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JUNIOR AGENTS
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Ebook356 pages5 hours

JUNIOR AGENTS

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About this ebook

Elli glaubt, Gewissheit über ihr Leben zu haben. Zu wissen, was wahr und was Lüge ist. Doch dies ist die wohl größte Lüge, die die Junior-Agentin je glaubte.

Ein für tot gehaltener Mensch und die Macht über Erinnerungen bringen sie in eine Lage, der sie nicht zu entkommen glaubt.
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateMay 6, 2022
ISBN9783347460768
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    Book preview

    JUNIOR AGENTS - Selina Brix

    PROLOG

    Jonas

    Ich schlage die Augen auf. Erst ist meine Sicht verschwommen, doch nach und nach wird sie schärfer. Ich schaue an die Decke, welche genau wie die Wände und der Boden gepolstert ist. Ich will mich aufsetzen, doch bei jeder noch so kleinen Bewegung schmerzt mein Körper.

    Es fühlt sich wie jeden Morgen an, denn seit dem Tod meines Vaters habe ich nicht mehr richtig geschlafen. Nachts bin ich durch die Straßen gezogen und wenn ich dann morgens wieder ins Heim kam, wurde ich angeschrien und zu Hausarrest verdonnert, was mich aber nie davon abgehalten hat, in der nächsten Nacht wieder loszuziehen.

    Doch heute ist nicht jeder Morgen. Ich liege weder in meinem Bett im Heim, noch höre ich die anderen Jungs schnarchen oder schon flüstern. Ich bin alleine, niemand anderes ist in diesem Raum, und ich habe es schon gestern Abend aufgegeben, zu schreien und gegen die Tür zu rennen.

    Ich bin mir nicht sicher, wie lange ich schon hier festsitze, doch wenn ich schätzen müsste, würde ich knapp 48 Stunden sagen. Ich weiß nicht genau, wie ich hierher gekommen bin, ich weiß nur noch, dass ich im Heim eingeschlafen und hier dann wieder aufgewacht bin. Ich habe um Hilfe geschrien, doch niemand ist gekommen, um mich hier rauszuholen.

    Trotz der fast unerträglichen Schmerzen zwinge ich mich, aufzustehen. Ich lehne mich an die Wand, welche hinter meinem Bett ist. Dann reibe ich mir über die Augen, um den Schlaf loszuwerden. Mein Blick schweift durch den kleinen Raum. Alles ist noch genau so, wie ich es von gestern in Erinnerung habe.

    Doch nicht. Mein Blick bleibt an einem Tablett vor dem Bett hängen. Auf dem Tablett befindet sich ein Frühstück. Brötchen mit Marmelade, ein Glas Wasser und sogar eine kleine Saftflasche. Ich mustere das Tablett und bin mir nicht sicher, ob ich lachen oder weinen soll. Sie halten mich hier gefangen und geben sich doch so Mühe bei meinem Frühstück. Das letzte halbe Jahr bestand mein Frühstück hauptsächlich aus Haferflockenmatsche mit einem Löffel Marmelade und es gab auch immer nur Wasser. Ich schlucke hart und muss die Tränen unterdrücken, denn das letzte Mal, als mein Frühstück so aussah, war, als mein Vater noch lebte.

    Langsam gleitet meine Hand zum Brötchen, doch als ich es berühre, bekomme ich einen Stromschlag. Vor Schreck zucke ich zurück und muss tief durchatmen, um nicht vor Frust aufzuschreien. Ich hatte mich auf das Essen gefreut, vor allem, weil es meine erste Mahlzeit seit einer gefühlten Ewigkeit ist. Mein Blick wandert zum Brötchen und auch, wenn ich nicht weiß, was ich erwartet habe, war es das auf jeden Fall nicht. Die Stelle, an der ich das Brötchen berührt habe, ist verbrannt. Mein Blick zuckt zurück zu meiner Hand. War ich das? Nein, das ist bestimmt irgendein Trick, damit ich mich für gefährlich oder so halte. Auch wenn mein Magen rebelliert, fasse ich die Sachen auf dem Tablett nicht mehr an. Die leckeren Sachen. Sachen, die ich liebend gerne essen würde. Ich schüttele den Kopf. Wer weiß, was passiert, wenn ich das Wasser oder den Saft anfasse. Vielleicht fliegt hier dann alles in die Luft oder ich falle tot um.

    Gerade als ich mich in diesem Gedanken verlieren will, öffnet sich die Tür. Ich springe auf und augenblicklich verspannt sich mein Körper. Es ist ein Mann um die sechzig, der jetzt das Zimmer betritt. Bei seinem Anblick wollen sich die Muskeln in meinem Körper entspannen, doch ich kämpfe krampfhaft gegen dieses Verlangen an. Der Mann ist in etwa 1,80 Meter groß, hat einen trainierten Körper und leicht angegrautes, schwarzes Haar und er lächelt mich mit einem so ehrlichen und aufmunterndem Lächeln an, dass ich mich gleich zuhause fühle. Doch es sind die Muskeln, die den Mann einhüllen, wegen derer ich mich nicht entspanne. Trotz seiner Jeans und einem Kapuzen-Pulli sind sie gut zu erkennen. Früher habe ich auch mal auf solche Muskeln hingearbeitet, doch irgendwann habe ich mich dann doch mit meiner schmalen, schlaksigen Statur abgefunden. Der Mann streckt mir seine Hand hin und sagt mit einer tiefen, beruhigenden und trotzdem respekteinflößenden Stimme:

    „Du bist Jonas!"

    Es ist weniger eine Frage als eine Bemerkung und trotzdem finde ich, es wäre richtig, etwas darauf zu erwidern. Also nicke ich zaghaft und gebe ihm meine Hand.

    „Freut mich, Jonas. Ich bin Direktor Schultz."

    Ich hätte nicht gedacht, dass das Lächeln von diesem Mann, welcher sich als Direktor Schultz vorstellte, noch einladender werden könnte, und doch werde ich nun eines Besseren belehrt.

    Mit einem irritierten Blick begutachte ich diesen Mann. Dieser Blick entgeht Direktor Schultz nicht.

    „Richtig, du weißt ja noch gar nichts über unsere Organisation und unsere Basis hier." Er deutet auf das Bett:

    „Wir sollten uns setzen, das könnte ein wenig länger dauern."

    Langsam setze ich mich zurück aufs Bett und dieser Direktor setzt sich in den Sessel, das einzige andere Möbelstück im Raum.

    „Also, als Erstes sollte ich dir vielleicht mal erzählen, wo wir hier sind. Wir sind in einer unserer Basen. Wir haben überall auf der Welt welche. Meistens sogar pro Land mehrere, aber immer nur eine, in der wir unsere Junior-Agenten ausbilden. Und in einer solchen Basis befinden wir uns momentan. Wir sind eine Organisation, die Agenten ausbildet und einsetzt. Doch wir sind nicht irgendwelche Agenten, nein, unsere Agenten sind besonders. Sie haben Begabungen." Ich schaue ihn skeptisch an:

    „Stopp, Stopp, Stopp! Sie wollen mir erzählen, ich werde von einer Organisation festgehalten, welche Agenten ausbildet? Und ich bin dann der Verbrecher oder wie?"

    Direktor Schultz lacht auf, als wäre das ein Witz gewesen.

    „Nein, natürlich nicht. Du wirst Agent!"

    Ich schaue verständnislos, und mein Blick scheint all meine Gedanken zu spiegeln, denn Direktor Schultz redet schon weiter:

    „Ich glaube, du hast den Teil mit den Begabungen nicht verstanden. Unsere Agenten sind besonders und damit meine ich nicht besonders im Sinne, dass jeder Mensch besonders ist. Unsere Agenten haben Begabungen - einmalige Fähigkeiten, die sonst niemand beherrscht. Ich glaube, ich muss es dir zeigen."

    Er lächelt immer noch, doch diesmal eher bemitleidend. Sein Blick schweift zum Wasserglas, welches ich nicht angerührt habe. Ich folge dem Blick des Direktors und erschrecke. Der Direktor hat die Hand aufs Wasserglas gerichtet und auf einmal wird das Wasser zu Eis. Ich zucke auf meiner Matratze zurück und schaue mit weit aufgerissenen Augen auf das Wasserglas, welches nun mit Eisblumen überzogen ist. Verängstigt zuckt mein Blick zwischen dem Glas und diesem Mann hin und her.

    „Das sind unsere Begabungen. Wir können Dinge, die sonst niemand kann. Bei den anderen sind es andere Sachen und ich kann dir auch noch nicht sagen, welche Begabung es bei dir ist, außer wenn dir vielleicht irgendetwas Ungewöhnliches passiert ist, seitdem du hier bist."

    Ein verunsicherter Blick schleicht sich auf das Gesicht von Direktor Schultz. Mein Finger zittert, als ich auf das angebrannte Brötchen vor mir zeige.

    Unvermittelt kehrt das Lächeln auf das Gesicht von Direktor Schultz zurück: „Das ist toll. Hast du dabei irgendetwas gespürt?"

    Ich nicke und sage dann: „Ich hab einen Stromschlag bekommen."

    Das Lächeln verzieht sich und ein nachdenklicher Blick erscheint unter den schwarzgrauen Haaren.

    „Interessant, vielleicht was mit Energie", sagt er eher zu sich selbst als zu mir.

    „Darf ich wieder nach Hause?", oder zumindest ins Heim, füge ich in Gedanken hinzu.

    Meine Worte reißen Direktor Schultz aus seinen Gedanken.

    „Nach Hause?"

    Ich nicke und Herr Schultz fängt an, sich die Schläfen zu massieren.

    „Wir sind Geheimagenten. Und damit du auch einer wirst, bedarf es viel Training. Dein Heim ist rund 200 Kilometer entfernt. Es würde nicht gehen, wenn du da wohnst und gleichzeitig hier ausgebildet wirst. So leid es mir tut, dich vor diese Entscheidung zu stellen. Du musst dich zwischen dem Heimleben und dem Geheimagentenleben entscheiden. Wenn du dich für dein altes Leben entscheidest, werden wir deine Erinnerungen an das hier löschen und deine Begabung vernichten."

    Ich schlucke. Auch wenn ich das Leben im Heim nie mochte, will ich es auch nicht aufgeben. Ich denke an meine Freunde und dann denke ich an das Leben, das ich haben könnte, wenn ich mich hierauf einlassen würde. Vielleicht würde ich hier neue Freunde finden, ganz neu anfangen können. Nicht mehr ständig meinen Vater vermissen. Ich hätte mir für später schon einen Job gesichert. Und vielleicht würde ich auch so coole Muskeln bekommen. Zugegeben, das Letzte ist kein Argument, aber ein netter Zusatzbonus. Ich schaue wieder zu dem Mann, der mein ganzes Leben ändern könnte, wenn ich jetzt zustimme.

    „Ich mach’s. Ich werde Geheimagent."

    Erst als diese Worte meinen Mund verlassen, wird mir klar, welcher Sache ich da eben zugestimmt habe.

    Das Lächeln auf Direktor Schultz Gesicht ist zurück.

    „Toll. Ich lasse anordnen, dass deine Sachen hierher gebracht werden, und schicke gleich jemanden, der dir dein Zimmer und die Basis zeigt. Ich würde das ja auch gerne selber machen, aber ich muss zu einem Termin."

    Ich muss lächeln, da mir seit Monaten nicht mehr so viel Herzlichkeit entgegengebracht wurde.

    „Danke", dieses Wort verlasst meinen Mund, bevor ich darüber nachdenke. Und doch ist mir auf einmal klar, wie wahr es ist. Gerade als der Direktor den Raum verlassen will, bleibt er stehen und zieht etwas aus seiner Hosentasche.

    „Das hätte ich fast vergessen."

    Er reicht mir seinen Tascheninhalt.

    Es sind schwarze fingerlose Lederhandschuhe. Ich schaue ihn irritiert an, doch der Direktor erklärt sich.

    „Solange wir nicht wissen, um was es sich bei deiner Begabung handelt und du sie noch nicht unter Kontrolle hast, blockieren diese Handschuhe deine Begabung, damit du dir und anderen nicht wehtun kannst!"

    Ich lächele und frage: „Kann ich damit auch essen?"

    Der Direktor nickt und verlässt dann den Raum. Ich streiche mit meinen Fingern über das kalte Leder und schlüpfe dann in die Handschuhe. Es fühlt sich gut an und ich lasse mich wieder aufs Bett sinken. Ich starre an die Decke und jetzt kommt die Bedeutung dieser Minuten, wie eine Lawine, auf mich nieder. Ich habe einem neuen Leben zugestimmt, was dem alten wahrscheinlich in nichts ähneln wird. Und auch, wenn ich jetzt schon weiß, dass ich einiges vermissen werde, stiehlt sich ein Lächeln auf mein Gesicht.

    KAPITEL 1

    Jonas

    Ich höre ein Räuspern und schrecke auf. Ich musste eingeschlafen sein, denn jetzt sehe ich ein Mädchen in ungefähr meinem Alter vor mir stehen.

    „Schön das du auch endlich wach bist. Direktor Schultz schickt mich, ich soll dich ein wenig rumführen und dir dein Zimmer zeigen."

    Irritiert schaue ich das Mädchen an, da es ein paar Sekunden dauert, bevor ich mich an die Geschehnisse erinnere. Wieder schaut sie mich erwartungsvoll an.

    Ich mustere sie: Sie ist ungefähr 1,70 Meter groß, trägt ihre braunen Haare in einem Pferdeschwanz und hat, ebenfalls wie Direktor Schultz, einen trainierten Körper, nur dass ihrer nicht ganz so viele Muskeln aufweist. Ihre Klamotten schreien förmlich ‚weinrot‘ und sind Sportklamotten. Ich lasse meinen Blick an ihr hoch wandern, bis ich ihr in die Augen sehe. Ich muss schlucken. In ihren Augen ist irgendetwas Verborgenes, Geheimnisvolles und Gefährliches.

    „Kommst du endlich?", ihre genervte Stimme reißt mich aus meinen Gedanken.

    Ich stehe auf und grinse sie an: „Wenn du mir deinen Namen sagst."

    Sie verdreht nur die Augen und mein Grinsen wird noch breiter.

    „Den hätte ich dir auch so gesagt. Ich bin Elli. Eigentlich Eleanor, aber das bin ich nun mal nicht."

    Ein prüfender Blick schleicht sich auf ihr Gesicht, bis sie sagt:

    „Und wenn ich Direktor Schulz richtig verstanden hab’, bist du Jonas?"

    Ich verziehe das Gesicht, denn scheinbar wissen hier alle über mich Bescheid und ich weiß absolut nichts über sie.

    „Du hast ihn richtig verstanden."

    „Gut, sie zieht die Tür auf: „nach dir.

    Als ich aus dem Zimmer trete, komme ich in einen Flur. Links und rechts gehen weitere Türen vom Flur ab und ich vermute, dass sie auch in solche Zimmern führen, wie in welchem ich die letzten Stunden, vielleicht sogar Tage verbracht habe.

    „Also das ist ein Teil unseres Kellers. Hier können sich Leute, deren Begabungen außer Kontrolle geraten sind, wieder beruhigen und ihre Begabungen wieder in den Griff bekommen."

    Ich muss schlucken, denn irgendwie hört es sich so ähnlich an wie: ‚Hier werden Verrückte eingesperrt, die total gefährlich sind.‘

    „Verlieren oft Leute die Kontrolle über ihre Begabung?"

    „Eher selten, aber leider trotzdem zu oft."

    „Und wie passiert das?"

    „Unsere Begabungen werden von unseren Gefühlen geleitet und wenn wir unsere Gefühle nicht mehr im Griff haben, dann haben wir auch unsere Begabungen nicht mehr im Griff. Wir können dann Dinge tun, die wir unter normalen Umständen nie tun würden. Und bevor du fragst, man erkennt das daran, dass sich die Augen verändern. Sie nehmen eine andere Farbe an, je nach Begabung."

    Auch, wenn ich das nicht fragen wollte, ist es interessant zu wissen.

    Erst als ich das Piepsen eines Fahrstuhles höre, bemerke ich, dass wir den Flur entlang gegangen sind und nun vor dem Fahrstuhl und am Ende des Ganges stehen. Langsam öffnet sich die Tür des Fahrstuhles und wir stellen uns hinein. Elli drückt die Taste, die uns zur vierten Etage bringt, und die Türen des Fahrstuhles schließen sich wieder.

    Elli zeigt mir fast die ganze Basis. Als Erstes sehe ich die megaimposante Eingangshalle, welche durch die zwei großen Eingangstüren betreten werden kann. Im Zentrum steht ein großer runder Empfangstisch, in dessen Mitte eine Frau mittlerem Alters und ein Mann, knapp über zwanzig, sitzen und sich lachend unterhalten.

    Die Fitnessräume sind allererste Sahne und sie lösen das Rätsel, um die trainierten Körper, den alle hier zu haben scheinen. Das Schwimmbad ist etwa zwanzig Meter lang und acht Meter breit.

    Der Speisesaal besteht aus vier langen, nebeneinander stehenden Tischen. Über einer am Ende des Raumes stehenden, glänzenden Essensausgabe ist noch ein großer Bildschirm angebracht, der das heutige Mittagessen verkündet.

    Aber mit Abstand das Coolste ist der Ausrüstungstrakt, wo es in mehreren Räumen ein riesiges Sortiment an Verkleidungen, getarnten Waffen und anderen Agentensachen gibt. Alles in einem ist das große Herrenhaus, in dem die Basis untergebracht ist, elegant, altmodisch und gleichzeitig schlicht eingerichtet. Das alte Holz, aus welchem ein Teil der Einrichtung besteht, passt perfekt zu dem modernen Rest.

    Jetzt stehen wir in einem großen Zimmer, das durch ein Fenster mit Sonnenlicht geflutet wird. In der Mitte des Raumes steht ein großes Bett und unter dem Fenster hat ein überdimensionaler Schreibtisch Platz gefunden. Auf der anderen Seite ist eine komplette Wand mit Schränken und Regalen zugepflastert. Alles ist in einem sauberen und strahlenden Weiß gestrichen. Elli geht zu der Wand mit den Regalen und Schränken und öffnet eine Tür, die mir noch nicht aufgefallen war.

    Mit einem kurzen Blick in den Raum fragt sie: „Und?"

    Ich kann über diese Frage nur schmunzeln, denn sie sagt es, als wäre das hier das normalste der Welt.

    „Das ist mega!"

    Sie grinst.

    „Wenn du das hier schon mega findest, musst du dir mal dein Bad anschauen."

    Ich ziehe die Augenbrauen hoch, doch ich komme dann trotzdem zu ihr und werfe ein Blick in das Bad. Alles, bis auf die dunkelblau geflieste Dusche, ist weiß. Es gibt ein breites Waschbecken und daneben Handtuchhalterungen. Außerdem befindet sich im hinteren Teil noch eine Toilette. Es ist nicht der Palast vom Kaiser von China, aber auch nicht so wie im Waisenhaus.

    Langsam drehe ich mich zu Elli um.

    „Und hier wohne ich jetzt?"

    Sie grinst.

    „Wenn’s dir nicht gefällt, gibt es auch noch die Besenkammer am Ende des Flures."

    Sie sagt es so ehrlich, dass ich sie einen Moment entsetzt anstarre, bevor sie lacht und mir auf die Schulter klopft: „Sorry."

    Gerade als ich antworten will, klopft es an die Tür.

    „Herein!, höre ich mich sagen und ein Mann in mittlerem Alter tritt ein und stellt zwei Koffer in den Raum, bevor er sagt: „Ihre Sachen, Jonas. Der Rest kommt gleich.

    Bevor ich mich bedanken kann, ist der Mann schon wieder verschwunden und lässt uns zurück.

    „Ich lass dich dann mal in Ruhe. Wenn du fertig bist, findest du mich und wahrscheinlich auch die anderen aus unserem Jahrgang im Gemeinschaftsraum."

    Ein letztes Lächeln und verschwunden ist sie.

    Nun bin ich mit all meinen Sachen allein und vorsichtig öffne ich die erste Kiste und fange an, auszuräumen.

    Als ich fertig bin, betrachte ich mein Werk stolz. Meine Bücher sind in den Regalen eingeräumt, meine Klamotten sind in den Schränken und meine Duschsachen, Zahnbürste, Zahnpasta und Haarpflege-Produkte sind sicher im Badezimmer verstaut. Auf meinem Schreibtisch steht mein Laptop und einige Fotos von mir mit Freunden, meinem Vater und sogar eins mit meiner Mutter sind auf der Fensterbank und den Regalen verteilt. Mein Handy liegt am Ladekabel auf meinem Nachttisch. Zufrieden lächele ich, denn auch wenn ich nicht mehr allzu viele Sachen besitze, fühle ich mich wohl. Aus meinem Fenster hat man eine mega Aussicht auf den Wald, welcher das große Herrenhaus umgibt. Auch wenn ich noch nicht weiß, wie es weiter gehen wird, weiß ich eins sicher: Ich werde diese Entscheidung nicht bereuen, denn das hier ist alle mal besser als das Heim.

    Und die Hoffnung auf eine Adoption hat man mir schon in den ersten Tagen im Heim ausgeredet. ‚Die Leute wollen kleine, süße Kinder und keine pubertierenden 16-Jährigen‘, die Worte meiner ersten Pflegemutter klingen in meinem Kopf nach. Ich grinse, denn sie hat sich getäuscht. Ich wurde adoptiert, wenn auch aus einem anderen Grund.

    Als ich kurz darauf den Gemeinschaftsraum betrete, schlägt mir eine Welle aus Lachen und guter Laune entgegen. Ich lasse meinen Blick schweifen. Ich wurde noch nicht bemerkt. Auf einem der Sofas in der Mitte des Raumes sitzen Elli und ein anderes Mädchen nebeneinander und schauen zusammen, auf einem Tablet, einen Film oder eine Serie. Beide haben jeweils einen Kopfhörer im Ohr und lachen immer wieder. Das Mädchen neben Elli hat feuerrotes, mittellanges und leicht gewelltes Haar, das sie, ebenso wie Elli, in einem Pferdeschwanz trägt. Sie sieht sehr trainiert aus und ihr Hoody, der rot ist, scheint perfekt zu ihr zu passen.

    An einem Kicker, im hinteren Teil des Raumes, spielen zwei Jungs gegen zwei Mädchen. Es sieht eher so aus, als würden die Mädchen gewinnen, denn die Jungs fluchen immer wieder, während sich die Mädchen abklatschen. Der eine Junge hat kurze braune Haare, die er sich immer wieder aus dem Gesicht streicht. Er ist etwa 1,80 Meter groß und hat wie jeder hier einen muskulösen Körperbau. Der zweite Typ ist ungefähr so groß wie der andere, doch seine Haare sind etwas länger und nicht so gelockt wie die des Ersten und blond. Seine Haut ist gut gebräunt und seine Schultern sind undefinierbar breit. Mein Blick wandert zu den beiden Mädchen.

    Die eine hat schulterlanges, schwarzes Haar, eine elegante Brille und trotz einer eher zierlichen Statur würde ich mich um nichts in der Welt mit ihr anlegen, denn ihr Blick verrät, was für Power in ihr steckten muss. Das andere Mädchen ist schwer zu beschreiben. Sie ist in etwa so groß wie Elli und hat langes, glattes, blondes Haar und ihre Augen sind so blau wie… mir fällt nichts ein, was so blau ist, wie diese Augen. Es ist so tiefgründig wie das Meer. Unvermittelt muss ich überlegen, was ihre Begabung sein könnte, bestimmt etwas mit Wasser. Nur widerwillig löse ich die Augen von ihr und lasse meinen Blick weiter schweifen.

    In den drei Sesseln sitzen drei Jungs. Einer spielt auf seinem Handy ein Spiel, bei welchem er immer wieder flucht und die beiden anderen spielen Karten. Der Typ am Handy sieht etwas kleiner, aber nicht weniger kräftig aus. Er hat schwarzes, kurzes Haar und besitzt leicht asiatische Züge. Der eine der beiden Kartenspieler ist bestimmt 1,90 Meter groß, hat längeres, braunes Haar, das er im Nacken zusammen gebunden trägt. Der andere hat sympathische Züge, schwarzes Haar und eine ähnliche Statur und Körpergröße wie Direktor Schultz. Wenn ich so darüber nachdenke, sieht er Direktor Schultz insgesamt sehr ähnlich. Ich überlege, ob sie vielleicht verwandt sind. Vater und Sohn oder Onkel und Neffe? Ich lasse den Blick weiter schweifen. Außer den neun Kids und mir ist niemand da. Kurz bin ich irritiert, bevor mir wieder einfällt, was Elli mir erzählt hat, nämlich, dass jeder Jahrgang seinen eigenen Gemeinschaftsraum hat.

    Auf einmal starren mich durch und durch blaue Augen an. Ich zucke zusammen und bemerke erst jetzt, dass das Mädchen vom Kicker vor mir steht und mich mustert. Sie starrt mich an und ihre Blicke durchbohren mich.

    „Du musst der Neue sein."

    Ich weiß nicht, ob sie dies absichtlich macht, aber diese Aussage scheint mir nicht ganz so höflich. Es ist ja nicht so, als wäre es schön ‚der Neue‘ zu sein und dann auch noch so angesprochen zu werden.

    „Wie war noch gleich dein Name?", fragt sie und legt den Kopf leicht schief.

    Ich will zur Antwort ansetzen, doch gerade, als ich Luft hole, hebt sie die Hand.

    „Nicht sagen. Du musst wissen, mein Namengedächtnis ist grauenhaft."

    Ein entschuldigender Blick an mich und ich kann gar nicht anders, als zu lächeln.

    „Jonas."

    Meinen Namen zu hören, überrascht mich. Ich schaue mich um, von wem die Stimme kam. Sie kam von dem großen Typ mit Zopf. Inzwischen haben sich alle zu mir umgedreht. Alle, außer der Junge mit dem Handy, der immer noch auf den kleinen Bildschirm starrt.

    „Kalle!"

    Die verärgerte Stimme von dem Mädchen vor mir, von dem ich leider immer noch nicht den Namen kenne, lässt mich erneut zusammenzucken.

    Kalle erhebt sich schwungvoll und kommt zu mir. Obwohl ich nie sonderlich klein war, komme ich mir neben Kalle wie ein Zwerg vor. Als er vor mir und neben diesem Mädchen zu stehen kommt, schlägt sie ihn gegen den Arm. Die beiden sehen irgendwie witzig aus, so wie sie jetzt nebeneinander stehen. Kalle ist gut einen Kopf größer als sie und, dass sie nun auf seinen Arm einschlägt, scheint er nicht mal zu bemerken.

    Er streckt mir die Hand entgegen und stellt sich vor.

    „Kalle." Ich schlage ein und sage:

    „Jonas, aber das scheint ihr ja schon zu wissen."

    Er grinst.

    „Direktor Schultz hat uns gesagt, dass wir einen Neuen kriegen."

    Er schaut genervt auf das immer noch auf ihn einschlagende Mädchen und zeigt dann auf sie.

    „Dieses kleine Nervenbündel ist Wendy."

    Bei ihrem Namen hört Wendy auf, auf Kalle einzuschlagen, und grinst mich an. Doch zwei Sekunden später verdunkelt sich ihre Miene und ihr Blick wandert zu Kalle, wobei sie ihren Kopf in den Nacken legen muss.

    „Kleines Nervenbündel?"

    Er grinst sie provozierend an: „Wie würdest du dich beschreiben?"

    Sie überlegt, wobei sie sich auf die Unterlippe beißt: „Gutaussehend und sympathisch."

    Das wird von Kalle mit einem Schnauben quittiert, bevor er sich wieder mir zuwendet.

    „Das da am Kicker ist Mina", er zeigt auf das Mädchen mit den schulterlangen, braunen Haaren und der Brille. Mina hebt die Hand und lächelt, wobei ihre Brille ihr ein wenig die Nase runterrutscht.

    Kalle deutet auf die beiden Jungs am Kicker: „Das sind Milo und David."

    Wenn ich das jetzt richtig verstanden habe, ist der mit den braunen, gelockten Haaren Milo und der blonde ist David. Die beiden heben ebenfalls die Hand, wobei David schon weiterredet.

    „Du hast Glück, du bist im Jahrgang der coolsten gelandet."

    Für den Spruch fängt er sich von Wendy einen bösen Blick ein und Mina wirft ihn mit dem Kicker-Ball ab, doch er grinst.

    „Merkt man!", die Worte verlassen meinen Mund, bevor ich sie stoppen kann. Und doch bin ich insgeheim stolz drauf.

    Wendy boxt mir gegen die Schulter: „Gut so, denen muss man zeigen, wo es langgeht."

    Mit dem Kopf deutet sie zum Kicker. Bevor sie weitersprechen kann, schlingt Kalle einen Arm um ihren Kopf und hält ihr den Mund zu.

    Sie wehrt sich, doch Kalle fährt unbeirrt fort.

    „Der Typ mit den Karten ist Ben, der coole Sohn unseres Direx."

    Wusste ich es doch, Vater und Sohn. Ben nickt mir lächelnd zu und wendet sich mit einem genervten Tonfall an Kalle.

    „Wieso reibst du das jedem unter die Nase?"

    Kalle zuckt nur mit den Schultern, was angesichts der Tatsache, dass er Wendy immer noch den Mund zuhält, ein wenig unbeholfen aussieht.

    Kalle wendet sich wieder mir zu.

    „Und der da ist Riku."

    Er deutet mit dem Kopf auf den Jungen mit dem Handy in der Hand. Bei seinem Namen guckt Riku auf und schaut irritiert in die Runde. Es dauert einige Sekunden, bis sein Blick auf mir landet und er mich anlächelt.

    „Macht ihr schon eine Vorstellungsrunde oder was habe ich verpasst?"

    Elli schaut ihn vorwurfsvoll an, doch ich finde nicht, dass es dafür einen Grund gibt. Ich habe mich auch schon oft in Handy-Spielen verloren und die Welt um mich herum komplett vergessen. Entschuldigend hebt Riku die Hände und schaut mich musternd an.

    Ein Räuspern, das von dem Mädchen neben Elli kommt, befreit mich aus diesem Blick. Sie lächelt in die Runde und schaut dann mich an.

    „Ich bin Anni. Eigentlich Anastasia, aber das bin ich nicht."

    Ich muss grinsen, denn Elli hat sich mir genauso vorgestellt. Meine Gedanken schweifen zu dieser ersten Begegnung mit Elli zurück und mir fällt auf, dass sich Elli und Anni ziemlich ähnlich sind. Und auch ihre Klamotten sind sich ähnlich, nur dass Elli eher in Schwarz und Weinrot und Anni in Feuerrot und Braun gekleidet ist. Ich überlege, ob die beiden Schwestern sind, doch dafür sehen sie zu unterschiedlich aus. Vielleicht beste Freundinnen? Dazu würde auch passen, wie sie so nebeneinander sitzen, jede einen Kopfhörer im Ohr und das Tablet auf dem Schoß. Es sieht so aus, als wäre das hier nicht ihr erster, gemeinsamer Fernsehabend.

    „Freut mich.", gebe ich zurück.

    Diese Bemerkung scheint mich aus dem Mittelpunkt zu ziehen.

    Ben erhebt die Stimme: „Ich habe heute Abend vier Runden gegen Kalle gewonnen und ich brauche mal neue Herausforderungen!"

    Mina

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