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Der Kanalreiniger
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Der Kanalreiniger

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About this ebook

Sönke Karbacher ist Erfinder und Moderator einer der beliebtesten Gameshows im deutschen Fernsehen. Als seine Intendantin ihn feuert und seine Sendung ihrem Lover zuschanzt, bricht für ihn eine Welt zusammen. Er verfällt dem Alkohol und ruiniert seine Ehe. Nach einer Entziehungskur gründet er einen Verein verstoßener Moderatoren, die sich an ihren Nachfolgern rächen wollen, dabei bleibt aber Sönkes eigener Nachfolger unangetastet. Dieser wird zum Liebling der Nation. Sönkes Neid und Hassgefühle gegen ihn erreichen einen Grad, dass er ihm bald den Tod wünscht. Als sein Wunsch in Erfüllung geht, mutiert Sönke zum Hauptverdächtigen. Aber bekanntlich gibt es ja keine schlechte PR …
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateJan 29, 2018
ISBN9783746908915
Der Kanalreiniger

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    Der Kanalreiniger - Peter Hirt-Wirz

    — 1 —

    Böse Zungen sind überall und jederzeit zur Stelle. Schnell zirkulierte das Gerücht, sie habe sich in ihre neue Position emporgeschlafen. Die Rede ist von Gundula Andreesen, seit nunmehr sechs Jahren erfolgreiche Intendantin beim Fernsehsender LTR. Die dunkelblonde 39-Jährige hat alle Vorzüge, die eine Frau nur haben kann: sie sieht blendend aus, ist blitzgescheit, gebildet und mit ihrem Charme verkauft sie die härtesten Rügen und Entscheidungen so elegant, dass die Adressaten meistens erst mit Verzögerung kapieren, was ihnen widerfahren ist.

    Sönke Karbacher kann ein Lied davon singen, denn sie hat ihn auf die Straße gestellt. Gut, nicht ganz Knall auf Fall, er durfte noch zweimal das Samstagabendformat Drei mal Drei mal Drei moderieren, aber mit dem zu Ende gehenden Jahr war seine Zeit dann abgelaufen. Das folgenschwere Treffen mit Gundula ist ihm noch so präsent, als ob er ihr Büro erst vor fünf Minuten verlassen hätte, dabei ist bereits Januar und seine letzte Sendung Vergangenheit:

    »Guten Morgen, Sönke, wie geht‘s dir? Du siehst müde aus. Du solltest wohl mal wieder Urlaub machen«, hatte sie zur Einleitung gesagt.

    Sönke war darauf keine passende Antwort eingefallen und er hatte es vorgezogen, der Dinge zu harren, die da zweifelsohne kommen sollten.

    »Du hast dein Kind Drei mal Drei mal Drei jetzt schon fünf Jahre einmal monatlich sehr erfolgreich moderiert«, fuhr Gundula fort. »Das ist in unserer schnelllebigen Zeit eine halbe Ewigkeit und gewisse Verschleißerscheinungen machen sich da fast zwangsläufig bemerkbar.«

    Sönke hörte die Alarmglocken überdeutlich in seinen Ohren schrillen.

    »Im September und Oktober sind die Einschaltquoten markant eingebrochen. Es wäre zu einfach, dies lediglich auf den Umstand zurückführen zu wollen, dass zur gleichen Zeit die deutsche Fußballnationalmannschaft gegen attraktive Gegner spielte. In deinen Anfängen vermochtest du dein Stammpublikum auch gegen harte Konkurrenz ganz gut bei der Stange zu halten.«

    An diesem Punkt hatte Sönke gerne einhaken und widersprechen wollen, aber er war wie gelähmt.

    Gundula hatte keine Mühe, ihm zuvorzukommen: »Wenn ich als Intendantin erfolgreich bleiben will, muss ich jede Form von Signalen rechtzeitig erkennen und gegebenenfalls Maßnahmen treffen. Wie du auf diesem Ausdruck unschwer erkennen kannst, sind die Einschaltquoten schon vor den beiden angesprochenen Ausstrahlungen langsam aber kontinuierlich zurückgegangen.«

    »Der langen Rede kurzer Sinn: Du willst mich rauswerfen!«, erwiderte Sönke zerknirscht.

    »Rauswerfen ist das falsche Wort, das hättest du auch nicht verdient!«, entgegnete Gundula, »der richtige Ausdruck für das, was ich vorhabe, heißt dich ablösen. Konkret: Ende des Jahres ist für dich Schluss.«

    »Du willst tatsächlich die nach wie vor erfolgreichste Samstagabendsendung aus dem Programm kippen?«, wunderte sich Sönke.

    »Nein, nein, davon kann natürlich überhaupt nicht die Rede sein«, erklärte Gundula, »aber das Format hat eine Blutauffrischung verdient, um weiterhin erfolgreich bestehen zu können. Mir ist nicht entgangen, dass du es in letzter Zeit nicht mehr geschafft hast, deinen Auftritten so viel Frische und Lebendigkeit angedeihen zu lassen wie früher. Grund genug für mich, zu handeln. Es wäre sicher nicht in deinem Sinne, wie bisher weiterzufahren mit dem Risiko, dass dann eines Tages wirklich das Aus für die Sendung käme, weil die Einschaltquoten im Keller sind. Das hätte dein geniales Format nicht verdient.«

    »Und an wen hast du gedacht, der oder die das besser machen könnte als ich?«, hakte Sönke nach.

    »Dein Nachfolger steht bereits in den Startlöchern. Es handelt sich um Hennes Friedrichsen, der bei einem unserer Konkurrenten schon ansehnliche Erfolge verbuchen konnte. Er wird im Januar übernehmen, sodass es keine Unterbrechung gibt.«

    »Aber das ist doch ein absolutes Leichtgewicht. Dieser junge Schnösel wird das mit Sicherheit verbocken. Als Erfinder der Sendung beanspruche ich zumindest ein Mitspracherecht, was meinen Nachfolger anbelangt. Zudem steht mir eine größere Abgeltung zu, wenn ich jetzt sozusagen mein eigenes Kind aus den Händen geben muss!«

    »Was deinen Nachfolger anbelangt, habe ich null Bedenken. Der wird das packen! Gib‘ ihm doch erst mal eine Chance. Natürlich werden wir ihn austauschen, sollte er wider Erwarten unseren Ansprüchen nicht genügen. Hinsichtlich der finanziellen Abgeltung werden wir dir einen Vorschlag unterbreiten. Sobald dir dieser vorliegt, können wir ihn gerne diskutieren«, sagte Gundula und komplimentierte Sönke daraufhin sachte hinaus.

    Am nächsten Tag wussten die Medien bereits über den Rauswurf Bescheid und der Teufel war los. Erst klingelte bei den Karbachers pausenlos das Telefon, dann kreuzten die Reporter und Paparazzi in Scharen auf, ja sogar Fernsehteams kamen zu ihrem Haus. Sönke, der sich von dem Schock noch nicht erholt hatte, sah sich veranlasst, mit seiner Frau erst mal die Flucht zu ergreifen und inkognito in einem Hotel unterzukommen.

    In wohl sämtlichen Radio- und Fernsehstationen wurde Sönkes Ablösung in den Nachrichten bekannt gegeben. Bei den meisten folgte anschließend noch ein ausführlicherer Kommentar. Dabei hielten sich die Meinungen, ob seine Ablösung eine eher gute oder eher ungerechtfertigte Maßnahme war, in etwa die Waage.

    Die Boulevardpresse ergriff mehrheitlich Partei für Sönke und setzte das Gerücht in Umlauf, dass Gundula Andreesen und Hennes Friedrichsen bereits als neues Traumpaar – nicht im Beruf, sondern privat – gehandelt wurden. Es stand die Frage im Raum, ob sich Hennes den lukrativen Job mit einer Sonderleistung im Bett geangelt hatte.

    Nach zwei, drei Tagen Wunden lecken fand es Sönke dann an der Zeit, sich wieder voll auf seine zwei letzten Sendungen zu konzentrieren. Er war gewillt, einen eigentlichen Schlussspurt hinzulegen, weil er keinesfalls seine Reputation als Erfolgsmoderator gefährden wollte.

    Die finanzielle Abgeltung fiel zu seiner vollen Zufriedenheit aus und er sah keine Veranlassung, den Vorschlag noch mit Gundula zu diskutieren. Dies umso mehr, als er dieser Frau künftig aus dem Weg zu gehen gedachte. Die Wunderfrau hatte auf ihn jegliche Anziehungskraft eingebüßt.

    — 2 —

    In der Erfolgssendung Drei mal Drei mal Drei treten drei Dreierteams zu einem heiteren Wettkampf gegeneinander an. Jedes Team setzt sich aus einem Showbiz-Star, jemandem aus der Politik sowie einem durch Zufallsgenerator ermittelten Saalkandidaten zusammen. Der Wettkampf gliedert sich in drei Teile: Im ersten Block müssen Wissensfragen beantwortet werden, im zweiten geht es um Geschicklichkeitsaufgaben und im dritten schließlich um Schätzfragen. Dem Siegerteam steht eine Prämie von 50.000 Euro zu und per Glücksrad wird ermittelt, wer innerhalb des Teams den Betrag letztendlich bekommt. Jemand aus dem Saal darf Fortuna spielen und das Glücksrad drehen. Dieses ist in gleich viele rote, blaue und weiße Felder eingeteilt. Jedes Siegerteammitglied hat somit eine Chance von 33.3 Prozent auf den Gewinn. Die Promis aus Politik und Showbusiness müssen im Falle des Gewinns diesen für einen guten Zweck spenden. Wenn jedoch das Glücksrad zugunsten des Saalkandidaten entscheidet, darf dieser den Betrag für sich behalten.

    Während der Sendung gibt es außerdem drei Showblöcke, welche in der Regel von den beteiligten Stars aus dem Showbusiness bestritten werden.

    Am 20. Januar würde Hennes Friedrichsen seinen ersten Auftritt als Nachfolger von Sönke Karbacher haben. Letzterer fiebert diesem Moment geradezu entgegen.

    Der Medienrummel um den Austausch des Moderators war überraschend schnell abgeflacht. Die Boulevard- und Klatschpresse beschränkte sich lediglich noch darauf zu kommentieren, dass Gundula und Hennes jetzt tatsächlich ein Paar waren. Die Boulevardblätter konnten es natürlich nicht lassen, immer von Neuem die Frage in den Raum zu stellen, ob Hennes den neuen Job nur dem Umstand verdankte, dass die Intendantin seine neue Liebe war.

    Seit Sönke die letzte Sendung moderiert hatte, war seine Moral in den Keller gegangen und er selber fand sich auch immer häufiger im Keller wieder – um sich alkoholischen Nachschub zu besorgen. Seine Frau Susanne war nicht zu beneiden. Ihr Gatte war von morgens bis abends übel gelaunt, wobei es zum Abend hin am schlimmsten wurde, weil sich Sönke bis dahin einen ordentlichen Pegel angesoffen hatte. Und dieser Zustand hat sich jetzt, Mitte Januar, kein bisschen entspannt, im Gegenteil: Je näher der 20. Januar rückte, desto unruhiger und geladener wurde Sönke.

    Susanne hatte vorgeschlagen, sie könnten doch die Kämmerers, mit denen sie seit vielen Jahren befreundet waren, zum Abendessen einladen und dann die Sendung gemeinsam ansehen, aber Sönke hatte erklärt, dass seine Laune überhaupt nicht für Besuch tauge. Zudem wolle er sich voll auf die Sendung konzentrieren, um sich ein Bild davon zu machen, was Friedrichsen drauf hatte. Susanne war nahe daran gewesen, sich mit einer ihrer Kolleginnen zu verabreden, um dem zu befürchtenden abendlichen Drama zu entgehen, aber schließlich brachte sie es doch nicht übers Herz.

    — 3 —

    Der 20. Januar ist angebrochen. Überraschenderweise hat sich Sönke, was seinen Alkoholkonsum anbelangt, ziemlich zurückgehalten. Doch beim Abendessen, dem Susanne besondere Sorgfalt angedeihen ließ, ändert sich das schlagartig. Es scheint, dass Sönke kaum einen Bissen hinunterkriegt, wenn er nicht reichlich mit Rotwein nachspült. Mit Besorgnis beobachtet Susanne, wie ihr Gemahl mit reichlich unsicherem Gang auf seinen Sessel zusteuert, um dann dort auf den Beginn der Sendung zu warten. Das vollgeschenkte Weinglas hat er gleich mitgenommen. Es grenzt fast an ein Wunder, dass er nichts verschüttet hat.

    Susanne räumt noch die Küche auf, dann setzt sie sich neben ihren Mann vor den Fernseher. Sein Glas ist längst wieder leer.

    »Könntest du mir noch nachschenken, damit du nachher auch ja nichts von der Sendung verpasst?«, fragt er.

    Susanne gehorcht und bringt gleich die Flasche mit. Zur Feier des Tages schenkt sie sich auch ein Glas ein.

    Schon erscheint ein äußerst gut aussehender Strahlemann namens Hennes Friedrichsen auf der Mattscheibe und nimmt die nicht enden wollenden Ovationen des Publikums entgegen.

    »Fang endlich an, du Pfeife!«, schreit Sönke und sein noch volles Weinglas landet als Volltreffer mitten auf der Mattscheibe.

    Wie durch ein Wunder bleibt der Fernseher unversehrt, das Bild wurde lediglich durch die Weinschlieren etwas beeinträchtigt. Die Sauerei auf dem teuren Teppich ist hingegen beträchtlich.

    Susanne springt wütend auf: »Ich lasse dich dann mal allein. Ich erwarte, dass du die Schweinerei beseitigt hast, bis ich zurück bin!«, ruft sie und verlässt nach einem kurzen Abstecher ins Badezimmer das Haus.

    Sönke beschränkt sich darauf, die Mattscheibe etwas abzuwischen, um die Sendung weiterverfolgen zu können. Dann holt er sich ein neues Glas und schenkt sich wieder ein. Von dem, was Hennes bisher an Weisheiten von sich gegeben hat, hat er so gut wie nichts mitbekommen.

    Als Susanne kurz nach Mitternacht zurückkehrt, findet sie ihren Gatten im Sessel vor, laut schnarchend; zwischen ihm und dem Fernseher unverändert das Gemisch aus Scherben und Rotwein. Sie rüttelt ihn energisch. Beim dritten Mal brummt er etwas Unverständliches und das Schnarchen setzt sogleich wieder ein.

    »Diese Schweinerei wirst du selber beseitigen! Das garantiere ich dir!«, sagt sie nur, lässt Sönke auf seinem Sessel zurück und legt sich schlafen.

    Am Sonntagmorgen ist im Hause Karbacher in der Regel Ausschlafen angesagt, wenn nicht etwas Besonderes auf dem Programm steht. Als Susanne kurz vor zehn zum Bett ihres Gatten hinüberblinzelt, stellt sie fest, dass dieses unbenutzt ist. Der hat also tatsächlich im Sessel übernachtet!

    Sie macht sich darauf gefasst, dass er seinem Frust gleich wieder freien Lauf lassen wird, doch als sie das Badezimmer betritt, stößt sie dort beinahe mit Sönke zusammen.

    »Ah, schon frisch und munter?«, sagt sie mit zynischem Unterton. Dann erst sticht ihr seine blutende Hand ins Auge.

    Sönke versucht verzweifelt, sich ein großes Pflaster überzustülpen, Susanne geht ihm zur Hand.

    Als sie fertig ist, zieht Sönke sie überraschend zu sich heran und gibt ihr einen dicken Kuss. »Danke.«

    »Wenn ich die Situation richtig einschätze, war dein Versuch, die Schweinerei im Wohnzimmer zu beseitigen, von wenig Erfolg gekrönt«, erklärt Susanne leicht belustigt.

    Er gibt keine Antwort und folgt ihr ins Wohnzimmer.

    »Alle Achtung«, meint sie, »da hat jemand ganze Arbeit geleistet! Hätte ich dir in Anbetracht der Umstände nicht zugetraut.«

    »Danke für die Blumen!«, erwidert Sönke, »war mit meinem Brummschädel auch gar nicht so einfach. Aber mein Beruf bringt es mit sich, dass ich am leistungsfähigsten bin, wenn ich unter Druck stehe.«

    Zu ihrer Verblüffung beobachtet Susanne, dass ihr Gatte den ganzen Tag keinen Tropfen Alkohol anrührt. Entweder ist sein Kater wirklich heftig oder er hat sich einen Ruck zur Veränderung gegeben. Sie ist gespannt.

    Im Laufe des Nachmittags scheint sich Sönke besser zu fühlen, denn er beginnt, Aktivitäten zu entwickeln. Bei allem, was er tut, geht es ihm darum festzustellen, wie Hennes Friedrichsen aus Sicht der Medien und der Zuschauer abgeschnitten hat.

    Was er auch beobachtet und liest, es hat eines gemeinsam: Der Neue hat eingeschlagen wie eine Bombe! Kommentare wie Das Goldhändchen von Gundula Andreesen, Die Ablösung von Sönke Karbacher hat sich als überfällig erwiesen, Zu viel Routine schafft Langeweile sprechen eine deutliche Sprache. Ein Urteil sticht ihm mitten ins Herz: Kollege Karbacher hat sich ganz offensichtlich zu lange für den Besten gehalten. Der noch unverbrauchte Neue hat das so gut gemacht, dass kaum jemand Karbacher auch nur eine Träne nachweinen wird!

    Sönke ist jetzt wieder nahe daran, seinen Frust im Alkohol zu ertränken, er kann sich aber beherrschen. Er gibt einem Spaziergang durch die Winterlandschaft den Vorzug. Die ganze Zeit hallen die für ihn niederschmetternden Kommentare in seinen Ohren wieder. Er versucht, sie mit Selbstgesprächen zu übertönen: »Du bist doch erst fünfundfünfzig! Da kann es nicht sein, dass deine Uhr schon abgelaufen ist!«

    Ich werde es allen zeigen: Mit einer neuen Show werde ich schon bald dem Hennes die Einschaltquoten vermiesen! Geld hätte ich ja mehr als genug, um mich vorzeitig zur Ruhe zu setzen, aber mir graut davor, schon so früh weg vom Fenster zu sein, denkt er.

    — 4 —

    Susanne ist unendlich erleichtert, dass Sönke mit dem Trinken aufgehört hat. Ihr Gatte ist zu einem geregelten Tagesablauf zurückgekehrt. Zwar ist er gelegentlich launisch, aber sein ganzes Verhalten und die gesteigerte Aktivität deuten darauf hin, dass er wieder Fuß gefasst hat und bereit ist, zu neuen Ufern aufzubrechen. Er entsagt dem Alkohol nicht komplett, aber er hat seinen Konsum auf ein Normalmaß heruntergefahren: ein Glas Rotwein zu einem guten Essen.

    Mit leichter Verzögerung bekommt Sönke auch hin und wieder Zuschriften von früheren Fans seiner Sendung. Viele finden es ungerecht, dass ihm seine Sendung weggenommen wurde. Die meisten ermuntern ihn, ein neues, genauso geniales Samstagabendformat auf die Beine zu stellen. Tatsächlich ist es genau das, was er vorhat.

    Er wird gelegentlich von Fernsehanstalten kontaktiert, die ihn als Moderator für irgendwelche Sendungen gewinnen möchten. Bei näherem Hinsehen stellt er aber regelmäßig fest, dass es sich um unbedeutende Formate handelt, die unter der Woche laufen. Mit der Zweit- oder gar Drittklassigkeit will er sich jedoch auf keinen Fall abfinden. Damit würde sein Marktwert schlagartig in für ihn inakzeptable Tiefen sinken. Aufgrund seiner Absagen und den entsprechenden Begründungen werfen ihm Intendanten gelegentlich Eitelkeit vor, aber er setzt unbeirrt auf sein großes Ziel, eine neue Erfolgssendung zu entwickeln und zu moderieren.

    Inzwischen ist es Frühling geworden. Sönke ist noch weit von einem großen Durchbruch entfernt. Natürlich könnte er sich sagen, dass er überhaupt nicht unter Zeitdruck stehe, er ist sich jedoch bewusst, dass die Chancen, ein großes Comeback zu feiern, kontinuierlich sinken, je länger er nicht mehr im Gespräch ist.

    Viele Promis versuchen, sich ihren Bekanntheitsgrad mit größeren und kleineren Skandalen zu erhalten, was allerdings ein gefährliches Unterfangen ist. Sönke taugt zu so etwas nicht. Er ist seit 27 Jahren mit derselben Frau verheiratet und hat nicht vor, daran etwas zu ändern.

    — 5 —

    Ab Mai macht sich bei Sönke allmählich eine zunehmende Ungeduld und Nervosität bemerkbar. Susanne beobachtet die Veränderungen mit Besorgnis. Schon zweimal glaubte er, vor dem Durchbruch zu stehen. Beide Male wurden seine Ideen aber verworfen, weil Teile seiner Sendungsentwürfe aus bereits bestehenden Formaten abgekupfert waren. Natürlich hatte er das nicht mit Absicht gemacht, aber es kommt halt immer wieder mal vor, dass man glaubt, eine geniale Idee zu haben, und dann stellt sich heraus, dass man das irgendwo gesehen oder gelesen hatte und unbewusst in die eigenen Ideen einfließen ließ.

    Nervosität und schlechte Laune gehen mit einer schleichenden Steigerung des Weinkonsums einher. Zunehmend schwierig ist es jeweils an den Samstagabenden, an denen die Sendung Drei mal Drei mal Drei ausgestrahlt wird. Je länger er nicht vom Fleck kommt, desto mehr wird Hennes Friedrichsen wieder zu seiner Reizfigur. Dieser ist ja auch weiterhin sehr erfolgreich unterwegs und dies zu verkraften wird für Sönke zur immer höheren Hürde. Weiterhin sind die Medien voll des Lobes über den jungen Moderator.

    Da er sich hauptberuflich mit dem Thema Fernsehen befasst, ist Sönke ständig auf dem Laufenden, was sich in der Branche so tut. Dabei muss er feststellen, dass er das Schicksal, abgesetzt worden zu sein, mit etlichen weiteren Moderatoren teilt. Er fängt an, eine Liste seiner Leidensgenossen zu führen. Dabei verfolgt er auch aufmerksam, was weiter aus ihnen wird. Die Bilanz fällt in dem Sinne ernüchternd für ihn aus, dass die meisten bald mit der Moderation einer neuen Sendung wieder im Geschäft sind. Er redet sich ein, dass halt die meisten noch jung und daher darauf angewiesen sind, weiterhin Geld zu verdienen. Aber auf seiner Liste schälen sich doch nach und nach auch einige Namen heraus, bei denen die Situation vergleichbar mit seiner eigenen ist. Zu gerne möchte er von diesen wissen, wie sie mit ihrer Situation klar kommen. Haben sie auch Aversionen gegen ihre Nachfolger entwickelt oder haben sie sich einfach entschlossen, dem Dasein eines Moderators den Rücken zuzukehren und fortan das Leben zu genießen?

    Anfang Juni erhält Sönke unverhofft eine E-Mail von Henry Ströbel, der vor drei Monaten seine Samstagabendsendung bei TAS 1 an die Holländerin Linda van Daniel verlor. Henry ist 57 und seine Nachfolgerin nur ein Jahr jünger. Henry sagt, dass er nach und nach richtige Hassgefühle gegenüber Linda entwickelt habe. Dabei könne man ihr doch nicht verübeln, dass sie die ihr angebotene Chance beim Schopf gepackt hat. Eigentlich müsse sich sein Zorn mehr gegen den Intendanten richten, der die Sache ins Rollen brachte, aber der halte sich im Hintergrund und er müsse ihn nicht monatlich auf seinem ehemaligen Sendeplatz ertragen wie die Holländerin, die laut Presse um ein Mehrfaches witziger sei als er. Sönke schreibt ihm zurück, dass er sich gerne einmal mit ihm treffen möchte.

    Susanna findet es gut, dass ihr Gatte mit einem Leidensgenossen zusammenkommen will. Vielleicht hilft ihm der Gedankenaustausch, sich besser mit seiner Situation zu arrangieren.

    Sönke und Henry treffen sich am 12. Juni in einem Café in Köln, wo sich in einer stillen Ecke ein vertrauliches Gespräch führen lässt. »Und, wie schlägst du die Zeit tot? Du bist ja schon um einiges länger aus dem Geschäft als ich«, kommt Henry gleich zum Thema. »Eigentlich hatte ich geglaubt, ich würde mit links eine neue Sendung auf die Beine stellen und schon bald meine Rückkehr feiern, aber daraus ist nichts geworden. Ich glaube, ich schaff‘ das nicht mehr«, erwidert Sönke, wobei ihm beinahe die Tränen kommen.

    »Kopf hoch, Junge, so schnell solltest du die Flinte nicht ins Korn werfen!«, sagt Henry. »Das Format Drei mal Drei mal Drei hast du entwickelt und es ist genial. So viel Talent kann ich nicht vorweisen. Ich war lediglich Moderator einer von einem anderen erfundenen Sendung, den ich übrigens nie kennengelernt habe. Und jetzt will man mich mit irgendwelchem zweit- bis drittklassigem Dreck abspeisen. Aber das tue ich mir nicht an! Lieber lasse ich es mir künftig gut gehen. Geld habe ich genug zur Seite legen können.«

    Sönke schaut sein Gegenüber eine Weile durchdringend an, dann erklärt er: »Ich fühle mich mit meinen fünfundfünfzig einfach zu jung, um schon in der Versenkung zu verschwinden. Aber es geht mir wie dir: Mit irgendwelchen unbedeutenden Formaten habe ich nichts am Hut. Wenn ich

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