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Ulrich von Wengland: Chroniken der Verborgenen Lande 13. Jh.
Ulrich von Wengland: Chroniken der Verborgenen Lande 13. Jh.
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eBook377 Seiten4 Stunden

Ulrich von Wengland: Chroniken der Verborgenen Lande 13. Jh.

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Über dieses E-Book

Die Verborgenen Lande sind eine von mir erfundene, fiktive Region, die - wäre es so möglich, wie ich es mir erdacht habe - in der Alpenregion zwischen Deutschland, Österreich, Italien und der Schweiz zu suchen wäre. Wer immer sich dort schon herumgetrieben hat, wird wissen, dass da nichts weiter ist, als direkt aneinander stoßende Grenzen ...

Solch schnöde Realität muss ja nicht an der Fantasie hindern, dass diese Region in einer anderen Dimension versteckt ist, die mithilfe von Magie erreicht werden kann - nun, jedenfalls in unserer Zeit.

Die Verborgenen Lande sind vier souveräne Staaten: Das Fürstentum Breitenstein, das Herzogtum Scharfenburg sowie die Königreiche Wengland und Wilzarien. Alle vier Länder existieren etwa seit dem 9. Jh. unserer Zeitrechnung.

Im Zentrum der Geschichten steht das Königreich Wengland, dessen Historie ich anhand eines entscheidenden Abschnittes im Leben des jeweiligen Thronfolgers vom frühen Mittelalter bis in die Gegenwart erzähle.

Ulrich von Wengland, die Chronik des 13. Jahrhunderts, erzählt vom Thronfolger des Jahres 1260, der nach dem Tod seines Großvaters, den er als König beerben soll, Hals über Kopf fliehen muss, weil König Ranador von Wilzarien das kurze Machtvakuum nach dem Tod des alten Königs nutzt, um Wengland im Handstreich zu erobern. In den Nachbarstaaten Breitenstein und Scharfenburg sucht er zunächst vergeblich um Hilfe, kann aber im scharfenburgischen Falkenstein Asyl bei seinem Großvetter Dietrich finden. Es dauert nicht lange, bis Spione der Wilzaren ihn dort aufspüren und auch Scharfenburg angegriffen und bis auf ein gut zu verteidigendes Hochtal von den Wilzaren erobert wird. Ulrich und Dietrich, die mit ihren Männern gegen die Wilzaren kämpfen, werden von Herzog Gunther von Scharfenburg im Stich gelassen und unterliegen. Dietrich fällt, Ulrich gerät in Gefangenschaft, aus der er erst nach einem halben Jahr fliehen kann. Nach einer sechswöchigen Flucht gelangt er durch einen geheimen Zugang in die scharfenburgische Grafschaft Löwenstein, wo er gastliche Aufnahme und die Liebe seines Lebens findet. Mithilfe seiner großen Liebe Adeline und deren Verwandten kann er den Herzog schließlich dazu bringen, ihm bei der Rückeroberung Wenglands zu helfen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum6. Jan. 2022
ISBN9783347528185
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    Buchvorschau

    Ulrich von Wengland - Gundula Wessel

    Kapitel 1

    Ruhe sanft, Martin!

    Wengland erlebte in diesem Jahr 1260 seinen wohl traurigsten Sommer. Nach schwerer Krankheit verstarb Königin Regina am 15. Juni im hohen Alter von knapp neunundsiebzig Jahren. Kaum war sie beigesetzt, da wurde der fast achtzigjährige König Martin sehr krank. Den Tod seiner über alles geliebten Frau konnte der alte König nicht verwinden. Seine Söhne Ulrich und Eginhard waren schon seit vielen Jahren tot, und der frühe Tod seiner Söhne hatte König Martin schwer getroffen. Aber nichts kam dem Schmerz gleich, der ihn seit dem Tod seiner geliebten Regina peinigte. Der alte König fühlte sein Ende nahe und ließ seinen Enkel Ulrich kommen, den einzigen Sohn seines ältesten Sohnes Ulrich, der nun der Thronerbe war.

    Ulrich war ein junger Mann von knapp fünfundzwanzig Jahren, mit einer Größe von sechs Fuß hochgewachsen und sehr schlank. Dichte, dunkelbraune Locken umrahmten ein feingezeichnetes, schmales Gesicht, aus dem warme Augen leuchteten, die die Farbe dunklen, transparenten Bernsteins hatten und in denen die Intelligenz des jungen Mannes nicht zu übersehen war. Weil seine Mutter am 8. Oktober 1235 bei seiner Geburt gestorben war, sein Vater vier Jahre später einer Pockenepidemie zum Opfer gefallen war und sein Onkel Eginhard 1243 bei einem Turnier unglücklich zu Tode gestürzt war, hatte Martin Ulrich junior schon seit dem zarten Alter von vier Jahren konsequent zum Thronfolger erzogen. Er hatte ihn von den besten Waffenmeistern seines Reiches unterrichten lassen und sich selbst viel Zeit für ihn genommen. Ulrich hatte viel von seinem Großvater. Nicht nur, dass die meisten Höflinge behaupteten, er sähe ihm sehr ähnlich, ja er sei das getreue Abbild des jungen Martin von Wengland; nein, er war wie sein Großvater ein ausgezeichneter Schwertkämpfer, ein zielsicherer Bogenschütze und galt als im Turniergestech beinahe unschlagbar. Als professioneller Turnierritter hätte er ein Vermögen verdienen können. Doch Ulrich zeichnete die gleiche persönliche Bescheidenheit aus, die auch seinem Großvater zu Eigen war. Außerdem hatte er den ausgeprägten Gerechtigkeitssinn seines Großvaters geerbt, und das hatte in ihm früh das Interesse an den Gesetzen seines Landes geweckt. Ulrich arbeitete gerade an einer Sammlung der in Wengland gültigen Gesetze, als seine Großmutter – für ihn geliebte Mutter – plötzlich erkrankte und kurz danach verstarb. Der junge Mann trauerte noch um die Großmutter, als der Diener des Königs ihn nun zu seinem Großvater rief.

    Ulrich trat in das Schlafgemach seines Großvaters ein und wurde blass, als er den kränklichen Zustand des alten Mannes bemerkte. Solange er seinen Großvater kannte, war er ein Mann von eiserner Gesundheit und starker Natur gewesen. Diese starke Natur hatte den König auch schwere Verletzungen bald überwinden lassen. Aber nun schien den alten Mann jeglicher Lebensmut verlassen zu haben.

    „Großvater – du nicht auch!", entfuhr es dem jungen Ritter erschrocken.

    „Ulrich, komm her!", befahl Martin. Seine Stimme klang matt und brüchig. Schweigend trat Ulrich an das Bett seines Großvaters.

    „Setz dich, mein Junge", setzte der alte Mann dann sanft hinzu. Gehorsam setzte sich der Prinz.

    „Ulrich – ich werde meiner Regina folgen, daran führt kein Weg vorbei", erklärte Martin matt.

    „Nein, Großvater! Lasst mich noch nicht allein!", rief Ulrich, als könnte die Lautstärke seinen Großvater retten.

    „Ulrich!, erwiderte der König mit gewisser Schärfe. „Du musst dich schon zusammennehmen!

    Er winkte die Diener hinaus, die Tür schloss sich leise hinter ihnen.

    „Es ist nicht leicht für dich, mein Junge, das weiß ich nur zu gut. Fünfzig Jahre ist es her, da saß ich – so wie du jetzt – am Sterbebett meines Vaters Rudolf. Mein Vater hat mir damals deutlich gemacht, dass sich meine Trauer auf die Beisetzung und meine Privatsphäre zu beschränken hat. Wenn du allein bist, mein Sohn, kannst du dein Gemach getrost unter Wasser setzen, wenn dir vor Trauer nach Heulen zumute ist. Aber tue es nie in der Öffentlichkeit! Wenn ich tot bin, trägst du die Verantwortung für Wengland und die guten Beziehungen zu unseren Nachbarn. Du wirst dafür all deine Kraft brauchen. Öffentliche Trauer ist dir dabei nur sehr, sehr hinderlich.

    Suche dir beizeiten eine Frau. Es wird Zeit, dass du heiratest und dem Reich einen Erben gibst. Suche dir eine Frau, wie Königin Regina es war. Sie war mir nicht nur eine wunderbare Königin, sie war mein bester Ratgeber, meine Freundin, meine Geliebte – und zur Not meine Klagemauer. Wenn Wengland dir ein solches Juwel nicht bieten kann, sieh dich unter den Töchtern Scharfenburgs um. Ich kann es dir aus eigener Erfahrung nur empfehlen."

    Für einen Moment kehrte jenes Glitzern in die Augen des alten Königs zurück, das ihn berühmt gemacht hatte. Viele nannten dieses Funkeln das Feuer der Gerechtigkeit. Martins stets milde Gerechtigkeit hatte ihm den Beinamen der Gütige eingetragen, aber die meisten seiner Untertanen nannten ihn den Großen. Mehr als fünfzig Jahre lang hatte Wengland in Frieden mit seinen Nachbarn gelebt. Der letzte Krieg lag nun schon bald sechzig Jahre zurück. Martin hatte alles daran gesetzt, den Frieden zu erhalten, was nicht hieß, dass er leichtfertig zurückgesteckt hatte. Dennoch hatte es sogar mit den Wilzaren keine Handgreiflichkeiten gegeben. Nur zu diplomatischen Querelen war es mit den kriegerisch veranlagten Wilzaren gelegentlich gekommen.

    „Ulrich, mein Junge, ich hinterlasse dir ein Reich, indem Frieden ist, in dem es den Menschen gut geht. Presse nie deine Untertanen. Lasse ihnen Freiheit und fordere nie mehr als zehn Prozent ihrer Einnahmen. Das genügt, um dir einen königlichen Hof zu finanzieren und dir ein Heer zu halten, das Wengland vor äußeren Feinden schützen kann. Vermeide unnötigen Prunk, der nur Neid hervorruft, halte deine Grafen möglichst an einer kurzen Leine, damit sie das Volk nicht unnötig durch Fronarbeiten von seinem Broterwerb abhalten. Erhalte dir die Freundschaft deines Volkes. Das ist viel wichtiger, als dass deine Grafen deine Freunde sind. Auf ein dir ergebenes Volk kannst du zählen, auf Grafen, die es eventuell auf deinen Thron abgesehen haben, nicht. Das heißt aber nicht, dass du nun die Grafen knechten sollst. Knechte niemanden! Sei du der erste Diener deines Volkes", erklärte Martin eindringlich. Er nahm Ulrichs rechte Hand, zog den königlichen Siegelring von seinem eigenen Finger und steckte ihn Ulrich an.

    „Dies ist das Siegel, das dich zum Regenten dieses Landes macht. Du hast in den letzten Jahren gesehen, dass ich versucht habe, dieses Land möglichst sanft und milde zu regieren. Was meine Regierungszeit anbelangt, kann ich getrost vor unseren Herrn treten. Bei allem, was du tust, mein Junge, frage dich zuerst, ob du es vor Gott verantworten kannst, dann, ob du es vor deinem Volk verantworten kannst und erst dann, ob es dir selbst einen Vorteil bringt. Du wirst einmal König von Gottes Gnaden genannt werden. Erweise dich Gottes Gnade für würdig.

    Von diesem Augenblick an bist du der Prinzregent von Wengland. Ich weiß, dass Regierung eine schwere Bürde ist. Aber ich glaube, dass Regina und ich dich mit allem ausgerüstet haben, was du für eine weise Regierung deines Volkes brauchst. Deshalb lege ich das Wohl unseres Volkes getrost in deine Hände. Sei ein ritterlicher Fürst. Scheue dich nicht, dein Leben aufs Spiel zu setzen, wenn das Wohl des Volkes – auch einer einzelnen Person – es erfordert. Scheue dich auch nie, vorsichtig zu sein und einen Plan noch einmal zu überdenken. Verlasse dich nie nur auf deine Ratgeber! Gott hat dir einen Kopf zum Denken gegeben! Benutze ihn, denn du hast die nötige Intelligenz.

    Nur eines darfst du niemals tun: Sperre kritische Geister nicht ein! Setze dich mit ihnen auseinander. Wenn ihre Argumente und Vorschläge gut sind, kannst du ihnen folgen. Sind ihre Argumente schlecht, wirst du passende Antworten finden. Aber wenn du sie einsperrst oder verfolgst, werden sie immer mächtiger. Denke daran, mein Sohn!

    Die Tradition verlangt, dass du vor deiner Krönung drei Monate in das Kloster Wachtelberg gehst, um dich in Ruhe auf die Bürde der Königskrone vorzubereiten. Nutze diese Zeit! Lerne, Gottes Stimme zu hören und seine Gebote zu befolgen. Vertraue ihm, denn er wird dich führen. Es ist auch eine Zeit, in der du deine Trauer um deine Großeltern bewältigen kannst. Es ist keine Schande, zu weinen, wenn es niemand sieht, außer Gott."

    Ulrich sah auf seinen Ringfinger, betrachtete das Siegel.

    „Über all diese Dinge haben wir doch schon gesprochen, Großvater", sagte er dann.

    „Ich möchte, dass du es dir noch einmal in Erinnerung rufst. Du kannst nicht oft genug an das Wohl deines Volkes denken", erwiderte der König.

    „Gilt das auch für eine Heirat?"

    „Sicher. Auf jeden Fall langfristig. Such dir deine Frau, wo immer du magst. Nur vor den Wilzaren hüte dich, mein Junge! König Havarik war verschlagen und falsch, König Livor war nicht besser und dem jetzigen König Ranador traue ich nicht über den Weg. An deiner Stelle würde ich keine Wilzarin heiraten, das würde dir nicht nur dein Volk übel nehmen, das würde kein Volk in unserer christlichen Nachbarschaft verstehen. Sieh dich also vor. Ansonsten kannst du deine Frau frei wählen. Sei dir nur sicher, dass du sie liebst, dass sie dich liebt und dass dein Volk sie lieben kann. Als ich mich so unsterblich in meine Regina verliebte, befanden sich Wengland und Scharfenburg im Krieg miteinander. Mir war klar, dass Regina nur meine Frau werden konnte, wenn wir Frieden mit Scharfenburg haben würden. Also habe ich mich um Frieden bemüht. Solche Frauen wie meine Regina gibt es nicht oft. Sie sind wie Diamanten im Wüstensand. Aber wenn dir eine begegnet, wirst du sie erkennen. So viel hast du von deinem Großvater", lächelte Martin.

    „Großvater – ich bin nicht du", wandte Ulrich ein.

    „Das redest du dir ein, mein Sohn, entgegnete der alte Mann. „Du bist der Sohn meines Sohnes, der Kronprinz von Wengland. Ich habe bisher nicht feststellen können, dass du für das Königsamt nicht geeignet wärst. Dass du Zweifel an dir selbst hast, ist natürlich. Ich hatte sie auch. Aber ich kann dir aus Erfahrung sagen, dass das Amt viel Verstand mit sich bringt.

    Er schloss die Augen.

    „Lass den Grafenrat kommen, mein Junge", bat er. Ulrich nickte, stand auf und ging hinaus. Martin schlug die Augen noch einmal auf und sah zur Decke, an der unter den anderen Wappen des Königreichs Wengland auch das Wappen derer von Ibelin angebracht war. Ein seliges Lächeln schlich sich auf das Gesicht des alten Königs, als er an seinen geliebten Onkel Balian von Ibelin dachte, seinen Erzieher, der ihn zusammen mit seiner Gemahlin Sibylla alles gelehrt hatte, was ein König wissen musste – und vieles darüber hinaus. Beide mochten ihre eigentlich zweiten Namen angenommen haben, um Verfolgung zu entgehen, doch für ihn waren sie immer die geblieben, als die er sie an seinem achten Geburtstag kennen gelernt hatte. Martin dachte an Ibelin und Jerusalem, wo er mit seinen Erziehern eine Zeitlang hatte leben dürfen. Er schloss die Augen und war wieder dort; in dem rustikalen Gutshaus, vor dem Totentanz …

    Quod sumus hoc eritis … So, wie wir sind, so wirst du sein, zitierte er den Spruch des Totentanzes, den er damals vor fast siebzig Jahren in Ibelin gelesen hatte. „Onkel Balian … Tante Sibylla … ich komme heim …, flüsterte er. „Ibelin, Jerusalem … ich komme … Je… ru… salem …"

    Leise machte sich seine Seele auf den Pfad zum Himmel. Es war der 12. Juli 1260, der Tag nach dem wenglischen Nationalfeiertag, den Martin unbedingt noch hatte erleben wollen. Am 11. Juli 1210 hatte er mit Regina Wenglands Thron bestiegen. Der 11. Juli 1260 war sein goldenes Thronjubiläum gewesen. Mit fünfzig Jahren Regierungszeit gehörte Martin II. zu den am längsten regierenden Königen Wenglands.

    „Seine Majestät verlangt nach dem Grafenrat", sagte Ulrich draußen vor der Tür zu dem Diener, der vor der Tür stand. Unter König Martin II. war der Grafenrat, dem seit der Gründung Wenglands im Jahr 887 nur die Grafen der sieben größten Grafschaften Wenglands angehört hatten, zum Grafenrat geworden, in dem alle Grafen Wenglands Mitspracherecht hatten.

    „Ich hole die Grafen, Königliche Hoheit", erwiderte der Diener mit einer Verbeugung und ging fort. Bald kehrte er mit den elf Grafenratsfürsten zurück. Zusammen mit Ulrich, dem Grafen von Steinburg, war der Grafenrat vollständig. Gemeinsam betraten die Grafen das Gemach des Königs. Graf Wedigo von Eichgau sah den König an – und wusste, dass er einen Toten sah.

    „Holt sofort den Medicus!", befahl er einem Diener, der auch sogleich davoneilte.

    Wenig später war der Medicus zur Stelle.

    „Seine Majestät ist tot. Er ist ganz friedlich eingeschlafen", sagte der Arzt.

    Graf Wedigo wandte sich an Ulrich:

    „Der König ist tot – es lebe der König!"

    Ulrich schüttelte den Kopf.

    „So dürft Ihr mich erst nennen, wenn die Krönung vollzogen ist. Bis dahin bin ich wohl der Thronfolger und Prinzregent, aber noch nicht der König. Traditionsgemäß werde ich mich für drei Monate in das Kloster Wachtelberg begeben. Ich bitte Euch, bis zum Tag meiner Krönung einen Reichsvogt zu bestimmen, damit das Reich nicht ohne Regierung ist", erwiderte er.

    Die Grafen des Rates sahen sich verblüfft an. Graf Siegbert von Karlsfeld fand als Erster die Sprache wieder:

    „Wahrlich: Ihr seid der Enkel Eures Großvaters. Als Thronfolger habt Ihr das Vorschlagsrecht. Wer soll das Reich bis zu Eurer Krönung verwalten?"

    Ulrich sah in die Runde. Sein Blick blieb schließlich an Siegbert hängen.

    „Ihr seid der Älteste, Graf Siegbert. Deshalb schlage ich Euch für das Amt des Reichsvogtes vor", entschied der Prinz. Die Grafen waren von dem Thronfolger mehr beeindruckt, als sie zugeben mochten. Dem nicht ganz Fünfundzwanzigjährigen hatten sie nicht zugetraut, kluge Entscheidungen zu treffen. Offenbar hatten sie nicht bemerkt, dass Ulrich seinem Großvater in den letzten sieben Jahren kaum von der Seite gewichen war. Der junge Prinz hatte sich bislang unauffällig benommen und sich zu den Problemen der Reichsführung nicht gegenüber den Grafen geäußert. Aber er hatte zugehört und sich mit den anstehenden Aufgaben mehr auseinandergesetzt, als der Grafenrat es vermutet hatte. Die Grafen waren einverstanden. Siegbert wurde im Sterbezimmer des alten Königs zum Reichsvogt bestimmt und sofort auf die Bibel des Königs vereidigt.

    Ulrich seufzte leise.

    „Bitte, Ihr Herren – lasst mich mit meinem Großvater allein", bat er. Wedigo begriff und schob seine Fürstenkollegen diskret aus dem Raum. Als die Tür geschlossen war, brach die Beherrschung des Prinzen zusammen. Er fiel auf die Knie und weinte bitterlich.

    Am darauf folgenden Tag wurden König Martins sterbliche Überreste im Dom zu Steinburg aufgebahrt. Reitende Boten wurden ausgesandt, um den Tod des Königs bekannt zu machen. In Wengland herrschte Trauer. Nicht, weil der Reichsvogt Staatstrauer angeordnet hatte, sondern weil das wenglische Volk seinen König geliebt hatte. So lange es Wengland als eigenes Staatsgebilde gab, war noch kein König oder Herzog so sehr – schon fast närrisch – in Ehren gehalten worden. Der Strom derer, die Martin II. die letzte Ehre erweisen wollten, riss nicht ab. Während der dreitägigen Aufbahrungszeit war ständig eine nicht enden wollende Schlange von Menschen vor dem Dom – und die Besucher schämten sich ihrer Tränen nicht. Der alte König war ein sicherer Garant für Frieden gewesen. Es gab viele Bürger, die nach Martins Tod Angst vor dem hatten, was da kommen würde – und sie ahnten nicht einmal, wie begründet ihre Angst war.

    Am dritten Tag nach seinem Tod wurde der verstorbene König feierlich beigesetzt. Die Totenmesse und die Beisetzung in der Königsgruft in der Domkrypta waren so massenhaft besucht, dass es Reichsvogt Siegbert unbehaglich wurde. Aber Martin hatte in seinem Testament ausdrücklich verfügt, dass seine Beerdigung für jeden seiner Untertanen zugänglich sein sollte. Nicht nur das Volk hatte seinen König geliebt, der König hatte auch sein Volk geliebt. Eine Stunde nach der Beisetzung reiste Ulrich nach Wachtelberg ab. Er brauchte jetzt dringend geistlichen Trost, den er sich von den traditionellen Exerzitien erhoffte. Der Reichsvogt sandte erneut Boten aus, die die Thronfolgeregelung und den voraussichtlichen Krönungstermin des Kronprinzen bekannt machten.

    Graf Irnwart von Südwengland kehrte nach Rothenfels, der Hauptstadt Südwenglands, zurück. Diese an Wilzarien grenzende Provinz war wenige Jahre vor der Thronbesteigung König Martins nach einer mehrmonatigen Besetzung durch Wilzaren zurückerobert geworden. War Martin schon sonst in Wengland ein beliebter und geschätzter Monarch gewesen – hier verehrte man ihn besonders. Seine gütige und gerechte Herrschaft hatte die Wunden der wilzarischen Besetzung heilen können. Graf Irnwart war immer noch tief vom Tod des Königs getroffen – und er hatte gleich eine böse Ahnung.

    „Gott sei Prinz Ulrich gnädig", brummelte er, als er in der Rüstkammer seine Waffen ablegte.

    „Was meint Ihr damit, Herr?", fragte sein Diener, der ihm die Rüstung abnahm.

    „König Martin ist tot, sagte Irnwart leise. „Prinz Ulrich leistet die traditionellen Exerzitien und Graf Siegbert hat nur beschränkte Vollmachten. Unser südöstlicher Nachbar wird nicht lange warten, fürchte ich. Ranador ist wie sein Vater und sein Großvater auf Südwengland scharf, orakelte er düster.

    „Ihr solltet den Reichsvogt warnen, Herr", empfahl der Diener.

    Irnwart schüttelte den Kopf.

    „So klug ist der Reichsvogt auch", entgegnete er – und unterließ es, Graf Siegbert zu warnen.

    Kapitel 2

    Hinterlist

    Noch am selben Abend des Tages, an dem König Martin verstorben war, ritt ein eiliger Bote von der wilzarischen Gesandtschaft zu Steinburg nach Wilzaris, der Hauptstadt des Wilzarenreiches. Fürst Aldaron, der Gesandte des wilzarischen Königs, beließ es zunächst bei einer förmlichen, schriftlichen Beileidsbekundung an den Reichsvogt.

    Als der Bote Wilzaris mitten in der Nacht erreichte, konnte sein Leibdiener es wagen, den König sofort zu wecken, hatte König Ranador doch einst die Anweisung gegeben, ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit augenblicklich zu informieren, wenn in Wenglands Königshaus etwas geschah. So wurde König Ranador zu nächtlicher Stunde vom Ableben seines Hauptfeindes Martin unterrichtet. Schon längere Zeit hatte er sich mit dem Gedanken getragen, einen neuen Eroberungsversuch zu machen. Aber er hatte es nicht gewagt, solange der König noch lebte.

    „Wohl, wohl, dafür hat es sich gelohnt, mitten in der Nacht aufzustehen!", frohlockte Ranador.

    „Herr, Reichsvogt Siegbert kann das Heer nur mit drei anderen Thronräten alarmieren", setzte der Bote noch zu seinem Bericht hinzu. Der König nickte wohlwollend.

    „Du weißt, worauf es ankommt", lobte er den Boten, der unterwürfig vor ihm kniete.

    „Hesekar, mein Kanzler, gib Fürst Aldaron Nachricht! Sagor wird schon etwas einfallen", befahl Ranador seinem obersten Beamten, der inzwischen hinzugeholt worden war.

    „Ja, Herr", verbeugte er sich gemessen.

    In der Woche darauf wurde Fürst Sagor von Aldaron, der als Gesandter Wilzariens in Steinburg lebte, ein Bote aus Wilzaris gemeldet und das Unheil nahm seinen Lauf.

    „Lasst den Boten ein!", wies Aldaron seinen Diener an. Der Bote trat ein, fiel vor dem Fürsten zu Boden und machte den vorgeschriebenen Kotau*.

    „Was bringst du?", fragte Aldaron.

    „Eine Botschaft für den großen Aldaron", sagte der Bote, noch immer vor den Füßen des Fürsten liegend.

    „Steh auf!", sagte der Fürst und nahm das Schreiben seines Herrn. Mit interessierter Miene las er den unmissverständlichen Befehl, den Grafenrat außer Gefecht zu setzen, damit Wengland erobert werden könnte.

    „Nur zu gerne!, knurrte er schließlich. „Lass dir ein frisches Pferd geben, reite sogleich zurück und bestelle Seiner Majestät, dass ich seinen Auftrag gewissenhaft ausführen werde. Sag ihm, dass ich versuchen werde, die Grafen für die kommende Woche in das Jagdhaus Aventur nach Südwengland einzuladen. Sollte das nicht gehen, sende ich eine Brieftaube und teile mit, was ich dann unternehme.

    Der Bote verneigte sich tief, bestätigte den Auftrag und ritt sogleich wieder aus Steinburg fort.

    Aldaron wandte sich an seinen Diener:

    „Geh zur Königsburg. Sag dem Reichsvogt, dass der Gesandte Wilzariens um eine Audienz ersucht."

    Der Diener verbeugte sich und eilte sogleich zur Steinburg. Wenig später war er zurück.

    „Herr, der Reichsvogt erwartet Euch im Thronsaal der Burg."

    Aldaron zwirbelte sich den Schnurrbart.

    „So einen Spaß habe ich mir schon lange nicht mehr gemacht!", grinste er.

    Umgehend erschien der Gesandte in der Burg. Zwei Herwigsgardisten geleiteten ihn in den Thronsaal. Der Königsthron am Kopfende des Saales war mit schwarzem Tuch zum Zeichen der Trauer verhüllt. Schwert und Zepter lagen gekreuzt auf den Armlehnen des Thronsessels. Siegbert von Karlsfeld, der Reichsvogt und die Grafen des Grafenrates – Wedigo von Eichgau, Armin von Eschenfels, Timotheus von Sachstal, Irnwart von Südwengland und Benedikt von Wachtelberg – standen vor dem Thron, als Aldaron eintrat.

    „Seid gegrüßt, Fürst Aldaron. Ihr hattet um ein Gespräch gebeten?"

    „So ist es, erwiderte der Gesandte und verneigte sich. „Mein Herr, König Ranador von Wilzarien, hat durch mich vom Ableben Seiner Majestät, König Martin II. von Wengland erfahren. Er entbietet Euch durch mich sein Beileid, verkündete der Wilzare. „Ihr seht wirklich betrübt aus", setzte er dann hinzu.

    „Wir haben unseren König geliebt, Fürst, erwiderte Siegbert. „König Martins Tod ist ein schwerer Verlust für Wengland.

    Aldaron sah die Thronräte an.

    „Erlaubt, dass ich Euren düsteren Mienen etwas Helle verleihe. Sonst war um diese Zeit die Königsjagd in Südwengland. Ich habe diese Jagd immer sehr genossen und möchte sie nicht missen. Ich weiß, dass Euch die Trauervorschriften die Ausrichtung der Jagd verbieten. Deshalb möchte ich die Jagd dieses Jahr veranstalten", bot der Wilzare an. Siegbert schüttelte den Kopf.

    „Wir können in der gegenwärtigen Situation nicht alle Steinburg verlassen – ich schon gar nicht", gab der Reichsvogt zu bedenken.

    „Oh, wie schade, erwiderte Sagor Aldaron mit gut verdeckter Heuchelei. „Ich hatte wenigstens vier Fürsten des Grafenrates eingeplant. Insbesondere natürlich Euch, Graf Siegbert, und den Kronprinzen. Ich vermisse seine Königliche Hoheit übrigens. Wo ist er?

    „Seine Hoheit befindet sich für einige Zeit auf Reisen. Er wird erst zur Krönung zurück sein", erwiderte Siegbert, was nur halb geschwindelt war. Schließlich war Prinz Ulrich ja tatsächlich nicht in Steinburg. Der Reichsvogt hatte ein ungutes Gefühl, dem Wilzaren mitzuteilen, wo sich der Thronfolger aufhielt. Unter König Martin hatte es seit Jahrzehnten zwar keinen Krieg mehr mit den Wilzaren gegeben, aber gegen Wilzaren hatten Wengländer immer noch ein tiefsitzendes Misstrauen, das von Generation zu Generation weitervererbt wurde.

    „Wäre es denn möglich, eine Jagd in unmittelbarer Nähe von Steinburg zu organisieren?", hakte Aldaron nach. Siegbert sah seine Grafenratsgefährten an, die ihre Enttäuschung über die ausfallende Jagd am Aventur nur schlecht verbergen konnten.

    „Wenn Ihr in Botenweite von Steinburg bleibt, ist es kein Problem", gab der Reichsvogt nach und meinte, damit die Grafen des Grafenrates für Notfälle in greifbarer Nähe zu haben.

    „Nun, dann lasst uns nächsten Sonntag auf die Jagd gehen", schlug Aldaron einen Termin vor. Die Grafen waren einverstanden. Der Gesandte verabschiedete sich und verließ die Burg, um die Jagd vorzubereiten.

    Aldaron war kaum im Hause der Gesandtschaft, als er schon eine Botschaft an König Ranador schrieb, sie einer Brieftaube anheftete und das Tier gen Wilzaris auf die Reise schickte. Schon einen Tag später hielt König Ranador die Nachricht aus Steinburg in der Hand.

    „Ausgezeichnet!, lobte der König. „Feldherr Siram soll kommen!, befahl er dem wartenden Diener.

    Wenig später war Siram zur Stelle.

    „Ihr habt mich rufen lassen, Herr?", fragte er in unterwürfiger Verbeugung

    „Siram, wie schnell könnt Ihr das Heer zusammenrufen?", fragte Ranador.

    „Fürst Bonat und Fürst Tungur sind mit ihrem gesamten Heer zum Turnier nach Wilzaris gekommen. Damit haben wir fünftausend Mannen in Wilzaris selbst. Mit den noch in Bonat befindlichen Teilen des Heeres und Euren eigenen Mannen sind in fünf Tagen sämtliche unter Waffen stehenden Männer zu mobilisieren", erklärte der Oberbefehlshaber des wilzarischen Heeres.

    „Dann ruft alle sofort zusammen! Am sechsten Tag marschiert das Heer gegen Wengland!", trug der König seinem Feldherrn auf. Siram verbeugte sich und schlug mit der Faust gegen seine Brust.

    „Heil, König Ranador!, rief er aus. „Schon lange brennen Eure Soldaten darauf, die Schmach von Wilzaris zu rächen!

    „Dann geh und räche meinen Ahn", entließ Ranador den gehorsamen General.

    Der Sonntag kam heran, es war der 1. August 1260. Außer Ulrich, der im Kloster Wachtelberg meditierte und Siegbert, der in Steinburg blieb, erschienen sämtliche anderen Grafen Wenglands zur Jagd im Siebensteinforst, der bis ans Südwestufer des Steinburger Sees heranreichte und sich über fast fünfzig Meilen in südwestliche Richtung erstreckte. Der Wald war außerordentlich wildreich und galt als beliebtes Jagdrevier der Steinburger Grafen.

    Es war üblich, dass der Jagdveranstalter den Jägern Treiber zur Verfügung stellte. Diese Verpflichtung war für Aldarons Vorhaben besonders günstig. Er teilte den Grafen jeweils zehn Treiber zu, mit denen sie dann in getrennten Gruppen auf die Pirsch gingen. Im Jagdeifer bemerkten die Fürsten nicht, dass ihre Treiber sie immer weiter von Steinburg weglockten.

    Fünf Meilen von der Hauptstadt entfernt zückten die Treiber plötzlich ihre Dolche. Ehe die überraschten Grafen reagieren konnten, waren sie überwältigt und wie Karawanensäcke verschnürt. Die Treiber warfen ihre Gefangenen auf die unbequemen Karren, die für das erlegte Wild vorgesehen waren und brachten sie in das im Forst gelegene Jagdschloss der Steinburger Grafen, das nur zur Jagdzeit im Herbst bewirtschaftet war, die übrige Zeit des Jahres aber unbewohnt war. Die Jäger waren selbst zur Beute geworden. Die Grafen wurden scharf bewacht, während Aldaron eine Brieftaube nach Wilzaris schickte, die die Erfolgsmeldung bei sich trug.

    Als es dunkel wurde, und die Jagdgesellschaft noch nicht zurückgekehrt war, begann Siegbert, sich Sorgen zu machen. Niemand hatte die zur Jagd gerittenen Fürsten nach dem Abrücken wieder gesehen. Für eine groß angelegte Suche war es jedoch schon zu dunkel und so verschob der Reichsvogt die Suche auf den folgenden Tag. Seine Hoffnung, die Grafen würden im Laufe der Nacht zurückkehren, wurde betrogen. Am Morgen war noch immer keiner der Jäger aufgetaucht. Siegbert setzte fünfzig Mann der Herwigsgarde auf die Spur der Jäger. Es war die maximale Anzahl von Soldaten, die der Reichsvogt in seinen beschränkten Vollmachten ohne Genehmigung des Grafenrates einsetzen durfte. Der Grafenrat hatte immer eifersüchtig über seine Kompetenzen gewacht – und eine davon war, dass das Heer nur vom König selbst oder mit der Zustimmung von mindestens vier Grafen mobilisiert werden durfte.

    Siegbert wanderte unruhig im Thronsaal auf

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