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Wie ich erfuhr, dass ich ein Zebra bin
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Ebook344 pages4 hours

Wie ich erfuhr, dass ich ein Zebra bin

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About this ebook

"Dass du immer noch lachen kannst ...", war eine der häufigsten Aussagen, die die Autorin immer wieder von Freunden und Bekannten hörte, wenn sie über die Erkrankungen sprachen, die ihr Leben von heute auf morgen grundlegend veränderten.

Eines Tages beschloss sie, über ihre Erlebnisse auf dem Weg zu verschiedenen ungewöhnlichen und teilweise seltenen Diagnosen, die sie ihr Leben lang begleiten werden, zu schreiben.

So entstand ein Buch, das sicherlich nicht immer zur leichten Lektüre gehört, aber dennoch ein Mutmacher für Menschen in ähnlichen Situationen sein soll und das zeigt, dass es sich stets zu kämpfen lohnt.

Mit sachlichen Erklärungen vermittelt die Autorin ihr Wissen für Interessierte und erzählt auch von Chancen, von Veränderungen und einem Neuanfang.
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateMay 30, 2017
ISBN9783734580369
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    Wie ich erfuhr, dass ich ein Zebra bin - Martina Hahn

    Das Zebra

    Das Zebra ist das internationale Symboltier für Menschen mit seltenen Erkrankungen. Das Motto lautet: „Wenn du Hufe hörst, denk an Pferde, nicht an Zebras." Gemeint ist in der Medizin, dass die am nächsten liegende Lösung meist die richtige ist, wenn es mehrere Möglichkeiten gibt. Manchmal wird dabei jedoch nicht bedacht, dass auch das Ungewöhnliche die Erklärung sein kann.

    Ich bin ein Zebra.

    Rare Disease Day

    Der letzte Tag im Februar eines jeden Jahres ist der Internationale Tag der Seltenen Erkrankungen, der Rare Disease Day. In Europa wird eine Krankheit als selten eingestuft, wenn diese bei nicht mehr als fünf Personen pro 10.000 Einwohner der Europäischen Union auftritt¹.

    Die Ehlers-Danlos-Syndrome

    Von den Ehlers-Danlos-Syndromen sind durchschnittlich eine bis zwei Personen pro 10.000 Einwohner betroffen, wobei sich die Häufigkeit zwischen den einzelnen Varianten zum Teil deutlich unterscheidet. Meine EDS-Form, der klassische Typ, tritt mit einer Häufigkeit von etwa einer Person pro 30.000 Einwohner auf². Es gibt jedoch auch EDS-Typen, für die sogar weniger als eine Person pro eine Million Einwohner angegeben ist².

    Die Ehlers-Danlos-Syndrome (EDS) bilden eine definierte Gruppe genetisch bedingter Erkrankungen, bei der die Bildung und somit die Struktur des Kollagens im Körper durch Defekte oder Mutationen auf bestimmten Genen fehlerhaft ist.

    Kollagene sind lange Eiweißketten, die in verschiedene Typen mit unterschiedlichen Aufgaben unterteilt werden. Sie befinden sich in der extrazellulären Matrix, also in den Zellzwischenräumen aller Gewebe und stellen einen wesentlichen Bestandteil des menschlichen Bindegewebes dar. Für eine bildhafte Vorstellung mag ein grober Vergleich zum Mörtel zwischen den Ziegelsteinen eines Hauses dienen.

    Das Bindegewebe spielt eine zentrale Rolle im Immunsystem. Zudem schützt es als Knorpel die Gelenkflächen und gibt z. B. Ohren und Nase ihre Form. Es verleiht Organen, Gefäßen, Bändern und Muskeln ihre Stabilität und Elastizität, verbindet sie miteinander oder trennt sie voneinander. Es ermöglicht deren Verschieblichkeit zueinander, um Lebensfunktionen wie die Atmung oder den Nahrungstransport zu gewährleisten. Das Bindegewebe übernimmt somit eine immens wichtige Rolle im gesamten Organismus.

    Wird das Kollagen jedoch durch defekte oder mutierte Gene nach einem fehlerhaften Bauplan gebildet, hat dies Auswirkungen auf die Beschaffenheit und Funktionsfähigkeit der Bänder und Sehnen, des Knorpelgewebes, der Gefäßwände und der inneren Organe, der Haut, der Zähne, der Augen usw. Überträgt man die Funktionen von Kollagen auf unser bildhaftes Haus, so stellen die Ehlers-Danlos-Syndrome Planungs- oder Materialfehler dar, die sich auf das gesamte Gebäude auswirken. Stellen Sie sich die Verwendung der falschen Mörtelmischung im Mauerwerk vor.

    Die Ehlers-Danlos-Syndrome sind daher systemische, den gesamten Körper betreffende, Erkrankungen, bei denen bereits die Grundstrukturen des Organismus fehlerhaft sind. Da das Kollagen zudem dauerhaft unzureichend nachgebildet wird, gehören die EDS zu den nicht heilbaren Erkrankungen mit regelmäßig progredientem (fortschreitenden) Verlauf. Sie treten jedoch so selten auf, dass den allermeisten Ärzten in ihrer gesamten Laufbahn kein einziger EDS-Betroffener begegnen wird.

    Die Ehlers-Danlos-Syndrome werden nach der neu erarbeiteten und im März 2017 veröffentlichten internationalen EDS-Klassifikation in dreizehn Subtypen unterteilt³ (vormals sechs Haupttypen nach der Villefranche-Klassifizierung von 1997), die jeweils nach ihrer Leitsymptomatik benannt sind. So ist der hypermobile Typ (hEDS) vorwiegend von Erkrankungen des orthopädischen Bereiches betroffen und zeichnet sich durch eine eher geringe Beteiligung der Haut oder der inneren Organe aus.

    Der vaskuläre Typ (vEDS) geht mit einer besonders hohen Zerreißlichkeit der Gefäße und Organe einher und ist oft gekennzeichnet durch eine erweiterte Aorta, Aneurysmen⁴, spontane Hämatome sowie stark überbewegliche Gelenke, die häufig luxieren (ausrenken). Er stellt wegen des hohen Blutungsrisikos eine der gefährlichsten EDS-Varianten dar und wird mit einer mittleren Lebenserwartung von nur 48 Jahren beschrieben.

    Der klassische Typ (cEDS) zeichnet sich durch eine deutliche Überdehnbarkeit und verstärkte Verletzlichkeit der Haut aus, durch stark überbewegliche Gelenke mit Dislokationen sowie durch eine Beteiligung der inneren Organe und der Gefäße. Bemerkbar macht sich dies in meinem Fall durch spontane blaue Flecken, Petechien (kleine Punktblutungen), Nasenbluten, eine häufig blutende Zunge sowie viele weitere Befunde des internistischen, orthopädischen, neurologischen und urogynäkologischen Bereiches.

    Mit der überarbeiteten Klassifikation wurde nun auch ein classical-like EDS³ (clEDS) als neuer Subtyp aufgenommen, der dem klassischen Typ sehr ähnlich ist, einige Eigenschaften aber weniger stark ausgeprägt oder seltener vorhanden sind. Die Zerreißlichkeit und die abnorme Narbenbildung der Haut sind im Vergleich zum klassischen EDS beim classical-like EDS nicht oder nur in geringem Ausmaß beschrieben. Hernien (Gewebebrüche) werden beim klassischen EDS häufiger beobachtet als beim classical-like EDS. Dennoch geht auch das neue clEDS mit Überdehnbarkeit der Haut, generalisierter Gelenkhypermobilität mit oder ohne Dislokationen, Blutungsneigung, spontanen Hämatomen, Fußfehlstellungen, Ödemen, Muskelschwäche, Senkungsvorgängen bis hin zu Prolapsen im gynäkologischen oder enterologischen Bereich einher.

    Neben diesen vier häufigsten Formen der Ehlers-Danlos-Syndrome werden auch

    •Arthrochalasie EDS (aEDS)

    •Dermatosparaxis EDS (dEDS)

    •Kyphoskoliotisches EDS (kEDS)

    •Spondylodysplastisches EDS (spEDS)

    •Musculocontractural EDS (mcEDS)

    •Parodontales EDS (pEDS)

    •Neu: Kardio-valvuläres EDS (cvEDS)

    •Neu: Myopathisches EDS (mEDS)

    •Neu: Brittle Cornea Syndrome (BCS)

    beschrieben. Diese sollen hier jedoch lediglich der Vollständigkeit halber genannt sein.

    Zwischen den einzelnen Varianten treten häufig Überlappungen der Symptome auf. Auch innerhalb eines Typs sind die Symptome zumeist unterschiedlich stark ausgeprägt und vielfältig. In seltenen Fällen sind Patienten auch genetisch nachweisbar von mehreren Formen gleichzeitig betroffen.

    Ein Leitsymptom der EDS ist die angeborene und nicht antrainierte generalisierte Hypermobilität, d. h. die Überbeweglichkeit des gesamten Körpers, bei der sowohl der Grad als auch die Anzahl der überstreckbaren Gelenke ein bestimmtes Maß übersteigt. Ermittelt wird die Hypermobilität mit dem Beighton-Score auf einer Skala von 0 – 9, bei dem die Überstreckbarkeit mit einem Punktesystem bewertet wird⁵. Im Verlauf des Buches gehe ich auf diese Methode genauer ein. Mein Beighton-Score liegt bei 7/9 und bildet für einen EDS-Betroffenen einen durchschnittlichen Wert. Um von einer generalisierten Hypermobilität sprechen zu können, muss ein Score von mindestens 5/9 erreicht werden. Unterhalb dieser Marke wird eine EDS-Diagnose eher unwahrscheinlich sein. Die meisten EDS-Betroffenen erreichen Werte, die deutlich darüber liegen.

    Es sollte bedacht werden, dass der Beighton-Score lediglich eine grobe Orientierung sein kann, da weitere Gelenke, wie Schultern, Fuß- und Zehengelenke oder auch die Abschnitte der Wirbelsäule nicht einbezogen sind. Das Ausmaß der Überbeweglichkeit kann mit dem aktuellen Score daher nicht vollumfänglich dargestellt werden. Er erlaubt aber Rückschlüsse, ob eine generalisierte, eine moderate oder gar keine Hypermobilität vorliegt. Die Erarbeitung und Anpassung von Diagnosekriterien ist nachwievor ein dynamischer Prozess und wird von den Wissenschaftlern auch als Aufgabe angenommen.

    Ein zweites Leitsymptom der Ehlers-Danlos-Syndrome ist die Überdehnbarkeit der Haut. Auch dieses Merkmal ist bei den Betroffenen unterschiedlich stark ausgeprägt. Neben etlichen weiteren Anhaltspunkten bildet es jedoch ein wichtiges Kriterium bei der EDS-Diagnostik.

    Insgesamt ist es oft schwierig, ein Ehlers-Danlos-Syndrom zu erkennen, da die Symptome, auch wegen einer Reihe Folge- und Begleiterkrankungen, sehr komplex und vielfältig sind. Diese werden häufig fehlinterpretiert und an das mögliche Vorliegen einer seltenen Erkrankung wird meist nicht gedacht. Die Diagnose wird zunächst klinisch gestellt, d. h. anhand einer gezielten körperlichen Untersuchung, die von Ärzten mit EDS-Erfahrung durchgeführt werden sollte und mithilfe der Kranken- und Familiengeschichte gestützt wird. Um die Diagnose zu festigen, kann die elektronenmikroskopische Analyse einer Hautbiopsie hilfreich sein, bei der die Strukturen des Kollagens bei hohen Auflösungen unter dem Elektronenmikroskop untersucht werden.

    Die vermeintlich sicherste Methode, ein EDS nachzuweisen, ist die molekulargenetische Analyse. Da die Ehlers-Danlos-Syndrome jedoch in vielerlei Hinsicht noch unzureichend erforscht und bislang nicht alle auslösenden Gene bekannt sind, ergeben die genetischen Analysen oft keinen Treffer. So ist der klassische Typ, auch wenn die klinische Diagnose eindeutig ist, bei nur rd. 50 % der Betroffenen mit den bekannten Genen nachweisbar⁶. Beim vaskulären Typ liegt die genetische Trefferquote bei über 90 %⁷.

    Für den hypermobilen Typ ist nach den erneuerten Kriterien kein auslösendes Gen bekannt. Die Haploinsuffizienz des TNX-Gens, die bislang am ehesten für ein hypermobiles EDS stand, führt nach der aktualisierten Klassifikation nicht zur Diagnose hEDS.

    Zudem wird das Ehlers-Danlos-Syndrom nach einer ebenfalls vorgenommenen Änderung in der Terminologie nunmehr im Plural als die Ehlers-Danlos-Syndrome bezeichnet, um auch im übergeordneten Begriff der Tatsache Rechnung zu tragen, dass sich die einzelnen Formen durch jeweils eigene Charakteristika auszeichnen. Das hypermobile EDS (hEDS), das klassische EDS (cEDS), das klassisch-ähnliche EDS (clEDS) oder das vaskuläre EDS (vEDS) etc. werden so zu den Ehlers-Danlos-Syndromen zusammengefasst.

    2013

    Der Anfang – Plötzlich war alles anders

    Eigentlich war ich immer ein Mensch mit einer guten Fitness, auch wenn ich nicht ständig Sport trieb. Ich ging mit wachen Augen durchs Leben, sah viele Details in Situationen und Menschen. Nie aber habe ich bewusst auf mich selbst achten müssen. Sorglos war ich, unbefangen. Meine Gesundheit war ja automatisch da. Mein Leben erlaubte mir alles. Ich machte Sport, ging tanzen, fuhr in den Urlaub, schob Überstunden im Büro. Ich liebte, ich stritt, ich schrieb und sang. Ich spielte Instrumente oder gammelte auf dem Sofa, wenn mir so war - bis zu dem Tag, an dem sich alles änderte und es änderte sich mit einem Knall.

    In den dann folgenden dreieinhalb Jahren, die es dauerte, meine vier wichtigsten Diagnosen klassisches Ehlers-Danlos-Syndrom (cEDS), atlantodentale Instabilität (ADI), posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom (POTS) sowie eine genetisch bedingte Störung des Medikamentenstoffwechsels zu finden, sammelte ich eine Menge Einzeldiagnosen ein und lernte eine völlig neue Welt kennen: Ärzte, Rettungswagen mit Blaulicht, Kliniken, Behörden, Versicherungen ... und Krankheit.

    Zurückblickend weiß ich heute, dass sich mein EDS schon in meiner Jugend zeigte, denn es war ja schon immer da. Obwohl ich bereits von Geburt an sehr beweglich war, bereits mit fünfzehn Jahren Probleme mit den Sprunggelenken bekam, seit meinem etwa zwanzigsten Lebensjahr häufige Wirbelblockaden und später immer wieder unerklärliche Gelenkentzündungen im Knie sowie in den Finger- und Zehengelenken bemerkte, erfuhr ich erst im Alter von dreiunddreißig Jahren mit Aufkommen des EDS-Verdachtes, dass nicht die anderen Menschen so schrecklich ungelenkig waren, sondern ich diejenige war, die sich über das normale Maß hinaus biegen und strecken konnte.

    Ähnliches galt auch für meine Haut und mein Knorpelgewebe. So drückte mein Hausarzt eines Tages völlig fasziniert und mit einem strahlenden Ausruf: „Die ist ja wirklich ganz weich!", auf meiner Nasenspitze herum, weil diese zwar ganz normal aussah, aber so weich war, dass sie bei Berührung eher an die Konsistenz eines Wackelpuddings erinnerte. Die Reaktionen auf die Überdehnbarkeit meiner Haut spiegelten im Gesicht der Menschen oft eine Mischung aus Erstaunen und der Frage danach wider, wie das wohl möglich sei. Dennoch war mir nie aufgefallen, dass ich mich darin von anderen Menschen unterschied und dies war nur der Anfang.

    Vielleicht fand die Initialzündung für alles, was kommen sollte, schon zum Jahreswechsel statt. Kurz nach Neujahr 2013 stand ich in meinem Wohnzimmer, hörte laut lateinamerikanische Musik und freute mich, dass die Weihnachtsferien bald vorüber sein würden. Ein neues Zumba®-Semester stand vor der Tür. Meine brasilianische Trainerin wollte mich fordern und fördern, sah sie doch ein Talent in mir, das mehr versprach. Bereits als kleines Mädchen von sechs Jahren lernte ich Standardtanz und war durchaus für den Turniertanz geeignet. Turnierkleider waren jedoch teuer und unsere Finanzlage zu Hause nicht so überragend, dass das Geld dafür übrig gewesen wäre. Irgendwann zogen wir um und es verlief im Sande.

    Jetzt, knapp fünfundzwanzig Jahre später, tanzte ich also wieder und war wenige Monate zuvor mit meiner Trainerin und ihrer ebenso brasilianischen Freundin auf einem riesigen Zumba®-Event, das ein Projekt für die Arbeit gegen Brustkrebs unterstützte. Alle weltweit wichtigen VIPs der Bewegung waren anwesend und gemeinsam tanzten wir fast vier Stunden ohne Unterbrechung. Die Erlöse von mehr als zweitausend Eintrittskarten flossen teilweise in das unterstützte Projekt. Es war grandios.

    Nun, kurz nach Silvester, übte ich Salsa. Ich liebte Salsa und schmückte tanzend meinen Weihnachtsbaum ab, bis es einen Ruck gab. Unvermittelt blieb ich stehen und konnte meinen Kopf nicht mehr bewegen. Irgendetwas war verhakt und ich hatte höllische Schmerzen. Die Musik erschien plötzlich viel zu laut und dröhnte in meinen Ohren.

    Als es mehrere Tage später noch nicht besser war, ging ich zum Arzt und konnte die Blockade schließlich mit Schmerzmitteln, Physiotherapie und Muskelrelaxantien wieder lösen. Irgendetwas aber blieb zurück. Mir wurde schnell schwindelig und die Wirbel der Halswirbelsäule knirschten und knackten seither bei bestimmten Kopfbewegungen. Das blieb bis heute so. Vielleicht war dieser Ruck schon ein Vorbote für den erst zweieinhalb Jahre später diagnostizierten Gleitwirbel.

    Von einer Spondylolisthesis (Wirbelgleiten / Gleitwirbel) spricht man, wenn sich zwei benachbarte Wirbel gegeneinander so verschieben, dass sie nicht mehr gerade übereinander stehen, sondern etwas versetzt angeordnet sind. Ein Gleitwirbel kann symptomlos sein, aber auch viele Probleme bereiten. Vielleicht war das schon ein Vorgeschmack dessen, was noch vor mir lag. Wahrscheinlich aber kamen mehrere Faktoren zusammen.

    Seit den blockierten Wirbeln nach Silvester waren zwei Monate vergangen. Jetzt wurde ich irgendwie krank. Plötzlich war mir oft schwindelig und schwarz vor den Augen. Mein Herz schlug so schnell, dass ich kurzatmig wurde und Schweißausbrüche bekam, sobald ich mich bewegte. Ich fühlte mich schrecklich, ein ungewöhnlicher Zustand für mich. So ungewöhnlich, dass ich mich bei einer Kollegin im Büro erkundigte, was man denn eigentlich zu einem Arzt so sagt. Ich war ja nie krank.

    Am nächsten Morgen ging ich zum Ärztehaus in meiner Nähe. Wir kannten uns nicht und trafen nur zufällig aufeinander, da sich die Ärzte mit der Akutsprechstunde abwechselten. Es war der 27. Februar 2013, ein Mittwoch, und ich sagte zu diesem mir noch völlig fremden Menschen nicht viel mehr als: „Ich fühle mich irgendwie Matsch". Es war der Tag, von dem noch niemand wusste, dass er eine Zeit einläutete, die mein Leben komplett veränderte. Die Zeit, in der ich erfuhr, dass ich ein Zebra bin.

    Von Herz und Krankenhaus

    Im Februar 2013 herrschte eine heftige Grippewelle und auch das Büro, in dem ich arbeitete, war gut zur Hälfte ausgestorben. Dieser fremde, aber durchaus sympathisch wirkende Arzt auf der anderen Seite des Schreibtisches schlussfolgerte, dass es mir ging wie vielen Anderen zu dieser Zeit und schrieb mich für den Rest der Woche krank. Drei Tage plus Wochenende. Das müsste reichen. Dachte er. Dachte ich. Wir sollten uns beide täuschen.

    Die nächsten zwei Tage verbrachte ich irgendwo zwischen Bett und Sofa und war krank. Husten oder Schnupfen hatte ich kaum, auch kein Fieber. Ich fühlte mich, als würde ich etwas ausbrüten. Zwei Wochen zuvor hatte ich eine kleine Bronchitis gehabt, sodass ich überlegte, ob diese womöglich nicht richtig auskuriert war. Zumindest lag die Vermutung nahe.

    Am Freitag testete ich meine noch immer nicht vorhandene Fitness mit einem kurzen Spaziergang zum nahegelegenen Supermarkt. Der Weg von etwa einhundert Metern ließ mich bereits nach der Hälfte völlig aus der Puste geraten. Ich fühlte mein Herz schlagen. Als ich den Supermarkt erreichte, lief ich wie Falschgeld zwischen den Regalen umher. Die kundenorientierte Musik aus den Lautsprechern klang verzerrt. Mir war schwindelig, ein lauter Tinnitus mischte sich ein. Mein Herz stolperte, raste dann, schlug wieder normal, schlug so kräftig, dass es schmerzte. Grünschwarze Wolken zogen wie wabernde Nebelschwaden vor meinen Blick. Alles erschien mir plötzlich unheimlich weit entfernt. Beinahe stürzte ich, konnte mich gerade noch fangen und fand mich mit der Nase vor einer Palette Grießbrei in Portionstüten wieder. Ich starrte auf eine perfekt in Szene gesetzte halbierte Erdbeere auf der Verpackung und versuchte, mich zu sortieren. Was um Himmels willen war das? Ich musste dringend zurück nach Hause.

    Am Montag meldete ich mich weiter krank und blieb in meiner Wohnung. Am Dienstag ging ich erneut zum Arzt. Ich kam mir bescheuert vor und sagte ihm das auch so. Das müsse ich nicht, entgegnete er und ermittelte meinen Puls, der irgendwie zu schnell war. Gewöhnlich schlug das Herz in Ruhe mit einer Häufigkeit von etwa 60/min bis 80/min. Mein Herz tat dies in einer Minute jedoch mit einer Frequenz von fast 100/min. Der Arzt maß meinen Blutdruck, der nichts Ungewöhnliches ergab und horchte mich ab. Die Lungen waren frei. Atmen konnte ich trotzdem kaum und fühlte mich wie benebelt. Zur Sicherheit ließ er Blut abnehmen und schrieb mich erneut für den Rest der Woche krank. Wir waren sicher, dass dies nun ausreichen würde.

    Die Woche war vorüber und ich war krank. Immer noch. Wieder ging ich zu diesem Arzt. Die Blutwerte waren da und zeigten eine kürzlich überwundene Infektion, aber ansonsten keinerlei Anhaltspunkte für ein besorgniserregendes Geschehen. Ich berichtete, dass ich einem Tanzsport nachging und einige Zeit zuvor mit einer leichten Bronchitis bei Minusgraden Fahrrad gefahren war. Zudem hatte ich seit Tagen das Gefühl, dass mein Herz immer wieder stolperte. Ich kannte diesen Effekt bei Infektionen schon seit meiner Jugend. Er horchte auf und schrieb ein EKG. Mein Herz war schnell, schlug aber während der Untersuchung gleichmäßig. Zur Auswertung bat er eine internistische Kollegin hinzu. Nur im Trägershirt bekleidet, aber dennoch schwitzend und kurzatmig saß ich auf der Behandlungsliege. Die beiden Ärzte beobachteten mich vom Schreibtisch aus, sahen mir meine Dyspnoe (Atemnot) deutlich an und berieten sich. Die internistische Kollegin fragte, ob ich vor etwas Angst hätte. Nein, hatte ich nicht. Vielleicht sei ich auch sehr aufgeregt oder angespannt, weil ich beim Arzt war? Es gebe ein sogenanntes Weißkittelsyndrom. Nein, ich war nicht aufgeregt. Ich konnte nicht erklären, warum mein Körper handelte, als wäre ich im größten Stress, obwohl ich eigentlich die Ruhe selbst war.

    Sportlich aktiv wie ich war und aufgrund der plötzlichen und deutlichen Symptome des Herzkreislaufsystems nach meiner Bronchitis, kamen beide zu dem Schluss, mich mit der Frage nach einer Endo-, Peri- oder Myokarditis in eine Klinik einzuweisen. Eine Entzündung am Herzen? Mein neuer Hausarzt erklärte mir, dass man eine Herzmuskelentzündung gut behandeln könne. Wenn es eine sei, müsse man aber sofort etwas tun. Er sah die Situation zwar nicht als so bedrohlich, dass er einen Krankenwagen rufen würde, jedoch wäre es sinnvoll, wenn mich jemand aus der Praxis abholen und direkt in die Klinik fahren könnte. Während er die Einweisung ausstellte, telefonierte ich mit einem Freund.

    Eine Stunde später fuhren wir bei starkem Schneetreiben durch den Abend in Richtung Krankenhaus. Der Schnee fiel so heftig, dass wir in dem entstandenen Verkehrschaos im Berufsverkehr für nur zwölf Kilometer über eine Stunde benötigten und unterwegs mehr als einmal beinahe in den Gegenverkehr rutschten.

    „Sinustachykardie bis 120/min", stand auf der Einweisung. Was war eine Sinustachykardie? Ich hatte keinen blassen Schimmer und beschloss, mir den Begriff zu merken und nachzusehen, sobald ich wieder zu Hause war. Wir erreichten das Krankenhaus direkt hinter der Hamburger Stadtgrenze.

    Mir sackten fast die Beine weg, als ich aus dem Auto steigen wollte. Der Freund schimpfte, dass ich nicht gewartet hatte. Er schleppte mich mehr zum Eingang, als dass ich selbst lief. Mit roten beleuchteten Buchstaben, die durch das Schneetreiben nur diffus schimmerten, erschien das Wort Notaufnahme. Es muss etwa halb acht Uhr abends gewesen sein, als wir die Klinik betraten. Vor mir erhob sich ein großer Anmeldetresen, links davon ein Wartebereich, in dem sich etliche Menschen aufhielten. Die Mitarbeiterin der Aufnahme war freundlich und ich gab ihr die Einweisung meines Hausarztes. Zu viel mehr war ich nicht in der Lage. Der Tresen diente mir als Stütze. Ich konnte kaum sprechen und war so kurzatmig, dass mir immer wieder schwarz vor den Augen wurde, sobald ich etwas sagen wollte.

    Im Aufnahmezimmer schrieb man ein EKG, der Schnee an meinen Stiefeln taute, tropfte von meinen Füßen und bildete Pfützen auf dem Boden. Nachdem ich mich wieder aufsetzen durfte, wurde ich gefragt, ob ich das Gefühl hätte, gleich von der Liege zu kippen. Ja. Ich würde auch so aussehen. Die Mitarbeiterin begleitete mich in das Zimmer nebenan, das eigentlich als Reserve für Erstuntersuchungen vorgesehen war. Nun gehörte es mir. Der Freund blieb noch einen Moment, vergewisserte sich dann, dass ich versorgt war und musste dann los. Es war in Ordnung.

    Tief in der Nacht, es war etwa halb eins, wurde ich schließlich in ein Behandlungszimmer gerufen. Eine zunächst etwas ungeduldige Pflegerin kam nachsehen, warum ich so lange brauchte. Als sie mich erblickte, wurde ihre Stimme wärmer. Sie nahm mir meinen Rucksack ab und brachte mich zu dem Zimmer, das kurze Zeit später von der diensthabenden Ärztin betreten wurde. Leider war sie ähnlich gereizt, las in meinen Unterlagen und erklärte mir, dass dies kein Notfall sei, ich könne gehen. Die gewünschten Untersuchungen könne man auch alle ambulant machen. Wie meinte sie das, ich könne gehen? Es war nach Mitternacht, draußen herrschte Schneetreiben. Ich lag im Bett, fühlte mich fürchterlich schwach und sie wollte mich vor die Tür stellen? Ich sammelte mich und erklärte ihr so gut ich konnte, dass mein Hausarzt darauf bestanden hatte, ich möge noch am gleichen Abend in die Klinik fahren und mich stationär aufnehmen lassen. Es folgte ein kurzes Hin und Her. Ich blieb bei meiner Aussage. Schließlich teilte sie mir im mahnenden Ton mit, wenn sie mich nun aufnehmen würde, müsse ich sicherlich drei bis vier Tage bleiben und man dann „auch das volle Programm" durchführen würde. Womöglich dachte sie, ich würde nun aufspringen und mich ganz plötzlich viel besser fühlen, aber ich war einverstanden. Ich wollte das volle Programm. Damit hatte sie nicht gerechnet und sah mich etwas nachdenklich an. Sie wurde etwas netter. In den folgenden zwei Jahren sollte ich noch lernen, dass dieser eher harmlosen kleinen Diskussion noch ganz andere Erlebnisse in Notaufnahmen folgen würden. Sie verabschiedete sich von mir und wünschte mir alles Gute, als der Transportdienst mit einem Stationsbett kam.

    Als ich in meinem Bett die kardiologische Abteilung halb schlafend erreichte, wurde ich von zwei Krankenschwestern in Empfang genommen, hörte ein mitfühlendes „Ach Gott ..." und wurde in mein Zimmer gefahren. Die Pflegerin half mir,

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