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Die Meere in uns: Eine psychologische Untersuchung über das Meer als Bedeutungsraum
Die Meere in uns: Eine psychologische Untersuchung über das Meer als Bedeutungsraum
Die Meere in uns: Eine psychologische Untersuchung über das Meer als Bedeutungsraum
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Die Meere in uns: Eine psychologische Untersuchung über das Meer als Bedeutungsraum

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About this ebook

Es gibt nicht nur "das Meer in mir", wie der Titel eines spanischen Films besagt, sondern viele verschiedene "Meere" in jedem von uns.
In diesem Buch nimmt Sie der Autor mit auf eine Entdeckungsreise in unterschiedliche maritime Felder wie Literatur, Geschichte, Tiefen- und Geopsychologie, immer auf der Suche nach Spuren, die das spannungsreiche und sich ständig wandelnde Verhältnis der Menschen zum Meer thematisieren. Anschließend taucht man in die maritimen Bedeutungsräume der 44 Versuchspersonen seiner Studie ein, 12 Kategorien wie "Ruhe-Ort", "Heilquelle" oder "unkontrollierbare Gefahr", die anhand eindrucksvoller Zitate dargestellt werden. Aus dieser theoretischen und empirischen Annäherung sucht der Autor eine Synthese, in der das ambivalente Erleben und Verhalten gegenüber der See beleuchtet wird. Die abschließende Betrachtung der psychomaritimen Vorgänge vor und nach der Flutkatastrophe in Südostasien deutet an, wie dieses Buch zu einem besseren Verständnis dieser und ähnlicher Prozesse der Menschen im Umgang mit dem Meer beitragen kann.
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateNov 28, 2019
ISBN9783749751693
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    Book preview

    Die Meere in uns - Florian Schmid-Höhne

    Vorwort des Herausgebers

    Gestützt auf sein Engagement, seine Unbeirrbarkeit und seine intellektuelle Neugier hat Florian Schmid-Höhne ein ganz neues psychologisches Feld eröffnet, das er als „psychomaritime Perspektive" bezeichnet. Die Relevanz des von ihm vorgelegten Buches hat auch durch die Tsunami-Katastrophe in Südostasien gewonnen, in der wunderschöne Urlaubsstrände zu Todesfallen wurden. Innerhalb von wenigen Minuten hat das Meer seine Bedeutung verändert: Von einem Ort der Menschen magisch anzieht, ist es zu einem lebenszerstörenden Ungeheuer geworden. Die von Florian Schmid-Höhne durchgeführte eigene Empirie ist genau in diese Zeit gefallen und hat so einen ungeplanten Vorher-Nachher-Vergleich ermöglicht.

    Zunächst fasst der Autor unter dem Titel „Wege zum Meer den Ertrag seiner Literaturrecherche zusammen. Bevor er damit beginnt, entfaltet er erst einmal seine persönliche Perspektive und dabei wird deutlich, woher die Energie stammt, mit der Florian Schmid-Höhne sein Thema bearbeitet hat. Im weiteren nimmt er seine LeserInnen mit auf seine Entdeckungsreise durch unterschiedliche Diskursfelder, immer auf der Suche nach Spuren, die die spannungsreichen Verhältnisse der Menschen zum Meer thematisieren. Es geht von der literarischen Szene, über die Symbolinterpretation der Tiefenpsychologie, zu der fast vergessenen „geopsychischen Theorie eines Willy Hellpach, zu einer „geotouristischen Perspektive und die Tour landet schließlich bei einer historischen Perspektive, in der vor allem die Wandlungsfähigkeit des Bedeutungsraumes Meer sichtbar wird. Aufgezeigt wird die „rasterfeindliche Wandlungsfreude der Themenvielfalt, die mit dem Meer assoziiert ist.

    Im Zuge dieser Entdeckungsreise wird der Blick des Autors immer mehr durch seine psychologische Perspektive bestimmt. Einerseits wird das Meer als eine ideale Projektionsfläche für positive wie auch negative Affekte thematisiert und andererseits auch die durch zivilisatorische Eingriffe sich verändernden Affekte und Wünsche angesprochen, die sich auf das Meer als Natur und Nicht-Natur zugleich beziehen. Hier liegt eine Ursache für die insgesamt ambivalenten Beziehung der Menschen zum Meer. Am Ende dieses ersten Literatursurveys steht die Überzeugung, dass sich Menschen subjektiv in eine Beziehung zu ihrer Umwelt setzen. Die dabei entstehenden Meeresbilder sind das Resultat der individuellen und kultuellen Auseinandersetzung mit der jeweiligen maritimen Umgebung. Auf Grund biographisch höchst unterschiedlicher Erfahrungen mit dem Meer oder und auch individuell spezifischer kultureller Kodierungen oder auch dem kulturellen kollektiven Gedächtnis entstehen höchst unterschiedliche subjektive Konstruktionen des Meeres. Diesen wendet sich der zweite Teil des Buches zu.

    Diese Einsicht motivierte den Autor dazu, eine sehr heterogene Gruppe von Menschen zu ermutigen, ihm ihre Meeresbilder aufzuschreiben. Angeregt durch die methodische Idee von Beate Mitzscherlich hat Florian Schmid-Höhne im direkten persönlichen Kontakt und über das Internet 44 Personen dazu motivieren können auf folgende erzähl- bzw. schreibgenerierende Frage zu antworten: „Welche Gedanken, Gefühle, Bilder und Assoziationen verbinden Sie mit dem Meer? Die in der Beantwortung dieser Frage entstandenen Texten bilden das primäre Datenmaterial, das dann in der methodischen Tradition der „grounded theory ausgewetet wurde. Im Endergebnis kommt Florian Schmid-Höhne zu 12 relativ trennscharfen Kategorien. Über die durch Literaturrecherchen erlangte Bedeutungsvielvalt kommt durch diese methodische Vorgehensweise noch ein bedeutend größeres Spektrum zustande, das einen deutlich ins Positive gehenden Schwerpunkt aufweist, aber auch die bedrohlichen und ängstigenden Seiten des Meeres haben ihren Ort. So entsteht eine eindrucksvolle Variationsbreite an Wahrnehmungsmustern und Bedeutungskonstruktionen für das, was das Meer für Subjekte bedeuten kann. Das gilt nicht nur für interindividuelle Unterschiede, sondern auch für innere Bedeutungspluralität bei ein und derselben Person.

    Im dritten Teil sucht jetzt Florian Schmid-Höhne eine theoretische Synthese, die die Beziehung zwischen der menschlichen Psyche und dem Meer zu erklären versucht. Ins Zentrum wird eine symbolischinteraktionistische Bedeutungstheorie gerückt, die deutlich machen kann, dass es keine statische Relation zwischen Menschen und dem Meer geben kann. In den Bildern vom Meer spiegeln sich das kulturelle Selbstverständnis einer Zivilisation, die sich über die Natur stellt und sie zu bändigen versucht, aber gleichzeitig immer wieder in diesem Selbstverständnis scheitert. Das ist die „Dialektik der Aufklärung". Das jeweilige Selbstverständnismuster erweist sich immer dann als illusionär, wenn die Natur sich in ihrer elementaren Gewalt zeigt, aber auch dann taucht meist die Frage auf, ob nicht Eingriffe des Menschen in die Natur zugleich für deren katastrophale Potentiale mitverantwortlich sind. Aus diesen zirkulären und ambivalenten Relationen gibt es keinen Ausweg. Wie das vorliegende Buch aufzeigt, lässt sich eine überdeterminierte Mensch-Natur-Beziehung in den subjektiven Meeresbildern rekonstruieren.

    Abschließend unternimmt Florian Schmid-Höhne den Versuch der Konstruktion eines „psychomaritimen Modells der Meereswahrnehmung und -wirkung und es gelingt ihm, die Vielzahl der gefundenen Dimensionen und Variablen, den psychologischen im engeren Sinne und den kulturellen Kontextfaktoren, in einem komplexen Systemzusammenhang darzustellen. Wenn man bedenkt, wie unbeackert der Autor das psychomaritime Forschungsfeld vorgefunden hat, es war ja noch nicht einmal begrifflich richtig ausgeflaggt, dann wird erst deutlich, was er hier für eine Pionierleistung erbracht hat. Florian Schmid-Höhne hat mit Leidenschaft und einem untrüglichen Selbstwirksamkeitsgefühl seinen eigenen Weg gesucht und gefunden. Dafür hat er meinen vollen Respekt, der auch noch dadurch gewachsen ist, dass ich die vorliegende Arbeit immer in dem Bewusstsein gelesen habe, dass der Autor, während er dieses Buch schrieb, seine Schwester durch einen tragisch Unfall verloren hat. Doch dieser Schmerz hat ihn nicht gelähmt, sondern „Flügel verliehen.

    Vorwort des Autors

    Er war auf der Suche nach jener perfekten Welle, die ihm eines Tages zeigen würde, worin der wahre Sinn des Lebens lag (Bambaren 2000, S. 29).

    Auch ich war lange Zeit auf der Suche: Ich suchte nach der perfekten Quelle. Sie sollte mir zwar nicht gleich den Sinn des Lebens zeigen, aber ich erhoffte mir von ihr zumindest Auskunft über den Sinn, den die Menschen mit dem Meer verbinden. Welche Bedeutung hat diese riesige Wasserfläche für uns?

    Während meiner monatelangen Odyssee durchstöberte ich die abgelegensten Bereiche europäischer Bibliotheken, surfte tagelang im Internet und musste viele abenteuerliche Begegnungen mit deutschen Psychologen und französischen Bibliothekaren bestehen, um mich meinem Thema theoretisch anzunähern. Bisweilen drohte ich in meinem angesammelten Papiermeer unterzugehen, die Vielzahl unterschiedlicher Quellen schwappte über mich hinweg und ich sehnte mich nach einem konkreten Anhaltspunkt, nach festem Boden unter meinem so frei fließenden und scheinbar unendlichen Thema…

    In diesen Phasen erwiesen sich die Beiträge meiner empirischen Untersuchung als eine große Hilfe. Sie erlaubten mir psychomaritime Zusammenhänge, d.h. die Beziehungen zwischen der menschlichen Seele und dem Meer, anhand gezielt gesammelter Daten zu untersuchen. Auf diese Weise war ich nicht mehr gänzlich von meinen theoretischen Quellen abhängig.

    Mit einer Kombination aus psychomaritimer Theorie und empirischer Erdung will ich in diesem Buch einen Bereich erkunden, der bisher weitestgehend psychologisches Neuland dargestellt hat: Das Meer.

    Teil I: Wege zum Meer - eine theoretische Annäherung

    Die persönliche Perspektive: Mein Zugang zum Meer

    Warum beschäftigt sich ein Psychologe mit dem Meer? Warum überlasse ich diesen Natur- und Forschungsraum nicht den Ozeanographen und Meeresbiologen und widme mich nicht psychologischeren Themen, wie Depression oder Angststörungen?

    Solche und ähnliche Fragen musste ich mir in den vergangenen Jahren öfters anhören, oder zumindest rief die Nennung meines Buch-Themas zunächst überwiegend verblüffte Blicke hervor.

    Und allmählich spüre ich selbst den Drang, mir darüber klar zu werden, warum gerade das Meer?…

    "Gegen Abend, es war kühl, und ich zitterte ein wenig; teils weil es kühl war, teils aus Erregung. Wir standen am Strand. Ich, etwa fünf Jahre, an der Hand meines Vaters, und mein kleiner Bruder Michael, vierjährig. Wir schauten aufs Meer hinaus - das erste Mal in unserem Leben.

    Mein Vater war sehr stolz, uns das Meer zu zeigen. Er war immer sehr stolz auf sein Meer: die Ostsee bei Travemünde. Kurz ehe wir die lange Reise von München ans Meer antraten, erzählte er uns, wie er als kleiner Junge dem neuen Kindermädchen, das aus Sachsen kam, mit Stolz sein Meer gezeigt hatte. Und sie stand da, auf breiten Beinen, schaute hinaus und sagte: '´s is hibsch, aber ich hätt mers hibscher gedacht.' Das muß eine furchtbare Enttäuschung oder sogar Beleidigung für meinen Vater gewesen sein, die er der Sächsin nie verziehen hat.

    Unter keinen Umständen wollte ich ihm eine ähnliche Enttäuschung bereiten! Doch dazu bedurfte es keinerlei Anstrengung, denn ich war einfach benommen vom Anblick des Meeres: seine Farbe, das Plätschern der Wellen, der Salzgeruch… " (Mann Borgese 1999, S.17).

    In diesem ersten Kontakt sieht die Tochter von Thomas Mann den emotionalen Ursprung für ihre lebenslange Beschäftigung mit dem Meer. Leider verlief meine erste Begegnung mit dem Meer weit weniger spektakulär, bzw. habe ich keinerlei Erinnerung daran: Ich war nicht einmal ein Jahr alt, als ich auf Elba zum ersten Mal am Strand saß. Ein Film zeigt mich damals nicht allzu begeistert: Ich schrie viel und versuchte den Sand zu essen, der mir jedoch wenig schmeckte. Trotz dieser negativen Ersterfahrung scheine ich jedoch auf den Geschmack gekommen zu sein. Denn ich kann mich nicht erinnern, dass ich bei einem ersten Blick, den ich nach längerer Abwesenheit auf das Meer werfen konnte – sei es in einem chilenischen Bus sitzend, eine holländische Stranddüne erklimmend oder auf Teneriffa aus dem Flugzeug steigend - jemals von diesem Anblick enttäuscht gewesen wäre. Egal, wie stark ich mich während meiner kontinentalen Daseinsphasen nach dem Meer gesehnt und mir in meinem Inneren ein maritimes Idealgebilde konstruiert habe, das bei einer Konfrontation mit der Realität förmlich nach Enttäuschung schrie, sobald ich mich leibhaftig wieder vor dieser gewaltigen Wassermasse befand, spürte ich einfach nur Benommenheit, Erregung und Glück….

    Bewusst beeindruckt hat mich das Meer zum ersten Mal mit sechs Jahren, als wir meine Tante in Indonesien besucht haben. Wir saßen am Strand, aßen Erdnüsse und beobachteten den Sonnenuntergang im Meer. Die großen Wellen des indischen Ozeans waren schon etwas ganz anderes als das meist friedliche Geplätscher des Mittelmeers, das für mich in meinen bisherigen Urlauben vor allem einen überdimensionalen Sandkasten nebst Pool dargestellt hatte. Einige Tage später fuhren wir mit einem Boot zu einem Korallenriff zum Schnorcheln. Die bunte Vielfalt, die sich meinen Augen darbot, faszinierte mich, aber am intensivsten erinnere ich mich an die Stelle, wo das Riff urplötzlich abfiel und sich eine riesige, dunkle Tiefe auftat. Mehrmals schwamm ich einige Meter in diese dunkelblaue Welt hinein, wurde aber bald von einer unbestimmten Angst erfasst und kehrte schnell zum sicheren Korallenriff zurück.

    Ein Jahr darauf zogen wir nach Teneriffa, wo ich fünf Jahre, und somit einen Großteil meiner bewussten Kindheit, lebte. Der entfesselte Atlantik rund um diese Lavainsel hat mein Bild vom Meer bis heute wohl am stärksten geprägt. Meist fuhren wir zum Baden an einen Strand, dessen heller Sand extra aus der Sahara angeschifft worden war und den eine künstliche Mole vor der Brandung des offenen Meeres schützte. Wenn ich heute an diesen Strand komme, sitze ich am liebsten auf einem großen Felsen dieser Mole, vor mir das weite, wilde Meer, in meinem Rücken sein gezähmtes Gegenstück.

    Aber wir fuhren auch an ungeschützte Strände, deren schwarzer Lavasand dem Meer eine tiefblaue und bisweilen bräunliche Farbe verlieh. Dort machte ich auf einem kleinen Styroporbrett liegend oder einfach nur bodysurfend erstmalig hautnah Bekanntschaft mit der Gewalt der Wellen und spürte den Sog der Meeresströmung. Diese Erfahrungen, die ich meist in der schützenden Nähe meines Vaters machte, und die Geschichte von Bekannten, die an einem dieser Strände von einer Strömung erfasst worden waren und im offenen Meer um ihr Leben schwimmen mussten, haben mir schon früh die Gefahren des Meeres gezeigt.

    Zurück in Deutschland vermisste ich vor allem meine Freunde. Mit dem Meer und seinen Stränden war für mich eher ein riesiges Spiel- und Bewegungsareal verloren gegangen, für das ich in staubigen Basketballhallen Ersatz suchte. Bewusste Sehnsucht nach dem Meer erlebte ich erst einige Jahre später. Ausschlaggebend waren dafür zwei konkrete Glücksmomente: An der französischen Atlantikküste stand ich mit 19 Jahren zum ersten Mal einige Sekunden auf einem Surfbrett und erlebte das unbeschreibliche Gefühl von einer Welle getragen zu werden. Wenige Monate später fühlte ich mich während eines Segeltörns mit der Schulklasse vollkommen frei und schwerelos, als ich in dem Netz unter dem Bugspriet lag und über das Meer flog. Es war als hätten diese zwei Augenblicke ein lange in mir schlummerndes Bedürfnis nach diesem nassen Element meiner Kindheit geweckt, und zu meinen guten Vorsätzen für jedes neue Jahr gehört seitdem, mindestens zweimal ans Meer zu fahren. Interessanterweise beschlich mich bei diesen Reisen immer öfter ein heimatliches Gefühl. Ich war landschaftlich hin- und hergerissen zwischen den saftig-grünen Allgäuer Hügeln meiner frühen Kindheit, den schroffen, kakteenbewachsenen Lavabergen und Schluchten Teneriffas und der flachen Schotterebene des Münchener Umlandes und dass führte zunehmend dazu, dass ich das Meer, und speziell den Atlantik, zumindest landschaftlich und emotional zu einer variablen Wahlheimat erklärte. Auch in komplizierten Lebenssituationen oder vor schwierigen Entscheidungen diente mir diese unendliche, sich fast immer bewegende Fläche vermehrt als eine Art Refugium und gleichzeitig als Katalysator um meine ländlich-erstarrten Gedanken wieder in kreative Wallung zu bringen.

    Nachdenken musste ich nicht lange, als ich mich nach dem Vordiplom dazu entschied, zwei Auslandssemester an der Universidad de La Laguna auf Teneriffa zu studieren. In diesen zehn Monaten hatte ich den bis dato wohl intensivsten Kontakt mit dem Meer. Hierbei ist mein maritimes Bild vor allem differenzierter geworden. Drei bis viermal in der Woche fuhr ich im Morgengrauen mit dem Bus an einen felsigen Küstenabschnitt, wo ich in der direkten Auseinandersetzung mit den oft stürmischen Wellen des Atlantiks mühsam das Wellenreiten erlernte. In dieser langen Zeit gab es keine zwei Tage, an denen das Meer auch nur annähernd identisch war. Ständig veränderten sich seine Farbe, die Höhe der Wellen, die Richtung, aus der sie kamen, wie sie brachen (je nach Ebbe- oder Flutzeitpunkt), die Strömungen, der Wind… Ich erkannte, dass das Meer mit seinen wetter- und wellenabhängigen Stimmungsschwankungen eine ideale Projektionsfläche für das eigene Innenleben darstellt. Egal ob im Einklang mit oder als Kontrast zu meinem Inneren kann es mir mein jeweiliges Befinden vor Augen führen.

    Bei meiner Rückkehr nach München fehlte mir das Meer nicht nur als Stimmungslandschaft, sondern ich fühlte mich vor allem in den Straßenschluchten dieser flachen Stadt eingeengt. Keinerlei Fernblick und kein beruhigender Horizont war meinen inselgewöhnten Augen mehr gegönnt, und allein der Anblick von vereinzelten Flächen wie der der Theresienwiese war ein schwacher Trost. In dieser Zeit des Meeresentzugs fing ich auch an, mich mit dem Meer und seiner Wirkung auf meine Psyche gedanklich und wissenschaftlich auseinanderzusetzen.

    Bei meiner nächsten körperlichen Auseinandersetzung mit dem marokkanischen Ozean war ich von einer eben erst auskurierten Lungenentzündung stark geschwächt und spürte zudem eine aufkommende Grippe. Ich stürzte mich trotzdem mit meinem Surfbrett in die langersehnten Wellen, ließ mich von ihnen innerlich (vor allem die Nebenhöhlen) und äußerlich durchspülen und fühlte mich nach

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