitig warnte. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, wie uns die Schwerkraft nach unserer Ankunft empfangen würde.

    Unser Schiff war für sieben Personen ausgelegt, sodass wir bei drei unbelegten Plätzen mehr Raum als üblich zur Verfügung hatten, doch so richtig nutzen konnten wir diesen nicht. Myias Vergleich fand ich ganz passend, als sie dieses Transportmittel als Käfig bezeichnete, in dem eigentlich bockiges Kleinvieh eingesperrt werden müsste. Die Wände glänzten wie frisch polierte Rüstungen der Servatoren. Aus dem sogenannten Cockpit sprang uns das Blinken merkwürdig aussehender Lichtquellen entgegen, deren Bedeutung mir genauso fremd blieb, wie die sonderbaren Geräusche aus dem Bug des Schiffes, die uns gelegentlich aufschreckten. Nach und nach verlor ich jedoch das Interesse an diesen kryptischen Zeichen, auch wenn sie in mir Erinnerungen an die Anfangszeit im Megaron hervorriefen. Damals hatte ich mit Myia vergebens versucht, die Zettel der Philosophenschüler zu entschlüsseln, ohne überhaupt das Alphabet zu kennen.

    Neben der Enge war die dürftige Verpflegung, die aus einer undefinierbaren gallertigen Masse bestand, die mit Abstand unangenehmste Seite unserer Reise. Als wir das erste Mal Bekanntschaft mit dieser Art von Nahrung machten, entfuhr es Myia angewidert: »Was soll das denn sein?«

    Vitus zog entschuldigend die Schultern in die Höhe und prophezeite: »Irgendwann ist euer Hunger groß genug, dann werdet ihr euch wohl oder übel fügen. Alles, was der Mensch zum Leben benötigt, befindet sich darin«

    Kritisch beäugten wir die an durchsichtiges Glas erinnernde Hülle, die einen Blick auf das undefinierbare Innere zuließ. Einerseits war sie flexibel wie ein Ahornblatt, andererseits reißfester als dünnes Leder. Im Laufe der Reise machten wir uns einen Spaß daraus, den verschiedenfarbigen Rationen die passenden Zutaten zuzuordnen. An einem Tag gab es verquirltes Kerberoi-Hirn, an dem darauffolgenden dann gehackte Phosphori-Leber mit Lupinen-Essenz.

    Ehrlich gesagt waren die Monde, die Meteoritenschwärme und das unendliche Schwarz auf Dauer wenig abwechslungsreich, genau wie das Essen. Nur Myia konnte sich an dieser interplanetarischen Landschaft gar nicht satt sehen und teilte uns Mitreisenden immer wieder aufs Neue ihre Begeisterung mit. Sie vergaß das Bein, das sie sich bei ihrer Flucht vor den Servatoren gebrochen hatte, genauso wie ihre Angst um Mutter, die nicht nur von Vitus’ Schwester Margareta da Cortona, sondern auch von diesem erbärmlichen Sextus bedroht worden war. Dieses Scheusal! Er unterschied sich von der unter dem Deckmantel einer Magistra agierenden Hydra nicht wesentlich. Anstatt mehrerer Köpfe genügte ihm der eine, jedoch hatte er zwei völlig entgegengesetzte Gesichter, die sicherlich von Janus, dem Gott des Anfangs und des Endes, inspiriert waren.

    Die Zeit hier an Bord verging ganz anders als sonst üblich. Zwar tauchte die Sonne anfangs noch regelmäßig ab und wieder auf, jedoch wurden die Übergänge der Tageszeiten umso unschärfer, je weiter wir uns vom Uranus entfernten. Bald gab es keinen Tag, keine Nacht, keine Dämmerung und keinen richtigen Morgen mehr. Wie immer fand Mutter eine plausible Erklärung. Die Bestimmung von Tag und Nacht wäre nur auf rotierenden Planeten oder Monden möglich, die von einem Zentralgestirn, also der Sonne, abwechselnd angestrahlt werden. Der Tag fand dann immer dort statt, wo sich gerade das Licht aufhielt. Nacht war dann, wenn das Sonnenlicht durch den eigenen Schatten des Planeten verdeckt wurde. Und da wir uns von unserem Heimatplaneten kontinuierlich entfernten, löste sich der Tag-Nacht-Rhythmus folglich immer mehr auf. Darüber hinaus befanden wir uns zudem in einem luftleeren Raum, dem sogenannten Vakuum¹².

    Ich erinnerte mich, wie unsere Lehrerin Aspasia über bestimmte Philosophen gesprochen hatte, die sie als Vorsokratiker¹³ bezeichnete. Diese Denker hatten, wie der Name schon sagte, vor Sokrates gelebt. Manche von ihnen wurden den sogenannten Atomisten zugerechnet, denn sie entwickelten eine Vorstellung von den Grundbausteinen¹⁴ der Materie und die These einer besonderen Leere im Fall der Abwesenheit jener Teilchen. Später ging dann diese materialistische Lehre als Fundament in die epikureische Philosophie ein. Im Vakuum befindet sich nur ganz wenig Materie, die sich durch den Raum bewegen kann, um die Möglichkeit zur Interaktion zu haben. Vielleicht war das Vakuum, das uns hier umgab, aber gar nicht so leer? Aspasia hatte daran geglaubt, dass sogar ihre Seele aus einzelnen Atomen aufgebaut war, die sich nach dem Tod auflösten, um in den Kosmos überzugehen. Sie musste sich demnach hier um uns herum in den Weiten des Weltalls befinden! Myia und ich hatten dieser Frau vieles zu verdanken, sie brachte uns neben dem Schreiben und Lesen auch alle philosophischen Grundlagen bei.

    Meine Schwester war neben mir eingenickt. Ich strich ihr die Haare aus dem Gesicht und bettete ihren Kopf bequemer. Wenn ich doch auch etwas ausruhen könnte! Aber sobald ich die Augen schloss, holten mich Erinnerungen ein, die mich nur allzu schnell wieder dem Schlaf entrissen.

    Als ich nach draußen blickte, lag Ariel noch immer zu meiner Rechten inmitten der niemals endend wollenden Finsternis.

    »Wo befindet sich wohl der Anfang der Unendlichkeit«, fragte ich Mutter, um mich abzulenken.

    Pantekleia gab zuerst keinen Ton von sich. Ich kannte diese Eigenart, wie immer wägte sie ihre Worte sorgfältig ab. »Viele Philosophen haben sich schon mit ihr befasst. Die griechischen Denker legten großen Wert auf das Einhalten eines bestimmten Maßes. Daher war ihnen das Begrenzte, was sich beschreiben, messen oder wiegen ließ, grundsätzlich sympathisch. Wohingegen ihnen das Unbegrenzte oder Unendliche suspekt vorkam, weil es sich einer einfachen Einordnung widersetzte. In dieser Anschauung war Platon ein Kind seiner Zeit, auch für ihn lag die Vollkommenheit im Endlichen. Seine Ideen entsprachen wichtigen Bestandteilen, die der unstrukturierten Endlosigkeit Form und Stabilität geben sollten. Im Timaios¹⁵ unterscheidet er das ›immer Seiende, welches kein Werden zulässt‹, von dem ›immer Werdenden, welches niemals zum Sein gelangt‹.«

    »Das klingt genauso unverständlich wie die Unendlichkeit selbst«, bemerkte Myia gähnend.

    Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie aufgewacht war, und musste über ihren Einwurf schmunzeln. Mutter runzelte unwillig die Stirn. Manchmal ließ Pantekleia die Fähigkeit vermissen, die Gedanken anderer zu reflektieren, beziehungsweise diese im richtigen Kontext zu bewerten. Kurz gesagt, es fehlte ihr die Gabe, Ironie zu erkennen. Vielleicht sollte das Fach lockere Alltagskommunikation in die akademische Ausbildung integriert werden, dachte ich frustriert. Myia grinste breit. »Es muss wohl reichen, wenn ich weiß, was ein verbaler Seitenhieb ist, Hypatia«, flüsterte sie mir zu.

    Meine Schwester langweilte sich schnell bei philosophischen Themen. Für sie waren die abstrakten Disziplinen wie Logik, Ethik oder Physik nur interessant, wenn sich deren Thesen auch praktisch anwenden ließen. Daher war Sokrates ihr besonderer Liebling. Er hatte selbst den einfachen Menschen auf den Marktplätzen zugetraut, Philosophie zu betreiben.

    Wie lange wir in unserem Transportschiff, das passenderweise nach Thales von Milet¹⁶ benannt war, schon reisten, ließ sich nur sehr schwer beantworten. Immerhin war unser Ziel nicht mehr nur als kleiner gelblicher Punkt auszumachen, inzwischen ließ sich Jupiter in seiner ganzen Pracht bestaunen. Der Planet wurde von verschiedenfarbigen Bändern und Wirbeln aus weißen Wolken umhüllt. Ein wirklich faszinierender Anblick, der sogar Vitus aus seiner Schwermut riss. Endlich schien sich seine Stimmung zu bessern. Interessiert wandte er sich zu uns um.

    »Beim letzten Mal habe ich meinen Heimatplaneten nicht in dieser Schönheit wahrgenommen.«

    »Warum musstest du überhaupt deine Heimat verlassen?«, fragte Myia.

    Noch während sie sprach, erlosch Vitus’ Lächeln wie die Innenbeleuchtung der Thales zur fest einprogrammierten Schlafenszeit. Vergebens suchte er die richtigen Worte und wandte sich wieder von uns ab, um stumm durch die dicke Frontscheibe zu starren. Meine Schwester hatte einen wunden Punkt berührt, den er nicht mit uns teilen wollte. Ich folgte seinem Blick nach draußen.

    Gerade drängten einige der Jupitermonde in unser Sichtfeld, die dem Planeten von allen Seiten Geleitschutz gaben, ganz so als müsse dieser sich im Universum abschotten, damit ihm kein anderer Himmelskörper zu nahe kam. Es waren deutlich mehr Monde als bei unserem Heimatplaneten zu sehen. Nicht mehr lange, und wir würden in den jupitanischen Kernschatten eintauchen.

    Nachdem wir die ersten Trabanten hinter uns gelassen hatten, nahm ich verwundert ein Geschwader von seltsamen Flugkörpern wahr, die auf scheinbar unsichtbaren Pfaden führerlos ihre Bahnen zogen. Von Weitem erinnerten sie mit ihren weit ausladenden Flügeln an rotierende Samen des Bergahorns. Interessant war die Farbe der Seitenteile dieser Gebilde, die mit ihren schimmernden Lilatönen den ausklappbaren Flächen der Gottesanbeterin vom Eudore-See ähnelten. Ich sehe Vaters leuchtende Augen noch heute vor mir, als er das erste Mal dieses Geschöpf aus einer weit entfernten Zivilisation betrachtete. Meine Gefährten schenkten diesen blinkenden Vagabunden des Alls keine besondere Aufmerksamkeit, und ich verzichtete darauf, Mutter noch einmal mit technischen Fragen zu löchern.

    Die Thales von Milet tauchte bald danach in eine schier endlose Wolkendecke ein. Unsere Umgebung verlor deutlich an Glanz. Seltsamerweise wirkte sich dies sogar auf die gefühlte Temperatur im Inneren unseres Transporters aus, auch wenn Pantekleia dies strikt verneinte.

    Über unseren Köpfen leuchtete eines der wenigen Zeichen auf, dessen Botschaft ich verstand. Wir mussten uns schnellstmöglich anschnallen. Meine Schwester fing an, neben mir zu zittern. Ich versuchte, ihre eiskalten Hände zu wärmen, soweit mir dies der enganliegende Gurt erlaubte. Das endlose Grau der dichten Wolkenbänder um uns herum rief auch in mir ein mulmiges Gefühl hervor. Vor Schreck schrie Myia auf, als sich die Farbe des Nebels abrupt in ein tiefes Rot änderte. Auch Vitus zuckte nervös zusammen. Er raunte mir zu, dass er dieses Schauspiel bei seiner ersten Passage nicht beobachtet hätte, was natürlich daran lag, dass er die Reise in entgegengesetzter Richtung angetreten war. Laut Pantekleia wurden verschiedene Routen beim An- und Abflug vom und zum Jupiter verwendet. Wir flogen den Planeten über dessen Nordpol an, was wohl deutlich beeindruckender war als der Weg über den Südpol.

    Im nächsten Moment erfasste den Transporter erst ein leichtes, kurz darauf ein heftigeres Vibrieren, das bald in massive Erschütterungen überging. Mit diesen Turbulenzen begannen gleichzeitig einige der Lichter, rhythmisch zu blinken. Wie von Geisterhand wurden unsere Gurte ruckartig angezogen, wodurch mir Myias Hände entglitten. Es erklang ein scharfer, hoher Ton, der nicht gerade zu unserer Beruhigung beitrug.

    Pantekleia blieb die Ruhe selbst. Sie starrte unentwegt nach vorne, als hätte sie eine Art unsichtbaren Fixpunkt vor sich. Während der dichte Dunst ganz plötzlich aufriss, musste ich mir die Hände vor die Augen halten. Ein strahlendes Rot tauchte unsere Umgebung schlagartig in ein grelles, blendendes Licht. Mutter sprach betont ruhig und erklärte, dass es sich hierbei um einen riesigen Antizyklon¹⁷ handelte, der sich am Rand des dunklen polaren Gürtels befand. Seine Ausdehnung war abhängig von den Jahreszeiten. In jedem Fall wirkte er furchtbar angsteinflößend.

    »Die Wissenschaftler benannten ihn nach Elektra, einer feurigen Geliebten des Göttervaters, andere bezeichnen dieses Phänomen auch ganz unspektakulär als den Großen Roten Fleck. Es gibt also keinen Grund zur Besorgnis.«

    Wem wollte Mutter hier etwas vormachen? Der Flug wurde immer bedrückender, inzwischen hatten Myia und ich unsere Fingernägel tief in die Armlehnen gebohrt. Um uns aufzubauen, sprach Pantekleia im Tonfall einer Magistra weiter. »Dieser Zyklon liegt erstaunlich stabil ohne jegliche Beziehung zur Oberfläche des Planeten zwischen zwei Wolkenbändern, die den Jupiter ausschließlich im Bereich der nördlichen Einflugschneise bedecken.«

    Trotz meiner Angst erstaunte es mich, dass sie darüber Bescheid wusste, auch wenn es nicht unbedingt dazu führte, dass sich mein Herzschlag beruhigte. Die Intensität der Strahlkraft dieser Elektra war beängstigend. Meine Augen wollten sich kaum an das grelle Licht gewöhnen.

    »Dieser Antizyklon schwebt wie ein Wächter über Jupiter, weshalb der Planet in Anbetracht dieser galaktischen Leibgarde und seiner majestätischen Ausmaße auch als der Königsstern bezeichnet wird«, fachsimpelte Mutter weiter.

    Vitus hatte also allen Grund dazu, stolz auf seine Heimat sein, auch wenn ihm dies in der jetzigen Situation vermutlich vollkommen egal war. Königsstern hin oder her, die Turbolenzen nahmen weiter zu. War die Thales überhaupt für solch ein Naturphänomen gewappnet?

    Ich fragte mich zudem, ob das leuchtende Rot auch nach unserer Landung, also von der Oberfläche des Planeten aus zu sehen war und, wenn ja, ob nur im Bereich des nördlichen Pols oder auf der gesamten Halbkugel. Ein Blick auf Vitus’ Profil beantwortete meine Überlegung.

    So schnell wie der Antizyklon aufgetaucht war, verschwand er auch wieder. Nach dem grauen Nebel und dem intensiven Schein um uns herum flogen wir als Nächstes auf die zweite Wolkendecke zu, die den Jupiter umschloss.

    »Haltet euch gut fest, es wird jetzt etwas ungemütlich.«

    »Wie bitte? Ungemütlich? Was ist denn das bisher gewesen? Eine Spazierfahrt entlang der kosmischen Sehenswürdigkeiten des Königssterns?«, schrie ich.

    Pantekleia zeigte keine Reaktion auf meinen Ausbruch, was mir langsam unheimlich wurde, und fuhr im Plauderton fort: »Lomo erzählte mir, was nach der Elektra zu erwarten ist. Nun durchqueren wir den Aegis der Juno, sozusagen den Schutzschild einer eifersüchtigen Ehefrau, damit Jupiter nicht mehr so leicht in Versuchung kommt. Diese Schicht entspricht der inneren Wolkendecke.«

    Sollte das ein Witz sein? Ich hatte die zahllosen Geschichten über die Untreue des Göttervaters schon immer verabscheut. War dieser Name nicht etwas zu viel des Guten? Das Ganze kam mir vor wie ein böser Traum. Als ob die einzige Rettung aus einem brennenden Wald darin bestand, in einen uns unbekannten Brunnen zu springen, von dem man nicht wusste, ob sich Wasser oder Stein an dessen Grund befand. Wir fielen tiefer und immer tiefer in ein schwarzes Nichts.

    Alleine die Beleuchtung im Innern der Thales rettete uns vor der totalen Finsternis. Ich rechnete inzwischen mit dem Schlimmsten. Sollten wir auf der Oberfläche des Planeten zerschellen? Gab es überhaupt eine Möglichkeit, diesen Autopiloten auszuschalten, um die Navigation des Vehikels selbst zu übernehmen? Wohl kaum. Es gab keinen Hebel oder sonst irgendetwas, was mich auch nur entfernt an eine Steuereinheit erinnerte.

    Durch Junos Schild zu fliegen, ohne sehen zu können, was dahinter lag, trieb mir die Schweißperlen auf die Stirn, und das, obwohl ich fror. Im Schein der flackernden Notbeleuchtung verlor ich zunehmend die Nerven. Myia begann, nicht nur wieder stärker zu zittern, sie wechselte sich inzwischen mit mir ab, die Angst laut herauszuschreien. Durch die enorme Kraft, die auf uns einwirkte, hatten wir große Probleme, unsere Köpfe aufrecht zu halten. Wie Ähren im Wind wurden sie hin und her geschleudert, die Muskeln fingen an zu schmerzen.

    Pantekleias Lächeln wirkte inzwischen eher gequält denn aufmunternd, als sie sich uns erneut zuwandte. Es erreichte ihre Augen nicht mehr, und ich meinte, einen kurzen Anflug von Ungewissheit unter ihrer aufgesetzten Maske wahrzunehmen. Diese Beobachtung reichte aus, um die letzte Eskalationsstufe der Angst zu erreichen: Panik.

    Mutter musste bemerkt haben, dass ich ihre Unsicherheit registriert hatte, denn sofort begann sie, gegen das Schütteln und den ohrenbetäubenden Lärm anzuschreien. Kurz darauf wurde es wieder hell, die markerschütternden Turbolenzen ließen urplötzlich nach, als ob uns Jupiter nach dieser überstandenen Mutprobe uneingeschränkt willkommen hieß. Junos Abwehrschild lag also hinter uns, die Ehefrau hatte augenscheinlich die Kapitulation eingereicht. Nicht nur ich, auch Myia und Vitus atmeten tief durch, Mutter dagegen überspielte weiter ihre Anspannung und fuhr mit der ursprünglich beabsichtigten Erzählung fort.

    »Es war eine technische Meisterleistung, diesen ehemaligen Gasplaneten bewohnbar zu machen, denn die Atome seiner Oberfläche waren nicht fest verbunden, sie bewegten sich vielmehr frei im Raum. Nur die Gravitationskraft¹⁸ hielt die Materie zusammen und formte den mächtigsten Planeten unseres Sonnensystems.«

    Ich ärgerte mich über diese ungenierte Schauspielerei. Die Beziehung zu meiner Mutter war noch immer von Skepsis geprägt. Selbst mein eigener Vater hatte mich davor gewarnt, ihr völlig zu vertrauen. Allzu schnell hatte sie Myia damals auf ihre Seite gezogen, um damit auch mich an sie zu binden. Auch das war ein Grund, weshalb wir nicht wenige Dispute während unserer Reise ausfechten mussten. Ob sie mir meine harten Anschuldigungen inzwischen verzeihen konnte? Ich war mir nicht sicher. Genauso wenig, wie ich mir nicht sicher war, ihr vergeben zu haben.

    Oft stellte ich mir die Frage, ob sie mich mit dem Blick einer Mutter oder mit dem einer Diplomatin ansah. War ich nun ihre Tochter, die sie über alles liebte und beschützte, oder ein wertvoller Spielstein, den sie irgendwann einmal zu ihrem Vorteil nutzen wollte?

    »Was hat es mit dieser Gravitation auf sich?«, hakte Myia nach.

    »Nun, es handelt sich hierbei um die gegenseitige Anziehung von Massen. Diese Kraft schwächt sich zwar bei zunehmender Entfernung ab, sie besitzt aber prinzipiell eine unbegrenzte Reichweite«, antwortete Mutter meiner Schwester. Das klang tatsächlich interessant.

    »Der Jupiter hat ein enormes Magnetfeld in seinem Inneren, das machten sich unsere Vorfahren von der Terra mater zunutze, um die vorhandenen Gasteilchen in einen Festkörper umzuwandeln.«

    »Was bitte ist ein Magnet?«, unterbrach ich sie hastig.

    Mutter musterte mich mit den Augen einer Dozentin, die gerade abwog, ob der Inhalt meiner Frage nicht schon ausführlich in ihrem Unterricht behandelt worden war. Doch sie lies Milde walten und beantwortete meinen Einwurf gnädig: »Das Phänomen des Magnetismus war schon in der Antike bekannt. Lukrez¹⁹ beschäftigte sich bereits eingehend mit Eisensteinen, die aus Magnesia in Griechenland stammten. Diese Steine besaßen die Eigenschaft, sich gegenseitig anzuziehen oder eben auch abzustoßen, je nachdem, welche Pole er gegeneinanderhielt. Dann leitete der Epikuräer das Wort Magnetismus von ihrem Herkunftsort ab, um diese besondere Eigenschaft zu beschreiben.«

    »Lukrez?«, fragte ich, »etwa der Dichter, der das ›De rerum natura‹ verfasst hat?«

    »Davon habt ihr schon gehört?« Jetzt war es Mutter, die sich erstaunt zeigte.

    »Hat nicht Musonius unserer Lehrerin Aspasia aus dem ›De rerum naturae‹ vorgesungen?«, überlegte Myia laut.

    »Stimmt. Der Ärmste musste wegen irgendeiner Familientradition das ganze Gedicht auswendig lernen. Über tausend Verse, wenn ich mich nicht irre.«

    Bevor sich Pantekleia weiter nach dem Philosophenschüler erkundigen konnte, bat ich um ein praktisches Beispiel für diese merkwürdige Anziehungskraft.

    »Tatsächlich hattet ihr schon damit zu tun«, bemerkte Mutter undurchsichtig wie die thebanische Sphinx.

    Myias Stirn legte sich in Falten, ich zuckte mit den Schultern. Zumindest hatte Pantekleia erreicht, dass wir an etwas anderes dachten und uns nicht mehr von der inzwischen hinter uns liegenden Corona einschüchtern ließen.

    »Wisst ihr noch, was euer Vater Hypatia zum Abschied geschenkt hat?«

    »Natürlich! Den Monstrator²⁰!«, rief Myia begeistert. »Damit konnten wir den Weg zu Aspasias Hütte und zum Departorium finden. Sonst wären wir jetzt gar nicht hier!«

    »Genau! Diese metallische Nadel richtet sich stets am Magnetfeld des Planeten aus. In unserer Heimat gestaltet sich die Navigation etwas komplizierter, da Uranus vier Magnetpole, sogenannte Quadrupole besitzt, die diese unsichtbare Anziehungskraft ausstrahlen. Zwei im Süden und zwei im Norden.«

    »Gibt es auf dem Jupiter auch Magnetfelder?«, wollte ich wissen.

    »Jupiter besaß sogar das Größte aller Planeten unseres Sonnensystems, abgesehen von der Sonne selbst. Kluge Menschen fanden einen Weg, dieses Phänomen zu nutzen, um die Polarität mit speziell erzeugten Metallen und Erden zu neutralisieren. In der Folge wurden die beweglichen Atome, die sich im Gaszustand befanden, stark verdichtet und verfestigt, sodass der Jupiter in einen erdähnlichen Planeten umgewandelt und schließlich besiedelt werden konnte.«

    Erst später sollte ich erfahren, dass dies nur ein Teil der Wahrheit war. Selbst Vitus schien Mutters Worten keinen rechten Glauben zu schenken, doch davon ließ sich diese nicht stoppen.

    »Auch der Uranus war früher ein Gasplanet. Hier wurde ähnlich vorgegangen. Auf der sonnennahen Seite der Galaxie rotieren von jeher die erdähnlichen Planeten wie die Terra Mater selbst, die Venus, der Merkur und der Mars. Aufgrund ihrer höheren Massen sind sie schwerer und ziehen deshalb ihre Bahnen enger um die Sonne. Dank der Verdichtung der unterschiedlichsten Elemente durch das Magnetfeld zählen jetzt eben auch die sonnenferneren Planeten Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun zu den erdähnlichen Himmelskörpern.«

    Woher hatte Mutter nur all diese Informationen? Ihr Verstand erinnerte an einen Schwamm aus den Tiefen der saronischen Bucht. In den wenigen Jahren im Syllogistikon hatte sie augenscheinlich alles in sich aufgesogen und gespeichert, was sie in die Finger bekam. Cato, Leontions ambitionierter Rhetoriklehrer, hätte Pantekleia hierfür mit Sicherheit gehasst, dachte ich amüsiert, als Vitus plötzlich herausplatzte:

    »Jetzt weiß ich endlich, warum nasse Erde auf meinem Heimatplaneten manchenorts diese rötlichbraune Farbe aufweist. Durch Feuchtigkeit rostet sie, warum bin ich da nicht früher draufgekommen?«

    »Das ist gut möglich. Und da die Wolkendecken, die Jupiter umgeben, dieses Rot durch Luftspiegelungen verändern, hat er aus der Ferne eben diesen gelblichen Stich«, mutmaßte Pantekleia weiter.

    »Und der Antizyklon?«, wollte Vitus wissen. »Ist der ebenfalls aufgrund des Eisens so rot?«

    »Das ist er«, bestätigte unsere Expertin. »Nur nicht in fester Form. Die Eisenatome sind in diesem Fall nicht mit der Oberfläche verbunden, sie sind noch ein gasförmiger Überrest des ursprünglichen Planeten.«

    »Vermutlich fällt der Antizyklon auf Jupiter nicht weiter auf, da er sich in der Regel über dem nördlichsten Pol befindet, wenn es stimmt, was du sagst«, bemerkte Vitus skeptisch. »In den entlegensten Gebieten des Nordens von Imperia²¹ kann es zu einem rötlichen Regen, dem sogenannten Roten Tod, kommen. Dieser tritt nur alle paar Jahre in Erscheinung. Jetzt kann ich mir auch vorstellen, woher dieser Regen seine Farbe bekommt.«

    »Darüber habe ich in den Akten während meiner Zeit in Polipolis gelesen. Es handelt sich um ein sehr seltenes Phänomen, das auftritt, wenn Ausläufer des Antizyklons im Norden mit den Tiphon²²-Stürmen zusammenprallen. Diese extremen Stürme entwickeln eine gewaltige Kraft; sie sind jedoch nur selten in den oberen Luftschichten anzutreffen, wo der Antizyklon rotiert. Trifft tatsächlich diese Konstellation einmal zu, entsteht ein roter Niederschlag. Obwohl der Begriff eigentlich irreführend ist, denn es braut sich in diesem Fall ein Sturm deukalischen Ausmaßes zusammen«, fasste Mutter zusammen.

    »Du könntest tatsächlich recht haben. Die Bewohner der nördlichen Provinzen fürchten den Regen mehr als alles andere. Wird ein Mensch von ihm erfasst, gilt er ein Leben lang als gezeichnet, nicht nur durch rötliche Male auf der Haut. Die Priester bezeichnen dieses Stigma als den Fingerzeig des Teufels, die Betroffenen werden als Aussätzige behandelt. Damit der rote Regen in den nördlichen Provinzen erst gar nicht fällt, ruft die Geistlichkeit beständig zur Umkehr und Buße auf. Von ihren Gemeindemitgliedern fordern sie strenges Fasten und Beten.«

    »Der Teufel? Wen meinst du damit, Vitus?«, fragte Myia arglos.

    »Nun, wie du weißt, verehren wir nur den einen Gott, der für das Gute und Reine steht. Aber wo Licht ist, da ist auch Schatten. Sein Widersacher, ein gefallener Engel namens Lucifer, zieht die verstorbenen Sünder in die Niederungen der Hölle, wo die armen Seelen fernab von Liebe und Hoffnung ihr Dasein fristen müssen. Besonders schlimme Vergehen werden von ihm mit ewigen Strafen belegt.«

    Meine Schwester rümpfte die Nase. Das erinnerte für ihren Geschmack wohl viel zu sehr an den Tartaros.

    »Ist der Regen wirklich gefährlich?«, kehrte ich zu dem ursprünglichen Thema zurück. Das wollte Vitus auch wissen, er war schließlich mit der Furcht vor dem Roten Tod aufgewachsen und begierig darauf, mehr darüber zu erfahren.

    »Nein. Die Berührung mit ihm ist weder giftig noch schädlich für den Menschen«, stellte Pantekleia klar. »Durch den eisenhaltigen Regen wird allerdings das Trinkwasser belastet. Nimmt man zu viel davon auf, ruft es ausgeprägte Übelkeit und Kopfschmerzen bis hin zu Halluzinationen und Bewusstseinsstörungen hervor, die sogar tödlich enden können. Die Haut kann sich verfärben, und oft beginnen die Vergifteten, obskure Geschichten zu erzählen. Deshalb kam wohl dieser Teufel ins Spiel. Die Priester betrachteten die Menschen, die angeblich von ihm ergriffen worden waren, als Feinde Gottes.«

    Verwirrt sah ich zu Vitus, der uns erklärte, dass die Menschen auf seinem Heimatplaneten sehr fromm und gottesfürchtig seien. Sie schrieben dem roten Regen eine göttliche Bestrafung zu. Im Alten Testament schickte JHWH²³ den Ägyptern zehn Plagen, um sein Volk, die Israeliten, aus der Sklaverei zu befreien. Das rote Wasser war die erste Heimsuchung. Die Vertreter der Kirche, der einzig anerkannten Religion auf Jupiter, predigten ständig darüber, dass Gott in seiner Allmacht den sündigen Menschen auch weitere Plagen schicken könnte. Myia und ich wechselten einen pikierten Blick. Was war das denn für ein Gott?

    Meine Schwester wollte gerade etwas einwenden, schloss aber ihren Mund sofort wieder, als Pantekleia beschwichtige: »Wir respektieren deine Religion, Vitus, und wollen sie nicht in Frage stellen.« Ein strenger Ausdruck unterstrich ihre Worte.

    Vitus errötete. »Keine Sorge, nicht im Traum würde ich daran denken, dass ihr drei Antichristen seid. Dafür, dass ihr noch nie etwas von Jesus, dem Sohn Gottes, oder sonst einem von unseren Heiligen gehört habt, könnt ihr ja nichts.«

    Seine Worte stimmten mich nachdenklich. Vitus war inzwischen wie ein Bruder für mich, dem ich blind vertraute, aber er hatte eine ganz andere Kindheit erlebt. Als wir uns vor einer gefühlten Ewigkeit im Medikarium kennenlernten, wurde er Myia und mir zunächst als Silvanas schweigender Gehilfe vorgestellt, weshalb er einen schweren Stand im Megaron hatte. Erst vor Kurzem war er auf eigenen Wunsch von seinem pythagoräischen Gelübde entbunden worden.

    Inzwischen waren wir dem Jupiter ziemlich nahegekommen. Ich erkannte bereits den Ozean und Inseln, die sich wie Ölflecke auf ihm verteilten. Ein wunderschöner Anblick, der tatsächlich an ein Wunder grenzte. Das alles sollte der Mensch geschaffen haben? Nicht der eine Gott oder gar viele Gottheiten zusammen?

    Myia neben mir bestaunte einfach die Weite des Meeres und erfreute sich an den Reflexionen der glitzernden Sonnenstrahlen. Unruhig rutschte sie auf ihrem Sitz hin und her, scheinbar konnte sie es kaum erwarten, endlich aussteigen zu dürfen, um Imperia mit all ihren Sinnen zu erfassen. Ihre Aufregung übertrug sich auf mich. Auch mein Herz begann in Anbetracht der bevorstehenden Landung, aufgeregt zu klopfen. Diese Reise würde bald ihr Ende finden.

    ¹⁰ Phänomen des gelben Flecks des Auges, sog. Fovea centralis oder Makula. Aufgrund fehlender Stäbchenzellen in diesem Bereich resultiert bei schlechten Lichtverhältnissen die Unfähigkeit, feinere Strukturen wahrzunehmen.

    ¹¹ Bezeichnet die Eigenschaft bzw. das Vermögen, allwissend zu sein.

    ¹² Die Idee des Vakuums stammt wahrscheinlich von Demokrit.

    ¹³ Hier gemeint: Empedokles und Demokrit.

    ¹⁴ Atomos – griech.: unteilbar.

    ¹⁵ Der Dialog »Timaios« gehört zum Spätwerk des Platon; unterschiedliche Teilnehmer, u. a. auch Sokrates, ergründen den Wahrheitsgehalt von Aussagen über die Weltentstehung.

    ¹⁶ Thales von Milet (ca. 624–544 v. Chr.) gilt als erster Philosoph des Abendlandes, wird zu den sieben Weisen des Altertums gezählt.

    ¹⁷ Dieses Phänomen entsteht durch Ansammlungen von Luftmassen in höheren Regionen.

    ¹⁸ Von gravitatio – lat.: die Schwere.

    ¹⁹ Titus Lucretius Carus (im letzten Jh. vor Chr.), röm. Dichter und epikureischer Philosoph.

    ²⁰ Abgeleitet von monstrare – lat.: zeigen; Hier: eine Art Kompass.

    ²¹ In Anlehnung an »Imperium«, lat.: der Macht- bzw. Herrschaftsbereich; hier Einflussbereich des Kaisers.

    ²² Abgeleitet vom gr. typhon, Bezeichnung für starke Stürme und Wirbelwinde.

    ²³ Aus dem Hebr.: Jahwe, der Gott der Israeliten. Übersetzt: »Ich bin der Ich-bin-da.«

    AEDIFICIUM TERMINI²⁴

    Die Thales senkte sich immer tiefer über den weiten Ozean. Anfangs erkannte ich vereinzelte Inseln von überschaubarer Größe, die sich zu Archipelen gruppiert auf dem Wasser verteilten, bald konnte ich Wellen und sogar Treibgut auf der schimmernden Meeresoberfläche ausmachen. Ich fragte mich, wo wir landen würden, weit und breit kam kein zusammenhängendes Land in Sicht.

    Erneut mussten wir die Gurte anlegen. Unser Schiff verringerte weiter die Geschwindigkeit, als in der Ferne ein größeres felsiges Eiland in Sicht kam. Wir befanden uns inzwischen so dicht über dem Wasser, dass sogar ein Sprung in die Fluten möglich schien. Der Transporter glich jetzt eher einer der Möwen, die scheinbar ohne jegliche Kraftanstrengung den Elementen trotzten, denn einem interstellaren Raumgleiter. Die Gruppe von Tieren, die sich unter uns im Uferbereich der Felsen tummelten, ähnelte grauen Säcken, die faul in der Sonne lagen. Nachdem sie die Thales entdeckt hatten, wurden sie unruhig und robbten mit beachtlicher Geschwindigkeit und Eleganz ins Wasser, wo sie augenblicklich von den Wellen verschluckt wurden.

    Der böige Wind schaukelte uns ein wenig hin und her, jedoch hielt sich das Schiff erstaunlich gut. Wie aus dem Nichts erhob sich inmitten des Eilands eine mächtige Luke, die vorher nicht zu erahnen war. Durch ihre Öffnung wurden die Wassermassen des Ozeans anfangs zur Seite gedrängt, anschließend schwappten sie in die nun entstandene Vertiefung direkt vor uns. Ich staunte über die technische Meisterleistung, als sich unser Schiff ganz langsam in Bewegung setzte und auf den Eingang zusteuerte. Kurz wurde es dunkel, bis um uns herum, wie von Götterhand entfacht, Lichter aufleuchteten, die die Sicht auf einen endlosen Tunnel preisgab. Sein Aufbau kam mir bekannt vor, denn er war wie derjenige konstruiert, der uns damals zum Departorium geleitet hatte. Die Wände bestanden aus sauber geschliffenen Steinen, in welche in regelmäßigen Abständen Beleuchtungsschächte eingelassen waren. Das Meerwasser versickerte im Boden durch speziell vorgesehene Öffnungen. Unser Transporter, der ungefähr die Größe von fünf Zweispannern einnahm, schwebte problemlos durch diesen unterirdischen Gang, vermutlich konnten ihn sogar noch größere Flugobjekte nutzen.

    »Wie lange dauert es noch, Vitus«, fragte Myia.

    An seiner Stelle antwortete einmal mehr Mutter für ihn. »Meines Wissens nach befindet sich der eigentliche Raumbahnhof im Untergrund von Neo-Rom. Er wird Porto Interplanetaris²⁵ genannt. Doch in Diplomatenkreisen spricht man nur von PIP-Roma, das könnt ihr euch merken. Dieser unterirdische Hafen wird in einen Abflug- und einen Ankunftshafen unterteilt, also in ein Departorium und ein Adventarium. Unser Ziel ist das Aedificium Termini, ein Kontrollgebäude im Areal des Adventariums. Um die interplanetarischen Transporte geheim zu halten, wurde der Lande- und Abflugplatz auf den Ozean ausgelagert.«

    Dieses Mal verdrehte Myia die Augen über Mutters niemals endende Besserwisserei, die jedoch die Reaktion ihrer jüngsten Tochter übersah. Stattdessen fuhr sie unvermindert fort: »Darüber hinaus existieren wohl zahlreiche Sagen über Meeresungeheuer, die sogenannten Leviathane²⁶, die in dem Mare Obscura über uns ihr Unwesen treiben. Die Fischer machen stets einen großen Bogen um die Einflugschneisen, um diesen Ungetümen aus dem Weg zu gehen.«

    Myia und ich blickten zu Vitus, der bestätigend nickte. Er schien diese Schauergeschichten nur zu gut zu kennen und bemerkte kleinlaut, dass er als kleiner Junge bei Bootsfahrten nie weit aufs offene Meer hinausfahren wollte.

    »Der PIP wird von den weißen Kriegern kontrolliert, die dem Befehl des Senats unterstehen und neben dem Kaiser und dem Papst eine dritte Macht auf Jupiter darstellten. Im Übrigen ist alles, was den Senat tangiert, mit der Farbe Weiß verbunden. Das soll seine Neutralität unterstreichen. Bei der Besiedelung des Jupiters wurde dem ersten Kaiser das Stammland Imperia übertragen. Nur eine kleine Enklave in Neo-Rom sowie alle weiteren Klöster und Kirchen stehen unter dem päpstlichen Einfluss. Da der Kaiser für das Weltliche und der Papst für alles Geistige zuständig sein sollte, gingen die Gründungsväter davon aus, dass sich damit ein stabiles Gleichgewicht zwischen den beiden Mächten einpendeln würde.«

    »Doch da hatten sie sich offenkundig schwer getäuscht«, kommentierte unser Ortskundiger bitter.

    »Stimmt, Vitus«, bestätigte Pantekleia und riss erneut das Wort an sich. »Schon der zweite oder dritte Kaiser fiel mit seinen Truppen in die Civitas Dei²⁷ ein, um den Papst zu stürzen. Dadurch wollte er Imperia alle kirchlichen Besitzungen einverleiben, um die vollständige Alleinherrschaft zu gewinnen. In höchster Not flehte der Papst um die Unterstützung des interplanetaren Rates. Die Terra mater rang sich schließlich dazu durch, Hilfstruppen für die Rettung des Klerus zu entsenden. Die kaiserliche Annexion wurde auf diese Weise zunichtegemacht und Kaiser Julius Nepos durch den Rat hart sanktioniert. Ein würdigerer Verwandter aus der Herrscherdynastie wurde stattdessen vom Pontifex zum Kaiser gesalbt.

    Damit war für den interplanetaren Rat das Problem behoben, und die weißen Truppen zogen sich zurück. Doch schon wenige Jahre später streckte der nächste Kaiser seine gierige Hand nach den päpstlichen Besitzungen aus. Wieder mussten neutrale Soldaten eingreifen. Von da an entschied der interstellare Rat, dauerhaft eine dritte Instanz zu implementieren, um die Machtverhältnisse auf Jupiter zu stabilisieren. Diese entspricht dem Senat, der von beiden Seiten als neutraler Schiedsrichter anerkannt werden muss. Seine vornehmste Pflicht besteht bis heute darin, das fragile Gleichgewicht zwischen den beiden verfeindeten Parteien sicher zu stellen. Zwar wurde den weißen Wachen, um dieses Ziel auch durchsetzen zu können, eine schlagkräftige Truppe an die Seite gestellt, dennoch darf er sich nicht in die Tagespolitik einmischen.«

    Mir schoss sogleich durch den Kopf, dass auf dem Uranus ebenfalls ein unabhängiger Beobachter sinnvoll wäre. Irgendjemand sollte den regierenden Philosophen auf die Finger schauen.

    Pantekleia holte einmal tief Luft: »Nach den früheren Erfahrungen darf sowohl der Papst als auch der Kaiser Diplomaten von anderen Planeten empfangen und eigene Vertreter zum interplanetarischen Rat entsenden. Beide Seiten verfügen über einen separaten Zugang zum PIP, ohne dass dies die andere Partei verhindern kann.«

    Während Mutter erzählte, blickte ich auf die schnell vorbeiziehenden Lichter, die wie die Blitze des Zeus auf uns zuschossen. Seine Treffsicherheit ließ jedoch zu wünschen übrig, als ob der oberste Himmelsgott gestern Abend etwas zu lange mit Bacchus gezecht hätte.

    »Hypatia, hörst du überhaupt zu? «, riss mich Mutter aus der Welt der Dodekatheoi²⁸. Als ich erschrocken aufsah, fuhr sie an Myia und mich gewandt fort: »Ihr habt ja Lorenzo di Monferrato schon kennengelernt. Seit Jahren arbeitet er als ranghoher Diplomat für den Papst und hat schon erbitterte Kämpfe auf Jupiter erlebt. Auch der aktuelle Kaiser Alexander Honorius versucht wie seine Vorgänger, seine Vormachtstellung auszudehnen. Bisher wurden diese dreisten Ambitionen vom Senat vereitelt, es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis der Löwe von Canossa Erfolg haben wird.«

    Ich wunderte mich über diese merkwürdige Bezeichnung für einen Regenten und sah genervt von Mutters Monologen zu Myia, deren fahles Gesicht periodisch erleuchtet wurde. Waren wir dem überhaupt gewachsen, was uns nun erwartete? Besaß Lomo wirklich die Macht, uns zu helfen, oder benötigten wir nicht eher einen übermächtigen Göttervater von dem Schlag eines Zeus als Beistand? Immerhin war der Königsstern nach seiner römischen Entsprechung benannt worden.

    Vitus unterbrach die entstandene Stille und erkundigte sich, wie es nach unserer Ankunft weitergehen würde.

    »Im Aedificium Termini werden uns die weißen Wächter zunächst als Neuankömmlinge registrieren und kontrollieren. Bleibt ruhig und überlasst mir das Wort. Wir sind im diplomatischen Auftrag des Uranus unterwegs«, instruierte uns Pantekleia und deutete auf den Omniclavus²⁹, den sie gut sichtbar um den Hals trug. Myia und ich sahen schließlich wie Philosophenschüler aus. Unsere Haare waren kurz geschoren, und wir vier trugen die üblichen blauen Mäntel und weißen Gewänder der Gelehrten. Unsere Tarnung war sicherlich nicht perfekt, aber sie sollte ausreichen.

    »Wenn die Formalitäten geklärt sind, werde ich um die Hilfe des Senats bitten und ein persönliches Gespräch mit dem Konsul verlangen. Der Ausgang aus dem PIP mündet in die Kirche St. Augustinus. Von dort

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1