Dem Wahnsinn entkommen: Ein Stalking Roman
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Dem Wahnsinn entkommen - Ralf Scharrer
Kapitel 1: Verführt
Mehr als ein halbes Jahrzehnt ist es her. Dieser Körper. Ich sah ihn im Schummerlicht. Sah den Schweiß auf seiner Brust. Die Muttermale auf seinen Armen. Sehnige Muskeln, die beim Aufstehen aus seinen Oberschenkeln traten und den losen Knoten, der ihm das Handtuch kaum auf der Hüfte hielt.
Wahrscheinlich spürte er es. Wusste schon damals, was passieren würde. Vielleicht war es mein rotes Gesicht. Der verstohlene Blick, der mich verriet. Der Kampf um etwas Luft zum Atmen, bei dem mir leise Seufzer von den Lippen gingen und der Hüftschwung, mit dem ich ihm gegenüber auf die Saunabank glitt.
Wie die Robben auf den hellen Kalksteinfelsen da draußen räkelte ich mich. Genussvoll und sinnlich, bis es eindeutig war: Ich wollte ihn. Sehnte mich nach Berührung. Nach den Blicken eines Unbekannten, die etwas in mir sehen. Etwas mehr als das Bekannte.
Keine Worte. Nur das Zischen von Lavendel-Duftölen zwischen dichtem Dampf, jeder andere Laut hätte den Moment zerstört. Auch in die Augen sahen wir einander nicht. Spürten bloß die Blicke des anderen und genossen, wie sie uns über den Körper strichen.
Wenn ich nicht in seine Richtung sah, fühlte ich wie seine Augen in meine intimsten Zonen eindrangen. Anfangs verhalten, dann immer ungehaltener, schließlich rücksichtslos.
Vielleicht stieg mir in der Hitze der Alkohol zu Kopf. Nach einem Tag unter der Mittelmeersonne hatte ich womöglich einen Sonnenstich. Fühlte mich wahrscheinlich überschwänglich, weil ich betrunken war und auf einer Kreuzfahrt. Oder ich wollte einfach bloß abschließen.
Abschließen mit Marco, meinem Ersten, und mir beweisen, dass er nicht der Letzte sein würde. Dass ich ihn nicht brauche, weil auch ich einfach jemanden kennenlernen kann. Weil die Dinge auch für mich einfach sein können: einfacher als mit ihm.
660 Kilometer. Von München bis Münster. Für ihn hatte ich sie zurückgelegt. Spontan, ohne ihm Bescheid zu sagen, wie man es nur im Liebesrausch tut.
Ich erinnere mich noch gut an die Fahrt. Ein ewiger Weg: Es war heiß, der alte Ford keuchte. Rücksicht nahm ich nicht. Mein zittriger Fuß stand unnachgiebig auf dem Gas und der Fahrtwind, der durchs offene Fenster kroch, fühlte sich befreiend an.
Hunderte von Kilometer in Aufregung. Brennender Sehnsucht nach Marco und mit dem Feuer der Leidenschaft im Herzen. Beim Fahren die ganze Zeit das Gefühl, das einzig Richtige zu tun.
Ich hatte es nicht geplant, kannte ihn damals kaum. Aber jede Faser meines Körpers wusste, dass er es Wert war. Jede Sekunde wert, die ich mit ihm verbringen konnte.
Ich verzehrte mich nach seiner Gegenwart, wie Wüstennomaden nach frischem Wasser. Vergaß beim Gedanken an ihn alles andere und die Welt war gut. Es sind diese Augenblicke im Leben, die man niemals vergisst. Die Momente, in denen man sorglos dem Zug des Herzens folgt. Sich ohne nachzudenken einfach treiben lässt und wenn man ankommt, wo das Herz gerne wäre, fühlt es sich lebendig an. Lebendig, wenn man für einen kurzen Moment bloß mit voller Seele lebt.
Es ist ein Liebesbeweis gewesen: entschlossen, gewagt, romantisch. Ich musste ihn damals einfach noch mal sehen, bevor er zu einer Reise aufbrach. Eine zweiwöchige Reise bloß, aber für Verliebte fühlt sich jeder Tag nach einem ganzen Leben an. Jede getrennte Sekunde nach einer verlorenen.
Nicht einmal berühren, einfach nur ansehen wollte ich ihn und nahm Stunden der Anfahrt für Sekundenbruchteile in Kauf. Aber als ich damals am Flughafen ankam, war er längst durch die Sicherheitskontrolle. Starrte mich an hinter Panzerglas, kopfschüttelnd und mit einem Lächeln, dieses Lächeln.
«Du bist vollkommen verrückt. Und ich liebe dich dafür.» Seine Lippen formten es lautlos hinter der Scheibe und die liebevolle Stimme dazu hörte ich bloß in meinem Kopf. Höre sie bis heute.
Vielleicht hätte es mir zu denken geben sollen, dieses Bild. Wir beide getrennt von Panzerglas. Unzerstörbare, unüberwindbare Barrieren zwischen uns. Einander so nah, aber trotzdem unerreichbar. Die Hände auf den Scheiben gegeneinander gedrückt, ohne sich zu berühren. Der romantischste Moment, an den ich mich erinnere. Solange ich durch rosarote Gläser blicke.
Auf der Kreuzfahrt habe ich die rosa Brille abgenommen. War endlich bereit, sie im Meer zu versenken. Dahintreiben zu lassen, bis sie an hellen Kalksteinfelsen zerschmettert und sah plötzlich etwas anderes.
Statt einem romantischen Moment sah ich auf einmal, dass ich damals zu spät gekommen war. Sah die Barrieren, die uns voneinander trennten.
«Mädchen, weißt du, was du jetzt brauchst? Verpflichtungslosen Sex.»
Nicht mein erster Gedanke, sondern Annas, als sie damals von meinem Liebesaus erfuhr.
«Da gibt es noch mehr Fische im Meer». Und obwohl ich es anfangs nicht hören wollte, wäre es eine Schande gewesen, ohne Angel aufs Mittelmeer aufzubrechen.
Meine Großmutter hatte mich zur Kreuzfahrt eingeladen. Hinaus aufs offene Meer, wo der Blick in die Unendlichkeit wandert. Wo der klare Sternenhimmel bei Nacht alle Probleme durch ein Verkleinerungsglas schickt und die Distanz zum Alltag neue Blickwinkel eröffnet.
Vielleicht hatte sie es getan, um meinen Liebeskummer zu heilen. Mich Abschied nehmen zu lassen und als ich auf den Meeresweiten an Annas Worte dachte, fühlte ich mich endlich bereit.
Bereit dazu, die Angel auszuwerfen. Mit Hüftschwung. Verstohlenen Blicken und leisen Seufzern, während ich mich auf der Saunabank wand.
Ich angelte nicht, weil er mein Typ war. Nicht, weil er mehr zu bieten hatte als Marco und auch nicht für das Geld, das er eindeutig besaß. Ich tat es, weil ich nicht mehr an Panzerglas-Szenen denken konnte. Nicht mehr durch rosarote Brillen blicken wollte. Weil ich mich frei fühlen musste. Frei von Marco und bereit für eine Zukunft, an die mir der ständige Gedanke an die Vergangenheit mit ihm den Glauben nahm.
Auf dem Schiff war es schwül, fast tropisch. Heiße Steine, die mit ihrem Dampf die Sauna-Scheiben beschlugen. Die Bank stand direkt davor, ich drückte die Hand gegen das Glas: Kühl und feucht fühlte es sich an.
Und dann tat ich es einfach. Wie von Geisterhand. Ich dachte nicht viel darüber nach - vielleicht hätte ich lieber. Ließ meine Finger an der Scheibe Buchstaben formen, die sich zu Wörtern vereinten.
Ein I, ein C, ein H. Etwas Abstand, der Finger rutschte und mit W, I, Doppel-L ging es weiter. Eine Pause vor dem letzten Wort: DICH. Und da stand es plötzlich. Ein offenes Bekenntnis auf dampfbeschlagenem Sauna-Glas, das mir zum Verhängnis werden sollte:
ICH WILL DICH.
Er sah es. Als ich es im Augenwinkel wahrnahm, begann der ganze Raum zu knistern. Knisterte wie das Papier eines Weihnachtsgeschenks, das man an Heiligabend aufgeregt zerreißt. Ganz ohne zu wissen, was sich darunter verbirgt und voller Anspannung, Vorfreude auf Überraschungen. Dass es eine unangenehme werden sollte, sah ich damals nicht kommen und wie hätte ich auch sollen?
Ich konnte es kaum abwarten: Ließ ihn mit klaren Worten auf einer dampfbeschlagenen Scheibe zurück und begab mich tänzelnd in den Wellness-Bereich, wo ich mich auf eine Liege legte - in der Hoffnung, er würde mir folgen.
Das hat er getan. Ist mir gefolgt. Nicht nur an diesem Tag - ungefragt folgt er mir bis heute. Aber ohne an die Zukunft zu denken, erstarrte ich in Anspannung, als ich damals die Saunatür in meinem Rücken vernahm.
Ich lag aufgeregt auf meiner Liege. Atemlos. Bis er langsam näher kam, bewegte ich mich nicht. Aber auf einmal stand er vor mir, über mir in zentimeternahem Abstand. Ich spürte seine Hitze. Schweiß tropfte mir auf die aufgeregt atmende Brust. Noch immer kein Wort, aber im Augenwinkel sah ich ihn den losen Knoten auf der Hüfte lösen.
Das Handtuch fiel.
Wie Gott ihn schuf, stand er am Rande meines Blickfeldes. Stand dort, bewegungslos, fast atemlos. Ohne zu reden, schickte er die Augen hinab, bis auch mir das Handtuch vom Körper rutschte. Ich fühlte mich wohl. War gerne nackt. Mochte den Luftzug auf der unbedeckten Haut. Das Licht und die Hitze. Zumindest in diesem Moment.
So ist es nicht immer gewesen. Selbstzweifel in der Jugend, paradoxer Körperkult. Absurde Schönheitsideale und der ständige Druck, ihnen, was es auch koste, gerecht zu werden. Aber seine Blicke…
Unter seinen begehrenden Augen fühlte ich mich göttlich. Schöner vielleicht, als ich mich je gefühlt hatte. Ich erlebte Entblößung nicht mehr als furchteinflößend, befreiend fühlte es sich an. Unbeschwert, unverstellt, unkompliziert - ich war berauscht.
Noch immer regte ich mich kaum. Vielleicht aus Angst, die Magie des Moments zu stören. Der Atem ging mir immer schneller. Die Blicke wurden aufgeregter, bis ich mich langsam auf ihn zu drehte. Ich sah ihn an, zum ersten Mal direkt. Aus Augen, die alles sagen.
Er hatte Gänsehaut. Auf jedem Millimeter seines Körpers richteten sich vor Anspannung die Haare auf und über meinen jagten warme Schauer, während er in Zeitlupe in die Hocke glitt. Mit den Armen stemmte er sich über mir auf meiner Liege ab, das rechte Bein zog er