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INVOCABIT: DIE ANRUFUNG
INVOCABIT: DIE ANRUFUNG
INVOCABIT: DIE ANRUFUNG
Ebook370 pages4 hours

INVOCABIT: DIE ANRUFUNG

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About this ebook

In drei Tagen, so der Plan, soll nach über drei Wanderjahren eines Mönches seine Reise zu Ende sein. Doch die Hoffnung trügt: »Himmel und Erde« wenden das Geschick des willensstarken und doch sensiblen Mannes im Zentrum der - historisch genauen, aber fiktiven - Abenteuer-Erzählung auf eine so ungeheure Weise, dass er daran zerbricht.
Im Untergehen des Bisherigen aber entfaltet sich nicht nur ein völlig neuer Lebensentwurf, sondern - zwischen Tod und Leben, Glück und Leid, Liebe und Hass - die sich im tiefen Umbruch befindliche, brodelnde Welt des 13. Jahrhunderts.
Alles: Glück, Macht, Glaube, Politik und Religion werden in diesen Jahren neu definiert. Und der »Klimawandel« erfasst nicht nur - wörtlich - das Wetter und die Berge, sondern in vielerlei Weise fast alle Stände und Schichten - Mächtige wie Ohnmächtige - der bekannten Welt.
Aber in dem »Nichts bleibt wie es ist« entscheidet sich die Hauptfigur des Romans zu einem Neuanfang: Ohne Vorbilder, ohne Erlaubnis, und - anfangs - ohne jedes Maß. Und so wird, was ursprünglich nur Abschluss einer Reise sein sollte, zum Beginn einer Folge von Reisen, von denen die vorliegende nur den Anfang darstellt.
»INVOCABIT« ist - auf mittelalterliche Weise in einem traditionellen Kontext - der Anfang von allem: Hier, in der »Anrufung«, beginnt ein starkes Leben. Hier wandelt sich eine Familie. Hier entstehen bedeutende und bewegende Freundschaften. Hier entsteht Zukunft.
LanguageDeutsch
Release dateSep 29, 2021
ISBN9783952547625
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    INVOCABIT - Pierre Maurice

    WANDERUNG

    Er hatte die Nachtstunden auf der Bank des immer kälter werdenden gemauerten Ofens in einer der Alphütten am Ende des Tales verbracht.

    Irgendetwas half ihm, schon Stunden vor dem herbstlich spät beginnenden Morgengrauen, katzenhaft leise und kontrolliert aufzustehen. Nicht einmal die beiden struppigen Hütehunde, die neben ihm schliefen, bemerkten seine nur schattenhaften, lautlosen Bewegungen.

    Einzig die Hüttenkatze schlich, nur am Glühen ihrer Augen überhaupt erkennbar, um ihn herum, wohl in Erwartung spannender Abwechslung, aber irgendwie auch gelangweilt.

    Er hatte in seinem Mönchsgewand - angekleidet - geschlafen, in eben dem mittlerweile heruntergekommen und dutzendfach geflickten Habit, den er während seiner gesamten Reise getragen hatte.

    Sogar in seinen Schuhen hatte er genächtigt, die Riemen freilich geöffnet, um sich ein wenig entspannter zu fühlen. Ein frisch geschnittener Stock und sein schweres Reisebündel waren nur einen Handgriff entfernt.

    Das lange Messer trug er am Leib. Wie immer.

    So erhob er sich schon beim ersten nächtlichen Erwachen, öffnete die Tür und trat vor die Hütte

    Als er sie dann doch nicht völlig geräuschlos und mit einem schwach ächzenden Knarren hinter sich schloss, stöhnten die Hunde - wohl im Traum - zwar kurz auf. Aber nur um sich dann sofort wieder zu beruhigen und weiter tief zu schlafen.

    Die Hüttenkatze war ihm nicht in die feuchte Kälte gefolgt, sondern sie hatte die von ihm sorgsam konservierte Wärme der Ofenbank als ihr morgendliches Reich erkoren.

    Alles war still, in dem kurzen Augenblick, in dem er - vor der Hütte stehend - den noch dunklen, finsteren Tag begrüsste.

    Er atmete erleichtert und tief, und in der atemlosen Pause, die zwischen dem langsamen Ein- und Ausatmen eines durch Belastung geübten Körpers liegt, begann sein Tag.

    Er trank förmlich die fordernde Frische des feuchten Morgendunstes. Und kühl wehte ihm das entgegen, was er - sich an gute Tage seiner Kinderzeit erinnernd - als Duft heimatlicher Welten empfand:

    Bergluft. Kalt stechende Herausforderung, intensives Leben, Hochgefühl nimmermüder Frische.

    Doch ihm wurde sofort klar, er hatte wirklich nur noch wenige Tage. Und alles in ihm drängte: Vorwärts! Hinauf! Hinüber!

    In der Höhe würde vermutlich schon bald der Winter einsetzen, und es würde dann unmöglich sein, den Pass, der heute vor ihm lag, zu überqueren. Nicht in diesem Jahr. Nähme er den - grundsätzlich möglichen - Umweg über das Unterland, über Murten und Payerne etwa, würde er wohl kaum vor der Advents- oder gar der Weihnachtszeit ankommen.

    Er würde dann aber alles versäumen, was von ihm erwartet wurde, mehr noch, alles was er sich vorgenommen hatte. Und alles könnte zu spät sein.

    Er war, so schien es ihm, am Ende einer äusserst langen Reise angekommen. Einer Reise, die ihn seit ausgangs April vor rund dreieinhalb Jahren die Grenzen des Deutschen Reiches, wenigstens in weiten Teilen, hatte erforschen lassen. Er hatte sie noch nicht genau durchgezählt, aber es waren wohl über 1250 Tage, schätzte er, die er unterwegs gewesen war. Ungefähr so viele, wie die Zeitrechnung Jahre zählte: Man schrieb 1250 Anno Domini.

    Dabei war er gar nicht ausgezogen, irgendwelche Grenzen oder gar andere Länder zu erforschen. Viel bescheidener von ihm selbst her denkend, und doch auch viel anspruchsvoller von Anderen, von Höheren beauftragt war er gewesen, damals, am Anfang:

    Er war ausgezogen, um einen Auftrag seines Abtes zu erfüllen. Der wiederum hatte ihn, seinerseits im Auftrag des Oberhirten der Kirche, ausgesandt, er solle - insgeheim als »einfacher Mönch« möglichst unerkannt agierend - die Schulen des Reiches erkunden: Ob sie nach einem festgelegten Plan arbeiteten, welche Ziele sie hatten und welche Inhalte sie vermittelten. Und nicht zuletzt war er ausgesandt worden, um selbst - in dieser Rolle des »unerkannten Botschafters« - in Köln das neue »Studium Generale« der Dominikaner zu absolvieren. Und dann…

    … über alles Bericht zu erstatten. Bald schon hatte der Auftrag sich aber, wie aus sich selbst heraus, erweitert. Die einflussreiche Äbtissin des Stiftes zu Quedlinburg hatte ihn ebenso mit weiteren Recherchen beauftragt wie in der Folge das Herzogtum Brabant. Und sogar eine frühere deutsche Königin hatte ihm eine Art »privaten Auftrag« gegeben, den sie dann in Teilen in ihrer Herrschaft auch umsetzte.

    In all das war er so tief verwickelt und verwoben, dass er bisweilen fast sein eigenes Interesse am Lernen und Erforschen fast aus dem Blick verloren hätte. Er selbst wollte ja anfangs - und seine Gedanken wanderten nochmals zurück an den Beginn der Wanderung - einfach nur dazulernen. Dies freilich von Anfang an mit dem Ziel, später - im Orden oder auch an den irgendwelchen neuen Schulen - selbst einmal unterrichten zu können.

    Dann war er jedoch doch sehr schnell an Grenzen gekommen.

    Er war zunächst von seinem heimatlichen Kloster, St. Maurice im unteren Wallis, die Rhône aufwärts, dann den Rhein hinabgezogen. Und es waren damals nur wenige Wochen vergangen, da war er schon an die ersten Grenzen seiner Reise gestossen: Grenzen der Sprache und der Tradition anfangs nur. Die Welt dort im Rheintal schien ihm noch vertraut, nur sprach man dort etwas anders.

    Doch schon am oberen Rhein sprach man nicht nur anders, man verhielt sich auch in vielen Dingen anders als er es aus seinen Walliser Tälern gewohnt war: Ruhiger, tiefer, zurückhaltender waren die Menschen dort in den rätischen Regionen. Und es gefiel ihm.

    Dann aber - den Pilger- und Handelswegen nach Norden folgend - stiess er nicht nur zu neuen Sprachen und Dialekten vor, sondern er fand sich - unter dem Deckmantel nur oberflächlich ähnlicher

    Traditionen, Gebräuchen und Gesetzen - zunehmend auch in ihm unbekannten Welten und Zusammenhängen. Und obwohl er die Mundarten der Leute auf dem Weg zunächst noch gut verstand, wurden ihm die Menschen und ihre Gepflogenheiten doch von Tag zu Tag fremder: Ihre Kleidung, ihre Feste, ihre Spässe, einfach ihr ganzes Verhalten war für ihn um so ungewöhnlicher, je weiter entfernt er von Zuhause war.

    Und bisweilen fand er alles Fremde nur noch derb und bedrohlich, und dann war er überfordert und musste ruhen. Anderes - wie die Schifffahrt - war ihm zwar ursprünglich fremd, aber es bereitete auch grosse Freude und brachte ihm im Laufe der Zeit ganz neue Einsichten. Oder Rätsel, wie der leicht gekrümmte Horizont auf den grossen Meeren, ein Rätsel, das er lange nicht lösen konnte.

    Lediglich in den Klöstern - und selbst da nicht immer - fand er Vertrautes: Klare und bisweilen ungemein strikt gehandhabte Tageseinteilungen, die selbstverständlichen Stundengebete, und viel Arbeit, wo immer er hinkam. Dazu wenig Schlaf, karges Essen sowie oft grosse Bibliotheken und mehr schlecht als recht erleuchtete Lesesäle.

    Und Latein sprach man überall, die »Lingua Franca«, die gemeinsame Sprache der klösterlichen Welten. Und diese Sprache barg in sich eine Sichtweise von Himmel und Erde, Gott und Hölle, von Königen und Bauern, die sie alle verband. Alle, die sich ihr - in der Selbstverständlichkeit überkommener Gedankenbahnen - unterworfen hatten.

    Er hatte dabei - nachdem er die Alpen einmal verlassen hatte - die Hügel und Flüsse Bayerns, Thüringens und Sachsens durchwandert. Er war auf dem Weg nach Norden - dem Weg, der derart gefährlich war, dass einige seiner unterwegs gewonnen Gefährten dort ihr Leben liessen - er war schliesslich bis zur Trave und der sich ständig im Umbau befindlichen Stadt Lübeck vorgedrungen.

    Dann hatte er das Baltische Meer, erstmals überhaupt ein Meer, gesehen. Und er war darin sogar ein wenig geschwommen. Und in den Städten des Bundes, den man schon damals begann, die »Hanse« zu nennen, da musste er sich schliesslich sogar als ein Kaufmann bewähren, und Recht schaffen, wo Unrecht geherrscht hatte.

    Er hatte in den sandigen Flusslandschaften an der Weser und Aller zeitweilig als Lehrer gearbeitet, und einen bewegenden Kurierauftrag für eine regierende Familie übernommen, ein Auftrag, der ihn bis ins brabantische Leuven bringen sollte.

    Dabei hatte er die überall feuchte und nie enden wollende niedersächsische Ebene durchquert und war schliesslich an den Rhein gelangt, wo er aber bei der Belagerung von Kaiserswerth nur Kampf und Streit und Argwohn fand. Und als er - in Köln angekommen - glaubte, seinen Bestimmungsort für die kommenden drei Jahre gefunden zu haben, da war er—wiewohl am richtigen Ort - zu früh. Und er war ungewollt gewesen und fühlte sich deplatziert.

    Doch dann kam Aachen und der Königsthron, der ihm nach Jerusalem ausgerichtet schien und die Erwartung auf einen ewigen Friedenskönig weckte.

    Doch die wirkliche Wende seines Weges, das war die Zeit am Hof von Brabant. Und es war die ehemalige Königin, die junge, wunderschöne Beatrix von Brabant, die ihn mit einen persönlichen Auftrag beschwerte, der sein Herz und sein Leben verändern sollte.

    Und so gelangte er - während er noch auf den Beginn des »Studium Generale« in Köln wartete - für einige Monate an die Universität Oxford, als Gast, aber auch als Gesandter der Herzöge von Brabant.

    Und dort, in Oxford und Banbury und Winchester, der früheren Hauptstadt des englischen Königreiches, da entdeckte er das »alte England«. Und erstmals eine wirkliche Universität…

    Und neben vielen Anderen begegnete er Magister Roger Bacon, dem Forscher, dem »Experimentierer« mit einem eigenen »Laboratorium«, dem höchst gelehrten, aber auch seltsamen Alchimisten, der so abwegige Ideen hatte, wie knallendes Pulver Kindern als Spielzeug zu geben. Ein wirklicher Magister, der aber auch weitblickende Erfindungen machte, wie eine Art »Sehglas« für Menschen mit schlechten Augen. Magister Roger, der auch ein Träumer war, und in mancher dunklen Nacht Zeichnungen machte von Menschen mit Flügeln wie Vögel, damit sie fliegen könnten…

    Doch zu den wichtigsten Begegnungen seiner gesamten Reise hatte das Zusammentreffen mit dem jüdischen Händler Isaak gehört. Mit ihm, seiner todkranken Frau und seinen Kindern, allen voran das kleine Mädchen Mary, die einmal die Stütze ihres Vaters in dessen Fernhandelsgeschäft werden sollte. Und er hatte Mary - vom Viehmarkt in der kleinen Stadt Banbury kommend - ein Lämmchen geschenkt. Und von dem Tag an begann Mary, von einem Lamm zu träumen. Und Marys Träume nahmen immer mehr zu, an Inhalt und Intensität. Und damit das Mädchen sich äussern konnte, hatte er ihr - durch Geld aus dem Hause Brabant gut ausgestattet - sogar eine kleine Ausbildung in einem Frauenkloster ausserhalb der Stadt finanzieren können, gegen den anfänglichen Widerstand ihres jüdischen Vaters…

    Und die langsam heranwachsende Mary hatte ihm mit staksiger Schrift an sein Kölner Domizil geschrieben, sie wolle mit ihm in Kontakt bleiben. Und sie sei sehr einsam. Und zum Glück hatte er ein wenig Englisch gelernt in Oxford, so wenig aber, dass er meistens mehr erahnte als verstand, was sie ihm da mitteilen wollte…

    …. und immer neue Träume hatte sie. Und als ihre todkranke Mutter starb, musste Mary eine Zeit lang deren gesamte Aufgaben übernehmen. Und Marys Traum, nämlich ihre Ausbildung fortzusetzen und ihrerseits zu reisen, der schien in weite Ferne gerückt zu sein.

    Und als er dann im Sommer diesen Jahres seine überstürzte Rückreise aus Köln zurück ins Wallis antreten musste, konnte er Mary wenigstens noch eine kurze Notiz schreiben, er sei jetzt sehr lange weg, würde sich aber früh im kommenden Jahr melden. Alles könne sich verändern…

    Und bestimmungsgemäss hatte er nicht nur einzelne scholastische Studien in Köln betrieben, sondern er hatte das gesamte »Studium Generale« beendet und darüber sogar eine Urkunde erhalten. Und einen exzellenten Lehrmeister, Albert von Lauingen, hatte er gehabt und einen genialen und in vielem nicht leicht verständlichen Freund hatte er gefunden, einen italienischen Grafen, den stets dichtenden und denkenden Thomas, aber es gab zwischen ihnen nie Förmlichkeiten: Sie riefen sich einfach mit Ordensnamen.

    Und dann, auf einer genehmigten Absenz, hatte er die Königskrönung des jungen Willhelm von Holland im Dom zu Aachen erlebt.

    Und trotzdem es nun im Reich zwei Könige gab - den Staufer Konrad und den Holländer Wilhelm - hatte die Krönung selbst in ihm tiefsten Eindruck hinterlassen: Sie schien ihm »echt«, angemessen, würdig und gültig. Und sein Lehrer, Meister Albert, hatte ihn dort zusammen mit dem Herzog von Brabant gesehen und daraus mehr Rückschlüsse gezogen als ihm eigentlich lieb war. Und seither genoss er Vorzüge und eine Sonderbehandlung, derer er sich nicht würdig schien.

    Dann aber hatte er sich einmal auf einen, vorsichtig gesagt »nicht zureichend genehmigten Exkurs« nach Frankreich begeben, was ihm fast seinen Ausbildungsplatz gekostet hätte. Doch dort, in Lyon, hatte er sich nicht nur dem Oberhirten der Kirche - seinem eigentlichen Auftraggeber - bis auf wenige Meter nähern können, er traf noch einen ganz Anderen, einen den er seither nie wieder vergessen konnte: Den Franziskaner Giovanni Piano Carpini.

    Der war nicht nur ein Freund von Franziskus von Assisi gewesen, sondern er hatte soeben dem Papst in Lyon mündlich Bericht von seiner Reise zum Herrscher der Mongolen gegeben. Und Piano Carpini hatte sich - einmal der Mühen des Reisens entledigt - tagelang Zeit für den jungen Walliser genommen. Und im breitesten toskanischen Dialekt hatte er seine Reise, gründlich ausgeschmückt mit all dem Unwichtigen, was eine so wahnsinnige Reise so einmalig macht.

    Seither gingen ihm die Phantasien über braune und gelbliche Menschen mit blauschwarzen Haaren und einer kehligen, singenden Sprache nicht mehr aus dem Kopf. Und in seinen Träumen sah er sich dem alten Franziskaner nachfolgen, Länder und Meere und - geistig - Reiche erobernd.

    Doch auf seiner Rückreise von Lyon nach Köln hatte er ein viel naheliegenderes Reich entdeckt, ein vernachlässigtes und in gewisser Weise verstecktes, war es. Er hatte die Juden besucht, die in Speyer, Worms und Mainz lebten. Und er war - als ihr Gast - tief und in grosser Freude in ihre Welt eingetaucht. So tief, dass er bei seiner schliesslichen Rückkehr zu den Dominikanern nicht mehr der selbe war. Und er konnte deren tiefe Ablehnung des jüdischen Lebens nicht mehr verstehen, nicht ihre Debatten um Schuld und Sühne, und schon gar nicht ihre Bücherverbrennungen und ihre faktischen Vertreibungen.

    Und als er in der darauffolgenden sommerlichen Unterrichtspause des «Studium Generale« die schwäbischen Städte am oberen Neckar und der Rems besuchte, auch um der zunehmenden inneren Distanz zu den Kölner Scholastikern Raum zu geben, kam es zu einer denkwürdigen Begegnung mit der Familie der geächteten Staufer. Und besonders die Frau Konrads IV, Elisabeth, die sich mit Fug und Recht als Königin von Jerusalem verstand, war beeindruckt von seinen Beziehungen zum Hause Brabant.

    Und er wurde dort gebeten, eine geheime Botschaft an die »frühere Königin«, Beatrix von Brabant und ihre jüngere Schwester Maria zu überbringen. Es würde sich um die Anbahnung einer tiefen Beziehung zwischen den beiden von alters her verwandten Familien der Staufer und derer von Brabant handeln. Und man gab ihm das Versprechen, dass man sich bei passender Gelegenheit bei ihm revanchieren wolle, denn seine Treue solle belohnt werden.

    Und so kam es, dass er anschliessend erneut mehrere Wochen am Hof des Herzogs von Brabant verbrachte, bevor er dann seine Studien im folgenden Jahr abschloss.

    Doch nie wieder hatte er eine seiner ersten Schülerinnen zu Gesicht bekommen, Margarethe von Brabant, die jüngste Tochter des herzöglichen Hauses. Margarethe, die er - typisch für seine Zeit, wie von Ferne nur - verehrt hatte. Doch Margarethe hatte ihn, jugendlich wie sie damals war, glühend geliebt. Und nachdem sie später Äbtissin des Klosters Valduc geworden war, schrieben die beiden sich gelegentlich noch. Und Margarethe war die erste, die eine Ausbildung für Frauen einführte, nach einem Konzept, dass er als erster entwickelt und formuliert hatte.

    Und stets hatte er dabei - still und nur im beständigen Briefwechsel mit der ernsten und tiefgründigen Äbtissin des altehrwürdigen Stiftes zu Quedlinburg, der Dame Gertrudis von Ampfurth - an der Idee weitergearbeitet, auch seiner eigenen Schwester Anna eines Tages eine Ausbildung zu ermöglichen, obwohl sie aus einem sehr einfachen, ja aus einem bäuerlichen Haushalt kam. Dem untersten, aber freien Stand.

    Und all das hatte er, Pergament für Pergament mit oft kleinsten Buchstaben und Zeichen füllend, aufgezeichnet, im Gespräch mit sich selbst, wies es ihm schien. Oder - gelegentlich in der Manier des Kirchenvaters Augustinus - im Gespräch mit dem Schöpfer. Und so entstand das, was man später »Buch der Tage« genannt hat, was er selbst aber immer als »Das Leben eines Geringen« bezeichnet hatte.

    Und alle diese Schätze - und sogar Teile eines echten Schatzes, verschiedene Steine, zum Teil aus der äusserst wertvollen Hinterlassenschaft eines verstorbenen Lübecker Kaufmanns - führte er nun mit sich in einem Bündel, das wohl weniger kräftige Gestalten als er es war mit Fug und Recht abgelehnt hätten auch nur eine gallische Meile weit zu tragen.

    Sein Leben, so musste er sich eingestehen, war in den Jahren seiner Ausbildung durch eigenes und höheres Zutun, durch Glück und wunderbare Fügungen, völlig verändert worden. Und er hatte begonnen, sich - wenn auch fast im Geheimen - als ein wichtiger Teil des Gefüges im Reich zu verstehen, Beziehungen zu wenigstens einigen der Grossen zu halten und selbst von den Klugen, und sogar im gelegentlichen Dissens, geschätzt zu werden.

    Doch all das wurde schliesslich erdbebengleich erschüttert, als er - exakt am zweiten Jahrestag der Grundsteinlegung des neuen Domes zu Köln - die Nachricht von der unheilbaren Krankheit seiner Mutter und ihrem absehbaren Tod erhielt.

    Und er versuchte, in diesem entscheidenden Moment, da er seine Ausbildung bereits abgeschlossen hatte, ja, er versuchte das Unmögliche:

    Trotz der riesigen Entfernung von mehreren Hundert Meilen brach er noch vor dem Bartholomäus-Fest mit allem, was er hatte, nach Süden auf. In der Mitte des Monats August, noch in der langsam nachlassenden Hitze des Sommers im Jahre 1250 A.D. Von der Furcht gejagt, die tief verehrte Mutter nie wieder zu sehen, und von der Hoffnung getrieben, dies würde ihm gelingen, wenn er sich nur äusserste Mühe gab.

    Alles hatte er dabei hinter sich gelassen, und nichts konnte er nun weiter wahrnehmen von den vielen Möglichkeiten, die sich ihm in seiner jetzigen Lebensphase geboten hätten. Mit seiner sich über Monate hinziehenden Reise hatte er zunächst alle Beziehungsfäden abgeschnitten.

    Und nur Wenigen erklärte er sich überhaupt: Albertus, dem Magister, der ihn ausgebildet hatte, dem Freund Thomas, einem früheren Reisegefährten, Nikolaus in Lübeck sowie der Äbtissin Getrudis in Quedlinburg per Brief.

    Und kaum blieb ihm noch Zeit, der verwaisten Mary in Englandwie bereits erwähnt - einige Zeilen zu schreiben. Doch einige nach Oxford reisende Dominikaner hatten das winzige Schriftstück am - Ende dorthin mitgenommen.

    Und so war er den Rhein entlang geeilt. Zurück. Zurück in die Täler, aus denen er gekommen war. Mainz, Worms, Speyer hinter sich lassend, und selbst die Städte Freiburg und das alte Basel nur kurz berührend, flog er fast auf den oft gefährlichen und keineswegs nur geraden Pfaden, die den grossen Fluss hinauf führten.

    Und als er den Rhein hinter sich gelassen hatte, war er dann auch die Aare hinaufgeeilt. Dann, nachdem er die Thuner Gegend bei dem gerade erst im Jahr vor seiner Ankunft gegründeten Flecken Thierachern verlassen hatte, war er hierher abgebogen, über den altehrwürdigen Ort Frutigen - wo er in nur wenigen Tagen einen Freund in dem mit Sonderaufgaben betrauten Priester Henricus gefunden hatte - hinauf in das obere Tal der Kander.

    Und ganz am Ende des Kandertales, nahe am Eingang zu dem nun über ihm liegenden Gasterntal, hatte er in der vergangenen Nacht in einer kleinen Hütte, und das nur für wenige Stunden, Rast gemacht.

    Schliesslich war er - an diesem kühlen Morgen - von dort aus aufgebrochen in Richtung des gen Südosten abbiegenden, hoch oben zwischen steilen Felsen verborgenen und einsam gelegenen Gasterntals.

    Dort angekommen - nachdem er die enge und von der Gischt der reissenden Bergflusses durchnässte Chlus noch im Dunklen durchquert hatte - dort, am Eingang des Gasterntals, richteten sich all seine Gedanken auf den vor ihm liegenden, beschwerlichen Weg.

    Denn vor ihm lagen Stunden einsamster Wanderung in einem tundraartigen, zum Teil morastigen Gelände, bevor dann der äusserst steile Aufstieg auf den Lötschenpass, der fast zwingend über den dortigen Gletscher führen musste, in einen eher milden, aber auch ermüdend langgezogenen Abstieg in die oberen Täler des Wallis übergehen würde. Dort, am Ende zweier weiterer riesiger Tagesetappen über Raron, Visp und Brig - »quasi morgen schon« dachte er kurz - lag dann sein eigentliches Ziel: Noch einmal die sterbende Mutter sehen!

    Und er war entschlossen, heute noch über diesen uralten Saumweg, den am Ende des Gasterntales beginnenden Lötschenpass, in seine Heimat zurückzukehren.

    Zurück. Nur noch Zurück!

    Es war nicht nur eine Art edles Gelöbnis - er wollte seine Eltern ehren und seinem Vater beiseite stehen - , das ihn in dieses »Zurück« hineintrieb. Es war darüber hinaus das aus tiefer Seele ersehnte Wiedersehen mit denen, die er liebte. Deren Sprache, und vor allem deren Verhalten, das er ohne Nachzudenken und in allen nur denkbaren Nuancen kannte.

    Und es war - das musste er sich nun auch eingestehen - das Verlangen, diese Bergwelt, aus der er kam, erneut mit Händen und Füssen, Augen und Ohren und allen Sinnen zu erfahren, sie einzuatmen, mit ihr wieder eins zu werden. Wie in den Jugendtagen! Sein Leben, sein wirkliches Leben, war dort verborgen, fühlte er.

    Es gab an diesem Morgen in den ersten Oktobertagen des Jahres 1250 in ihm kein Zögern, kein hemmendes Nachsinnen und schon gar kein Innehalten. Alles in ihm war ein einziges »Vorwärts«. Das vor ihm Liegende hatte von seinem ganzen Wesen Besitz ergriffen, und alles in ihm war Entwurf und Hoffnung und Streben und Erwartung und Wille.

    War es Schicksal, was ihn da so trieb? Oder Bestimmung, die ihn erwartete? Oder Berufung, der er folgte? Und es schoss für einen Moment vor seinem inneren Auge auf, was ihm sein Bruder bei einer ihrer letzten Begegnungen einmal zugerufen hatte:

    »Wir sind immer in der Hand des Herrn…

    … siamo sempre nelle mani del Signore«,

    hatte er gesagt. Leichthin auf Italienisch hatte es sein Bruder hingeworfen, der Sprache der Umgebung, in der dieser in den letzten Jahren seinem Beruf nachgegangen war.

    Weit entfernt war sein Bruder da, im Süden, einem deutschen König dienend, den er nie kennengelernt hatte, mehr noch, dem noch regierenden Römischen Kaiser und anderen hohen Herren seines Hofes treu ergeben. Und schon lange hatte er nichts mehr von dem etwas Jüngeren, »Kleinen«, seinem geliebten Bruder, gehört.

    Doch an diesem klaren und frischen Oktobermorgen, der ihn nun aus den Erinnerungen wieder in die Wirklichkeit zurückbrachte, spürte er auch die Herausforderungen seines Weges. Er war sich der Gefahren der Berge durch Herkunft, Übung und eigene Beobachtung wohl bewusst. Und nein, er wollte das, was er nun schon viele Jahre erfolgreich vor Gefahren bewahrt und was er stets intakt gehalten hatte, dieses Leben, sein ihm geschenktes und anvertrautes Leben, keinesfalls auf dem Weg verspielen oder gar verlieren. Wie manche vor ihm, die zu spät im Jahr, oder eben sonst irgendwie zur Unzeit, zu viel gewagt hatten. Und dabei alles verloren.

    Er band - nun die ihn im ständigen Nachsinnen fast lähmenden Gedanken unterbrechend - geschwind nochmals die Riemen seiner Schuhe fester und ging, endlich entschlossen, weiter. Für eine Sekunde fröstelte ihn.

    »Herr, eile mir zu Hilfe!…

    … deus, in adiutorium meum intende«,

    Er betete dieses Stossgebet in dem Latein seiner gerade zu Ende gehenden Studienjahre. Dann aber setzte er nach - in der Sprache, in der er in seinem Tiefsten dachte. Und dieses Gebet nun spiegelte die wirkliche Bewegung seiner Seele:

    »Was scheinst Du mir so fern, mein Gott? Eile mir zu Hilfe, denn mir ist angst und bange… ich will, was ich soll, aber mir graust vor dem, was ich muss… hilf mir doch, Herr! Denn wofür tue ich das alles, wenn nicht, um letztlich auch Dir gehorsam zu sein!

    Und wenn Du mich schon derart sendest, wenn Du mir doch Deine Gebote derart schwer aufs Herz legst, dass sie mich Hunderte von Meilen antreiben, und dass sie mir keine Ruhe gönnen, dann hilf mir doch bitte auch… und heute, heute ganz besonders!«

    Doch er nahm sich - aus einem erlernten Reflex heraus - sofort wieder innerlich zurück:

    War er zu frech, zu anmassend gegenüber Gott? Durfte er so mit ihm, dem Herrn, reden? Würde der ihn hören, wenn er gar so trotzig rief? … und: Ach, seufzte er fragend: Hörte dieser Erhabene und Entfernte ihn überhaupt? Die letzten verzagten, fast verzweifelten Meilen hierher, die hatten ihm das Fürchten gelehrt.

    »Bitte verzeih meine Anmassung und sei mir nah!«,

    hörte er sich dann sagen, immer weiter kräftig schreitend. Wie neben sich selbst stehend, hörte er sich dann doch nochmals mutiger reden, so als hörte er sich völlig von aussen, so als sei er in Wirklichkeit ein Anderer:

    »Bitte bring mich in mein Tal zurück, in mein Zuhause! Gib mir einen Ort, einen heimatlichen Platz, eine Bleibe… nach der ungeheuer langen Wanderung«.

    Er war den Weg schon lange nicht mehr gegangen, und nicht in diese Richtung. Diesmal jedoch kam er auf dem uralten Weg zurück. Das letzte Mal - noch in seinen Jugendtagen - war er auf diesem Weg weggegangen, auf eine kurze Entdeckungsreise, und auch um die Berge seiner weiteren Heimat zu erkunden. Und nun war Erkunden sein Leben geworden, Entdecken sein Beruf und fröstelnd wurde es ihm klar

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