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...und so tickt ein Mediziner: Auf der Suche nach human-er Medizin
...und so tickt ein Mediziner: Auf der Suche nach human-er Medizin
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...und so tickt ein Mediziner: Auf der Suche nach human-er Medizin

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About this ebook

Tausende junge Menschen träumen davon, Medizin zu studieren, um Arzt zu werden. Warum wählen sie diesen Beruf? Was versprechen sie sich für ihre Zukunft? Welche Vorstellung über die Tätigkeit eines Arztes haben sie? Folgen sie einer Berufung? Haben sie eine Vorstellung davon, was sie während des Studiums erwartet? Wie sieht ihre zukünftige Tätigkeit in den Krankenhäusern, Universitätskliniken, Notfallambulanzen oder in den Arztpraxen aus?

Nach dem Medizinstudium in Polen begibt sich der Autor auf den mühsamen Weg durch verschiedene medizinische Einrichtungen in Polen, Finnland, den Niederlanden und schließlich der Bundesrepublik Deutschland. Er beschreibt das "Medicus-Land" aus der Sicht eines Studenten, eines Arztes im Praktikum, eines Fast-Facharztes, eines Doktoranden an einer Uni-Klinik, eines Spätaussiedlers in der BRD, eines Oberarztes in einem "Krankenhaus am Rande der Stadt" und schließlich eines Praxisinhabers.
Welche Menschen bewegen sich in diesem "Schwimmbecken voller Haie"? Welche Motive sind es, die sie dazu bewegten, den Arztberuf zu wählen? War das wirklich Berufung? Wie haben sie den Zusammenstoß ihrer Vorstellungen und der Wirklichkeit verkraftet? Mit welchen Problemen haben sie im beruflichen und privaten Alltag zu kämpfen?
Nach über 40 Jahren Tätigkeit gewährt der Arzt mit umfangreicher Berufserfahrung in verschiedenen Milieus einen unverhohlenen Blick hinter die Kulisse der Äskulap-Welt, auf die sonnigen und die Schattenseiten, auf die Probleme des Krankseins und des Sterbens.
Diese Retrospektive, gepaart mit einer Prise Selbstironie, erlaubt dem Medizinstudenten, dem jungen Arzt und allen potenziellen "Schützlingen" des Gesundheitswesens, den "Lauf des Lebens" im Medicus-Land kennenzulernen.
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateNov 13, 2019
ISBN9783749718641
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    ...und so tickt ein Mediziner - Sylwester Dr. Minko

    Kapitel I

    Knocking on Medicus door

    Der erste Schritt bei einer Reise besteht nicht darin, sich zu entscheiden, wohin man aufbrechen will – sondern überhaupt erst mal aufzuwachen und aus dem Bett zu kommen.

    Dass es schwer werden würde, hatte ich spätestens in der letzten Klasse des Gymnasiums begriffen. Egal wie holprig der Weg wird, Hauptsache, die Richtung stimmt, dachte ich, denn ich konnte mir keinen Richtungswechsel leisten, höchstens einen Plan B. Dass mein Weg unendlich und aufreibend wird, ahnte ich am Anfang allerdings noch nicht.

    Bis dahin war ich eher ein durchschnittlicher Schüler; ich saß nie in der ersten Reihe, kümmerte mich nie um die griffigsten Formulierungen im Literaturunterricht und besaß noch ein Leben außerhalb der Schule. Die Welt um mich herum war viel interessanter, als etwas über Dinge zu hören, die ich schon längst verstand.

    Hausaufgaben waren für mich eher eine lästige Angelegenheit, in Mathematik kämpfte ich jedes Jahr erneut ums Weiterkommen. Die Pflichtlektüren fand ich langweilig, meistens beendete ich nach zwanzig bis fünfzig Seiten das Lesen. Ich bat eine Mitschülerin aus der ersten Reihe kurz vor dem Unterricht um eine Zusammenfassung, damit mich die hagere und verklemmte Lehrerin nicht in meiner totalen Ahnungslosigkeit erwischte. Sie hatte einen Pferdeschwanz und sah aus wie eine Heuschrecke.

    Ich kann mich noch erinnern, wie sie versuchte, uns für die moderne Poesie eines unglücklichen Poeten namens Rafał Wojaczek zu begeistern. Sie las uns ein Gedicht von ihm vor und als sie zu den Worten kam: „… aus Angst hat’s begonnen zu stinken …", lachte die ganze Klasse unaufhörlich. Ihr Gesicht lief rot an, sie beschimpfte uns als unreifen Haufen und verließ entnervt den Raum. Und sie hatte recht. Mich interessierten andere Bücher. Natürlich Karl May, den ich in der 3. Klasse der Grundschule im Licht einer Petroleumlampe gelesen habe. Auch andere historische und Abenteuerromane, an denen in der polnischen und fremdsprachigen Literatur kein Mangel bestand, las ich gern. Die Unterrichtspausen nutzte ich für einen kurzen Blick in die Schulbücher und meldete mich mit dem Wissen, das ich gerade erworben hatte.

    In Sport war ich ebenfalls eine Niete; beim Geräteturnen verspürte ich unüberwindbare Angst vor dem Pauschenpferd und vor Sprüngen jeder Art. Nur laufen konnte ich ziemlich schnell. Im Fußball wurde ich immer als Letzter zugeteilt, meistens als Torwart wie alle anderen im „Club der Verlierer". Die Helden der Klasse waren andere, vor allem die Sportler. Einer schaffte es bis zur Jugendmannschaft in einem der örtlichen Fußballklubs der Regionalliga; die ganze Klasse stand felsenfest an der Seite dieses Klubs.

    Besondere Gutmütigkeit konnte mir niemand vorwerfen, höchstens die Tauben auf dem „Platz der Freiheit in meiner Stadt, die ich regelmäßig auf dem Weg vom Gymnasium nach Hause fütterte. Ich unterschied mich in dieser Hinsicht nicht von den meisten Mitschülern und auch sonstigen Menschen in der Stadt. Ich hatte ebenfalls etwas dagegen, dass die halbstarken Jungs aus der Gegend die Früchte unseres Walnussbaumes für sich beanspruchten. Die wollte ich unbedingt für mich und meine Brüder behalten. Mit dem Vorwurf des Egoismus habe ich mich abgefunden, nachdem ich folgende Definition desselben erfuhr: „Ein Egoist ist ein Mensch, der nicht jede Minute seines Lebens damit verbringt, das Leben der anderen Egoisten angenehm zu gestalten. Es war mir bewusst, dass, wenn ich es zugebe, ein Egoist zu sein, ich damit ein Gefühl der moralischen Überlegenheit bei den Nächsten hervorrufe. So ein Gefühl hilft, erfreut und erleichtert und gibt dem Leben einen Sinn. Zwar nicht so gut wie Rache, Vergeltung oder Hass, aber immerhin.

    Es war auch nicht so, dass ich unbegabt war. Irgendwann, ich ging noch zur Grundschule, wurde ich zusammen mit einem etwas älteren Schüler einem Intelligenztest unterzogen. Dessen Ergebnisse bewegten meine Eltern dazu, mich ins Gymnasium zu schicken und in einer Klasse einzuschreiben, in der Latein als zweite Fremdsprache nach Russisch Pflicht war. Sie dachten schon damals an ein Medizinstudium für mich. Beim Elternsprechtag hörte meine Mutter regelmäßig: „Begabt, aber faul." Dieses entsprach vollkommen der Wahrheit. Danach gab es zu Hause Zoff und einige Schläge mit einem feuchten Küchenlappen.

    „Maurer wirst du - nicht Arzt! Oder ein Putzer!", klagte die Mutter enttäuscht.

    Ich schwor Besserung und alles ging weiter wie bisher.

    Meine Begabung war die Musik. Schon als kleines Kind konnte ich nach Gehör einige Melodien auf einem kleinen Akkordeon oder auf dem Piano spielen. Mit besonderer Einfühlsamkeit und Hingabe spielte ich den Trauermarsch, den die Blaskapelle der hiesigen Feuerwehr bei den (üppig bezahlten) Begräbnissen spielte. Ich schloss die Augen und hörte Musik. Auch morgens wenn ich aufstand, hatte ich bereits eine Melodie in meinem Kopf, die ich nicht loswerden konnte. Ich durfte anlässlich einer „Feier zum 1. Mai" im Festsaal der freiwilligen Feuerwehr auf der Bühne eine Gruppe singender Mitschüler mit meinem Akkordeon begleiten. Dazu musste ich mir, wie auch andere Schüler, widerwillig eine rote Krawatte binden lassen - ich ein kleiner Kommunist!

    Später im Gymnasium spielte ich im Schulorchester Cello. Der Dirigent brauchte eben dieses Instrument und keinen Akkordeonisten oder Pianisten mehr im Orchester. So erteilte er mir kostenlosen Cellounterricht. Mangels ausreichender Übung blieb ich ein ziemlich mieser Cellist. Der Hauptvorteil dieser Mitgliedschaft im Orchester waren die jährlichen, vom Kulturministerium gesponserten, Aufenthalte in Zakopane. Wir gaben dort einige Konzerte für die Urlauber und wanderten in den Bergen.

    Die Musik verhalf mir aber auch zu meinem einzigen Triumph im Gymnasium. Einmal im Monat organisierte die Pommern-Philharmonie in Bydgoszcz in den Schulen Konzerte, genannt Artos. Ähnlich wie bei Leonard Bernstein in Amerika, nur fanden sie nicht in der Philharmonie, sondern in der Schulaula statt. Eine charmante Moderatorin präsentierte unterschiedliche Themen aus der Welt der Klassik, Oper, Volksmusik und sogar Jazz. Am Ende des Schuljahres gab es ein Quiz. Meine Mitschüler schoben mich auf die Bühne und ich musste gegen die Favoritin aus dem konkurrierenden Gymnasium antreten. Ich bekam Herzklopfen und einen trockenen Mund, denn sie war hübsch und ziemlich kompetent – dennoch habe ich das Quiz gewonnen. Ich war für einen Tag der Held der Schule. Von diesem Gefühl zehrte ich noch lange. Aber waren meine musikalischen Fähigkeiten ausreichend, um daraus einen Beruf zu machen und den Lebensunterhalt zu bestreiten? Ich besaß ausreichend Selbstkritik, um diese Frage zu verneinen. Und wer wollte in der Zeit der Beatles und Rolling Stones noch einen Akkordeonisten hören, außer vielleicht ein paar alter Säcke und Parteifunktionäre?

    Im letzten Jahr des Gymnasiums änderte sich vieles. Plötzlich verschwand die jugendliche Unbekümmertheit, die Sportler waren nicht mehr die Helden und die Mädels liefen ihnen nicht mehr hinterher. Jedem wurde langsam klar, dass nach diesem einen Jahr das Leben als Erwachsener beginnen würde. Dieses Jahr war die letzte Chance, um sich für die Aufnahmeprüfung an der Universität vorzubereiten und das bedeutete regelmäßiges Lernen und ein Verzicht aufs Leben außerhalb der Schule.

    Das Rekrutierungssystem der Medizinischen Akademie in Poznań war einfach. Es gab 240 Studienplätze für über 800 Kandidaten. Das wichtigste Kriterium für die Aufnahme war die schriftliche Prüfung in Biologie, Physik, Chemie und einer Fremdsprache. Vier Tage nacheinander, jeweils vier Stunden. Anschließend fand ein persönliches Gespräch mit einem Professor statt. Zusätzlich bekam der Kandidat einige Punkte für die Durchschnittsnoten dieser drei Fächer auf dem Abiturzeugnis; es gab zudem Punkte für die soziale Abstammung (Kinder von Arbeitern und Bauern bekamen einige Punkte mehr), Punkte für Zugehörigkeit zu den sozialistischen Jugendorganisation und schließlich noch Punkte für das männliche Geschlecht. Diese Bewertung nach Geschlechtsorganen war für mich eine willkommene Besonderheit. Die Begründung dafür war, dass Männer für Chirurgie und Orthopädie besser geeignet seien als Frauen und dass Frauen den Arztberuf zu dominieren drohten. Man sorgte für Gleichberechtigung, nur in die andere Richtung.

    Nur ein Schüler aus meiner Klasse hatte einen sicheren Studienplatz. Janusz kam inmitten des vorletzten Schuljahres aus einer anderen Stadt. Er sah anders aus als wir alle. Mager, groß gewachsen mit dünnem Bärtchen, abgedunkelter Brille und einer tiefen sonoren Stimme wirkte er wesentlich reifer als wir alle zusammen. Ein Lehrer fragte ihn nach seinen Hobbys. Was er sagte, verblüffte die ganze Klasse.

    „Mein Hobby ist die Astronomie!", antwortete er mit überraschender Klarheit.

    Hä …? Was? Astronomie? Nicht Basketball, nicht Fußball, nicht Musik, nicht mit den Freunden ausgehen, sondern Astronomie?! Was für ein Sonderling!, dachten die meisten. Aber als zweifacher Gewinner der Astronomie-Olympiade für Schüler konnte er einen Studienplatz für Astronomie frei wählen, bei welcher Uni auch immer. Ich saß mit ihm in einer Schulbank.

    Er hatte sich selbst ein Teleskop (Reflektor) gebaut, die Linsen eigenhändig geschliffen, und stellte es auf der Dachterrasse seines Hauses auf. Aus dem Westen bekam er die Zeitschrift Sky & Telescope und lernte autodidaktisch Englisch, um sie zu lesen. Für seine Kenntnisse der lateinischen Bezeichnungen der Sternkonstellationen bekam er vom Lateinlehrer eine Eins. Eine Eins hatte er auch in Physik.

    An der Kopernikus-Universität in Toruń (Thorn) gab es sieben Astronomiestudenten. Wo sollten die alle später einmal arbeiten? Polen – das Land der Astronomen? Bei den wirtschaftlichen Möglichkeiten des Landes war das schwer vorstellbar. Viel wahrscheinlicher war eine Anstellung in einer Schule als Lehrer mit einem kleinen Gehalt.

    Nach vier Semestern flog er wegen Devisenhandels von der Uni. Ich war nicht überrascht. In den sogenannten PE-WEX-Geschäften (wo es möglich war, für Devisen einzukaufen) duftete es herrlicher als in den anderen, in den Hotel-Restaurants schmeckte das Essen viel besser als in der Studentenmensa, der französische Cognac war unvergleichbar köstlicher als der albanische. Die Marlboro-Zigaretten waren ungleich aromatischer als die polnischen und der Duft des „Amphora"-Tabaks für Pfeifen hatte eine magische Wirkung auf Kommilitoninnen und sorgte für deren vorsichtige Zuneigung.

    Alle Schüler schwiegen zunächst über ihre Absichten, bis beim Ausfüllen der Bewerbungsunterlagen herauskam, dass neun Schüler aus der Klasse Medizin studieren wollten. Die Klassenlehrerin stellte jedem einzelnen eine Frage, die den Kandidaten (wie ich es empfand) peinlich war: „Warum gerade Medizin?"

    Bei der erwarteten Antwort sollte es um den Begriff „Berufung" gehen.

    In der polnischen Literatur gibt es eine Figur aus dem Roman Ludzie bezdomni (Die Obdachlosen) von Stefan Żeromski namens Dr. Judym. Der aus einer guten und einflussreichen Familie stammende junge Arzt hat alle Voraussetzungen, um nach dem Studium eine gutgehende Praxis eröffnen zu können. Als er das Elend der Arbeiterklasse zu Beginn des 20. Jahrhunderts kennenlernt, entscheidet er sich für eine schlecht bezahlte, teilweise kostenlose Tätigkeit für die Armen und engagiert sich für die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse. Dafür verzichtet er auf persönliches Liebesglück und das Leben in Wohlstand. Kurz gesagt: ein Arzt aus Berufung.

    Diese Figur sollte für alle Schüler in Polen das Vorbild sein. Sie passte sehr gut zu dem sozialistischen Prinzip: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen." Die Bedürfnisse eines Einzelnen bestimmte natürlich das System. Alleine das Privileg diesen Beruf ausüben zu dürfen sollte als ausreichende Belohnung reichen.

    Nachdem vier Schüler nacheinander dieselbe korrekte Antwort „aus Berufung gaben und nicht näher präzisieren konnten, was das eigentlich bedeutet, hörte die Klassenlehrerin auf zu fragen. Irgendwie klang das wenig glaubwürdig. Keiner wagte zu sagen: „Ich will reich werden, hohen Respekt genießen, einen anderen Arzt heiraten oder die schönen, fügsamen Krankenschwestern um mich herum haben oder ähnliches. Und ich wusste, viele interessierte genau das. Ich aber fragte mich weiter und frage mich bis heute, warum ich mich damals für diesen Beruf entschied.

    Ich fühlte mich nicht wohl mit dem Gedanken, dass ich keine innere Stimme oder eine von „Oben gehört hatte, die, wie ich meinte, Folgendes verkünden sollte: „Geh und werde Arzt, um den Kranken und Armen dieser Welt zu helfen. Achte nicht auf all die Güter und Versuchungen dieser Welt, auf deine Gesundheit, dein Familienleben, dein Wohlbefinden, denke nur an deine Mission! Ja, solche Menschen, solche aufopferungsvollen Ärzte brauchen wir!

    Meine bisherigen Kontakte mit der Medizin beschränkten sich auf seltene Besuche bei meiner schon älteren und stark übergewichtigen Hausärztin. Ich besuchte sie an den Tagen, an denen ich keine Lust verspürte, in die Schule zu gehen, erzählte ihr irgendwelchen Unsinn und bekam ein Multivitaminpräparat verschrieben. Ich durfte für den Tag zu Hause bleiben, ein Stück Kuchen und ein Erdbeerkompott genießen. Die Frau wusste genau, dass ich kerngesund war, aber sie zeigte Verständnis für mein Bedürfnis nach einer kurzen Pause.

    Die leidensvollen Zwangsbesuche bei der Schulzahnärztin hatten den einzigen Vorteil, dass ich nicht am Unterricht teilnehmen musste, denn die mittels Fußtritt angetriebene Bohrmaschine verrichtete ihre Arbeit keineswegs schmerzlos. An Betäubungsmitteln mangelte es.

    Im kleinen Städtchen Skulsk, in dem ich bis zum elften Lebensjahr aufwuchs, besaß der dort ansässige Arzt einen Wartburg. Es war das einzige Auto im Städtchen und der Doktor fuhr stolz den Wagen bei der Erster-Mai-Parade an der Ehrentribüne vorbei. Dabei winkte er mit einer Rot-Kreuz-Fahne, während die neben der Tribüne stehenden Claqueure klatschten und parteihuldigende Rufe von sich gaben. Bevor der Doktor seinen Wagen zugeteilt bekam, wurde er von den Bauern aus den umliegenden Dörfern mit einer Pferdekutsche oder manchmal auch mit einem Leiterwagen zu den Kranken gebracht. Oft war zu beobachten, dass direkt danach derselbe Bauer auch den Priester in seiner festlichen Arbeitskleidung mit begleitendem Ministranten zu den Kranken brachte, mutmaßlich zwecks letzter Salbung. Der Ministrant betätigte eifrig eine Glocke, was den Zweck hatte, die Gottesfürchtigen zum Niederknien und Bekreuzigen aufzufordern.

    Der Arzt besaß das schönste und größte Haus im Städtchen mit einem großen Garten. Beides verdankte er seiner Frau, die aus einer Familie von Großgrundbesitzern aus der Vorkriegszeit stammte.

    Der Gang zum Arzt glich dem in die Kirche. Zuerst in die Badewanne, feierliche Kleidung und erst dann in die Praxis. Gleichgültig, wie krank man war.

    Im Wartezimmer, wie auch sonst in öffentlichen Räumen, stand ein Spucknapf in der Ecke mit dem Hinweis: „Spucken nur in den Spucknapf!"

    Die wahre Leidenschaft des Doktors aber war die Imkerei. In seinem Garten befanden sich zahlreiche Bienenstöcke. Bei zahlreichen medizinischen Konferenzen, die ich später selbst als Arzt besuchte, warb er eifrig für die breite Verwendung des Honigs, an deren heilende Eigenschaften er fest glaubte.

    In Skulsk sah ich auch zum ersten Mal eine tote Frau. Ich war damals ungefähr neun Jahre alt. Die Dame war schon sehr betagt und lag mitten im heißen Sommer in einem Bett, um das mehrere Kerzen und zahlreiche mit Eis gefüllte Eimer standen. Ältere Frauen saßen im Halbkreis, beteten und sangen mit heulenden Stimmen fromme Trauerlieder. Diese Dinge wurden vor Kindern damals nicht versteckt. Der Tod gehörte zum Leben, war eine Selbstverständlichkeit, und man schaute ihm genauso zu, wie beim bei Melken einer Kuh, beim Eier legen einer Henne oder beim Schlachten eines Schweins.

    Es wäre übertrieben zu behaupten, dass diese Erlebnisse mein Bild des Arztberufs geprägt oder irgendeinen Einfluss auf meine Entscheidung gehabt hätten. Bei der Fernsehserie Dr. Kildare war es anders.

    Wie schön wäre es, so auszusehen wie Dr. Kildare (Richard Chamberlain) und die Lebensweisheit des Dr. Gillespie zu besitzen. Für mich war diese Welt surreal. Der junge Dr. Kildare nahm sich viel Zeit für seine Patienten, untersuchte sie genauestens, führte mit den Kranken und deren Familien lange Gespräche, interessierte sich für deren soziale Probleme, Liebeskummer, konsultierte seine Kollegen und natürlich den erfahrenen und weisen Dr. Gillespie. Patientenzimmer in den Krankenhäusern erinnerten mehr an Viersternehotels, luxuriös ausgestattet, Telefon am Bett, Farbfernsehgerät an der Wand. Das Personal elegant angezogen, schöne, sehr gepflegte, freundlich zugewandte und lächelnde Krankenschwestern. Krankenhäuser inmitten in einer parkähnlichen Anlage, große Autos, noch größere Parkplätze und luxuriöse Krankenwagen. Eine ganz andere Welt.

    Und dann war da noch diese Marktfrau, die auf dem Wochenmarkt quer über den Marktplatz lief mit einem Korb, in dem sich kleine Fläschchen mit Blutegeln befanden. Sie warb mit ihrer fast singenden Stimme für die Ware, die damals breite Verwendung fand.

    In der grauen Welt des Sozialismus gab es wenig Buntes. Damals wie heute waren junge Männer von Autos fasziniert. In Polen gab es wenig davon. Ein Kollege, der gut Englisch sprach, gab mir zahlreichen Adressen von Automobilfirmen aus aller Welt. Von A wie Aston Martin bis Z wie Zastava. Dazu einen auf Englisch verfassten Brief, in dem der Absender, ein „junger Mann mit Perspektive", um ein Prospekt bittet. Ich habe dutzende Briefe an alle diese Firmen versendet, aber nur eine einzige hat mir einen Prospekt zugesandt. Vor einem abgebildeten, barocken und reichlich mit Gold geschmückten Tor zu einer Residenz stand ein Rolls-Royce.

    Ein gutes Omen, dachte ich.

    Wie würde ich meine Beweggründe, das Medizinstudium aufzunehmen, mit der Hand auf dem Herzen beschreiben? Nun, zunächst einmal wollte ich meine Eltern nicht enttäuschen. Sie hatten sich diesen Beruf für ihren Sohn vorgestellt, konsequent gehandelt und immer wieder darüber geredet. Sie haben selbst kriegsbedingt nie eine Chance gehabt, mehr als nur die Grundschule zu beenden.

    Es war bekannt, wie schwierig es war, einen Platz für das Medizinstudium zu bekommen. Der Reiz lag in der Herausforderung, es allen zu beweisen, dass ich - der bisher unterschätzte Schüler - in der Lage bin, es zu schaffen.

    Der Arztberuf war (und ist immer noch) in der Gesellschaft sehr geachtet. Selbst im Sozialismus, wo alle gleich sein sollten, bedeutete er eine beachtliche soziale Position. Nicht bei der Volksmacht, wo die Arbeiter und die Bauern immer präsent und bedacht wurden, dafür aber unter den Menschen. Ein Medizinstudent zu sein, das war etwas Großartiges! Und das wollte ich werden.

    Wie war es bei den anderen? Untereinander sprachen wir nur wenig über die Motive, es war bereits ein Hauch von Konkurrenzdenken zu spüren. Wir kannten uns gut genug, um die Beweggründe zu erahnen.

    Die beste Schülerin unserer Klasse war Kristina, ein fleißiges und aufrichtiges Mädchen aus einer sehr armen Familie. Keine besonderen Begabungen, aber sehr, sehr tüchtig, brav und keusch. Ich habe sie nie mit einem Jungen spazieren sehen. Immer bestens vorbereitet, auf sie war immer Verlass. Sie hat die Medizinaufnahmeprüfung nicht geschafft und begann ein Jahr später ein Studium der Pharmazie.

    Ein weiterer Mitbewerber war Marek, ein großgewachsener und ausgesprochen männlicher Typ, Gesicht eines Boxers mit stark akzentuiertem Kinn. Überraschenderweise hat er mit dem Medizinstudium begonnen, obwohl man ihm eher eine Begabung für Geschichte und Literatur bescheinigte. Nach einem Jahr hat er jedoch das Medizinstudium geschmissen und mit Jura angefangen. Man nannte ihn danach „Die Faust des Gesetzes".

    Alice war sicherlich das am wenigsten attraktive Mädchen des Jahrgangs. Groß gewachsen, schmales langes Gesicht, eine große Nase und eine dicke Brille. Dafür beschenkt mit vortrefflichem und raffiniertem Humor. Obwohl sie ebenfalls eine durchschnittliche Schülerin war, bestand sie die Prüfung und hat dann auch als Erste von uns geheiratet. Auf die Frage, warum, antwortete sie: „Sex! Guter, regelmäßiger, unzüchtiger Sex!"

    Wojtek, genannt Titus (wegen seiner Frisur, die wie bei dem römischen Senator über die Stirn hing) war ebenfalls ein durchschnittlicher Schüler. Seine Eltern waren Kleinbauern mit einem kleinen Stück Ackerland, auf dem sie in einem Treibhaus Rosen züchteten. Damit konnte man in Polen sehr gut leben und trotzdem als arm gelten. Regelmäßig am Ende eines Schuljahres bedachte er die Klassenlehrerin mit einem riesengroßen Strauß roter Rosen. Täglich fuhr er mit einem Zug von seinem etwa vierzig Kilometer entfernten Dorf in die Stadt zum Gymnasium und wartete in dem schmutzigen mit Zigarettenrauch und betrunkenen Mitreisenden überfüllten Warteraum auf die Rückreise. Keiner von uns hat ihn dafür beneidet. Noch während des Studiums heiratete er die reichste Kommilitonin des Jahrgangs.

    Christoph war einer der Söhne eines berühmten Dendrologie-Professors. Der beste Mathematiker im Gymnasium. Seine Leidenschaft war die Fliegerei. Er träumte vom Flugzeugbauen und Fliegen. Dummerweise hat sich die Dame seines Herzens für das Medizinstudium entschieden. Er wollte sie nicht verlieren und folgte ihr. Heute ist er Chefarzt der Chirurgie und fliegt immer noch Leichtflugzeuge.

    Bei keinem der Erwähnten, die ich wohl während der vier gemeinsamen Jahre auf dem Gymnasium gut kennenlernen konnte, war eine Berufung als Hauptmotiv fürs Medizinstudium erkennbar. Und bei den Übrigen ebenfalls nicht. Doch ich hatte wirklich gehofft, vielleicht später Menschen zu treffen, die mir wegen meiner moralischen Unvollkommenheit die Schamesröte ins Gesicht treiben und die meine Bewunderung verdienen würden.

    Nach der Matura galt es aber erst einmal, die Aufnahmeprüfung zu bestehen. Die Medizinische Fakultät (damals: Medizinische Akademie) der Universität in Poznań (Posen) organisierte für die Kandidaten Vorbereitungskurse in den drei Fächern Biologie, Chemie, Physik. Nur Titus, der als Einziger überhaupt in der Lage war, die Kursreise zu zahlen, nahm sie in Anspruch. Schnell erkannte er, dass der Hauptzweck dieser Kurse eher die Aufbesserung der bescheidenen Gehälter der Hochschullehrer war als die Vorbereitung für die anstehenden Prüfungen. Nach einer Woche kam er zurück und lernte zu Hause.

    Ich hatte den ganzen sonnigen Monat im Schatten unseres Walnussbaumes verbracht. An meinen Knien lagen abwechselnd Chemie von Linus Pauling oder Biologie von Claude A. Ville. Über meinem Kopf rauschten sanft die Blätter des Walnussbaumes und es zeigte sich hin und wieder das klare Blau des Himmels. Bienen summten über mich herum. Meine Eltern nahmen skeptisch zur Kenntnis, dass ich zu Hause lernen wollte und sagten resigniert, dass es wohl eigentlich keinen Sinn hätte, mich der Aufnahmeprüfung zu stellen.

    Die männlichen Kandidaten wurden für die Prüfungswoche in einem Studentenheim für Männer untergebracht. Das Heim trug den inoffiziellen Namen Kamtschatka. Es sollte meine Unterkunft für die kommenden sechs Jahre sein. In unmittelbarer Nähe befanden sich eine Milchbar und eine Kneipe.

    Als ich dort ankam, hatte ich begriffen, woher der Name kam. Etwa dreihundert Meter von der Straße entfernt standen vier Baracken, die noch aus der Kriegszeit stammten. Um sie zu erreichen, musste ich mehrere Pfützen überspringen. Die trockenen Stellen an den zahlreichen Bäumen waren mit den Spuren der häufigen Besuche der Hunde gespickt. Die hinterließen hier ihre „Liebesbriefe" für das andere Geschlecht. Dazwischen wuchs Gras und es lagen Steine herum.

    In der ersten Baracke befanden sich eine Rezeption, Administrationsräume und ein Gemeinschaftsraum. Dort standen auf einer kleinen Erhöhung ein Fernseher und ein ungestimmtes Klavier. Auf dem Klavier spielte die stark übergewichtige und wenig musikalisch begabte Rezeptionistin das Lied Ramona. Daneben befand sich ein Leseraum, den wir „Wühl-Raum oder „Schmiede nannten.

    Die übrigen Baracken besaßen jeweils zwanzig Dreipersonenzimmer und zwei Zweipersonenzimmer sowie eine Küche, einen Waschraum mit einer Dusche und einen Toilettenraum. In der Küche standen einige stark verschmutzte elektrische Herde. Im Waschraum gab es vier Waschbecken, die sowohl für die Morgentoilette als auch fürs Wäschewaschen benutzt wurden. Eine Waschmaschine gab es ebenso wenig wie einen Kühlschrank. Die Duschnische trennte nur ein auf einer hölzernen Stange aufgehängter bunter Vorhang aus waschbarem Textil vom Waschraum. An seinem Unterteil war er dunkel verfärbt, was auf eine Pilzkontamination hindeutete. Ähnlich kontaminiert war auch der immer feuchte Holzsteg, der den ganzen Waschraum inklusive Duschnische bedeckte, was die barfuß Duschenden leidvoll erfahren mussten.

    An der Toilette vorbeizugehen, ohne den Zweck dieser Räumlichkeiten sofort erraten zu können, war selbst bei geschlossener Tür ein Ding der Unmöglichkeit. Vier Toilettenkabinen gab es, in denen junge Männer geplagt von bedrückender Einsamkeit Schriften und Bilder hinterließen, die die Größe und/oder Funktionstüchtigkeit ihrer Geschlechtsorgane sowie die der Partnerinnen beklagten oder huldigten. Dazu eine mit weicher Ölfarbe überzogene Wand mit einem Trog, der zur Ableitung des Urins gedacht war. Diese Facilitys standen über sechzig Studenten der Baracke zur Verfügung. Hier konnte man urinieren, betrachten, vergleichen, Ansichten tauschen und Bedenken äußern oder zerstreuen und man fand fast immer einen Gesprächsgenossen.

    Die Zimmer. Knapp dreißig Quadratmeter, drei Betten, ein Kleiderschrank, ein Holztisch, drei Holzstühle und ein Lebensmittelschrank. Ich bekam Bettwäsche, Steppdecke, Kopfkissen, Decke, Tischlampe und eine Wandmatte. Die Wandmatte befestigte ich an der Wand entlang des Bettes. Den Rest durfte ich von zu Hause mitbringen, viel Platz dafür gab es jedoch nicht. Die wenigen kleineren Zweibettzimmer standen den Studenten ab dem 5. Studienjahr sowie den ausländischen Kommilitonen zu. Eine bemerkenswerte Heizungsanlage sorgte im Winter für erträgliche Temperaturen. Warme Luft kam von der Decke aus zwei runden Düsen herunter, die mit weißer Gaze umwickelt waren. Am Ende der Heizperiode verdunkelte sich die Gaze erheblich, ähnlich wie auch die Decke um die Düsen herum.

    Bei den schriftlichen Prüfungen fiel mir auf, dass eine Kandidatin als Einzige im Saal mit einem grünen Kugelschreiber schrieb. Hin und wieder blieb einer der überwachenden Hochschullehrer bei ihr stehen, schaute sich ihren Zettel an und flüsterte etwas. Sie hatte die Prüfung bestanden und wurde aufgenommen. Später stellte sich heraus, dass sie die Tochter eines Dozenten dieser Hochschule war.

    Das finale Gespräch mit dem Professor verlief unaufgeregt. Die peinliche Frage nach der „Berufung" ist nicht gefallen. Er wollte nur wissen, was für ein Buch ich zuletzt gelesen hatte und welche Instrumente ich spiele. Das Buch, das ich zur Entspannung zwischen den Prüfungen las, hieß Es gibt kein Eldorado. Es waren Geschichten von Menschen, die Polen verlassen hatten und ihr Glück

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