Was Erwachsene von Kindern lernen können: Erziehung als Selbsterziehung
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Es ist ein Glück für die Kinder, Eltern zu haben, die sich verantwortlich um sie kümmern. Es ist aber auch ein großes Glück für die Eltern Kinder zu haben, die ihnen die Möglichkeit geben, ihre eigene Persönlichkeit weiter zu entwickeln, was wiederum ganz besonders den Kindern zugutekommt.
Die Erziehungssituation bietet auch für die Erzieher eine großartige Lernsituation, die wichtigsten Dinge im Leben zu lernen. Wir unterscheiden dabei verschiedene Qualitäten, die Kinder in ihrer Wesensart natürlicherweise in sich tragen. Kinder sind normalerweise offen, haben eine positive Einstellung zum Leben, sind vertrauensvoll, leben ganz im gegenwärtigen Augenblick, sind neugierig und kreativ, wollen Gutes tun und gute Menschen werden. Wenn Erwachsene diese Eigenschaften selbst entwickeln, tut das nicht nur ihnen selbst, sondern auch den Kindern, die sie erziehen wollen, gut.
Kinder lernen von den Erwachsenen weniger durch kluge Ermahnungen und moralische Forderungen als durch das, was diese ihnen vorleben. Insofern ist Erziehung immer Selbsterfahrung und Selbsterziehung. Selbsterfahrungsübungen wollen nicht nur gelesen, sie wollen praktiziert werden. Im zweiten Teil dieser Arbeit findet man praktische Übungen, mit deren Hilfe man diese Fähigkeiten trainieren kann. In diesem Sinn möchte die vorliegende Arbeit eine Hilfe sein.
Hans-Albrecht Zahn
Dipl.Psych. Hans-Albrecht Zahn studierte zunächst Lehramt mit den Schwerpunktfächern Mathematik und Geographie. Ein zweites Studium der Psychologie schloss sich an. Schon während des Studiums interessierte er sich besonders für philosophische und ethische Themen. Besonders die Frage wie man zu Erkenntnissen kommt, hatte es ihm angetan. So verbrachte er manche Stunde bei erkenntnistheoretischen Vorlesungen in der philosophischen Fakultät. Er arbeitete zunächst an einer Erziehungsberatungsstelle, dann als Psychologe in einem Heim für erziehungsschwierige Kinder. In seiner psychologischen Arbeit wandte er sich schwerpunktmäßig der humanistischen und transpersonalen Psychologie zu. Er absolvierte eine Ausbildung zum psychologischen Therapeuten in Psychosynthese am Psychosynthesehaus Allgäu Bodensee. Er bildete sich in Traumatherapie und der Therapie kindlicher Verhaltensstörungen fort. Er arbeitete zunächst an einer Erziehungsberatungsstelle als Psychologe. Dann unterichtete über einige Jahre als Klassenlehrer Kinder und Jugendliche. Als Lerntherapeuth behandelte er Kinder mit Legasthenie, Dyskalkulie und AD(H)S. In seiner psychologischen Praxis begleitete er als Psychotherapeut und spiritueller Begleiter auch Jugendliche und Erwachsene mit ihren Lebensproblemen.
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Was Erwachsene von Kindern lernen können - Hans-Albrecht Zahn
TEIL I
GRUNDLAGEN
1.1 DIE DREI QUELLEN DER ERZIEHUNG
Einstieg
Es gibt drei wichtige Gesichtspunkte in der Erziehung:
Erziehung als Welterkenntnis,
Erziehung als Menschenkenntnis,
Erziehung als Selbsterkenntnis.
Kinder wollen die Welt kennen lernen und die Erwachsenen müssen sie ihnen zeigen. Zur Bildung gehört Welterkenntnis. Dabei richtet man den Fokus auf das Wissen und die Erfahrung über die Welt. Das Lernen in unseren Bildungseinrichtungen (Kindergarten, Schule und Ausbildungsbetriebe) ist in erster Linie ein solcher Wissens- und Fähigkeitserwerb. Wenn man Erziehung unter dem Gesichtspunkt der Welterkenntnis anschaut, geht es besonders um die Inhalte des Lernens. Die Lerninhalte hängen von den Anschauungen ab, die sich die Lehrenden im Laufe ihres Lebens gebildet haben.
Es ist aber nicht nur das „Was, sondern auch das „Wie
des Lernens wichtig. Wenn man jemandem etwas beibringen will, dann geht man von bestimmten Vorstellungen aus, wie der Mensch lernt und was er lernen sollte. Ein Kleinkind lernt anders als ein Schulkind, ein Jugendlicher oder Erwachsener. Ein Choleriker lernt anders als ein Melancholiker und ein „mongoloides Kind lernt anders als ein sogenanntes „normales
Kind. Es ist also auch eine Kenntnis von der Unterschiedlichkeit der Menschen, also eine Menschenkenntnis oder Psychologie, nötig.
Schließlich lässt sich Erziehung noch unter dem Gesichtspunkt betrachten, dass nicht nur die Kinder von den Erwachsenen etwas lernen können, sondern auch die Erzieher von den Kindern. Dann betrachtet man Erziehung als eine Chance zur Selbsterziehung. Dieser Gesichtspunkt wird heute in den öffentlichen Einrichtungen noch wenig beachtet. Man wird als guter Lehrer angesehen, wenn man sein Fachgebiet beherrscht und pädagogische Psychologie kennt. Wenn der Lehrer oder Erzieher menschlich eine „Niete" ist, also seine eigene Persönlichkeitsentwicklung mangelhaft ist, wird dies oft für nicht so wichtig erachtet. Die typischen pädagogischen Unglücksfälle, in denen Kinder durch die Erziehung geschädigt oder traumatisiert werden, geschehen durch Erzieher, denen es selbst an menschlicher Reife mangelt. Die Entwicklung der Persönlichkeit des Erziehers ist durchaus ein wesentlicher Erziehungsfaktor.
An dieser Stelle setzt Erziehung als Selbsterziehung an. Zuvor wollen wir noch einen Blick auf die beiden anderen Quellen der Erziehung richten.
Erziehung als Welterkenntnis
Natürlich sollen die Kinder die Welt kennen lernen, in die sie hineingeboren wurden.
Die Menschheit hat im Laufe ihrer Geschichte ein großes Wissen über alle Lebensbereiche zusammengetragen. Es gibt ein handwerklich technisches Wissen, wie Häuser gebaut, Werkzeuge hergestellt und Landwirtschaft betrieben wird. Es gibt ein Wissen über die Natur, die Erde, den Himmel, die Pflanzen, die Tiere und die Steine. Man hat Erkenntnisse über die Vergangenheit, die Menschheitsgeschichte und die Erdgeschichte zusammengetragen. Es gibt auch ein Wissen über die inneren geistig-seelischen Erfahrungen der Menschheit, die in den Künsten, der Philosophie und der Religion zum Ausdruck kommt.
Nach dem Ende des Mittelalters wurden die Erkenntnisse der Menschheit nicht mehr auf einem religiösen, sondern auf einem naturwissenschaftlichen Hintergrund zum Ausdruck gebracht. Man unterscheidet wissenschaftliche Disziplinen wie Physik, Chemie, Biologie, Geographie, Ethnologie, Astrologie, Mineralogie, Geschichte, Philosophie, Religionswissenschaft, Literatur, Kunst, Mathematik, Geometrie usw.
Mit der naturwissenschaftlichen Methode untersucht man Funktionszusammenhänge, die auf äußeren Sinnesdaten beruhen. Sie schult den Menschen besonders im objektiven Wahrnehmen und sachlichen Urteilen und liefert Erkenntnisse über die materielle Außenseite der Welt.
Um etwas über die Innenseite der Welt zu erfahren, braucht man auch eine innerlich meditative Methodik. Diese ist mit dem künstlerischen Vorgehen verwandt. Sie ist auch auf die Natur anwendbar. So hat Goethe in seinen naturkundlichen Studien diesen Weg beschritten (goetheanistische Naturwissenschaft). Goethes Pflanzenkunde beruht nicht nur auf einer äußeren, sondern auch auf einer innerlich meditativen Betrachtung. Auf diese Weise lässt sich die äußere Erkenntnis vertiefen. Dann erhält man statt einer intellektuellen Zoologie eine Tierwesenskunde und statt einer intellektuellen Sprachwissenschaft eine Sprachkunst. Die Verhaltenspsychologie wird vertieft zu einer Erlebnispsychologie, usw.
Unabhängig davon, ob man den äußeren oder inneren Aspekt der Welt im Auge hat, besteht ein wesentlicher Teil der Bildung darin, die Welt kennen zu lernen. Eine Quelle der Erziehung ist die Welterkenntnis.
Erziehung als Menschenkenntnis
Der zweite Baustein der Erziehung beruht auf Menschenkenntnis. Im Umgang mit den Mitmenschen geht jeder von bestimmten Vorstellungen aus, wie Menschen denken, fühlen, wahrnehmen, lernen und empfinden. Man macht sich seine Psychologie und diese wird angewendet. Die Vorstellungen des Erziehers über den Menschen wirken sich unmittelbar auf seinen Umgang mit den Kindern aus.
Jeder Erzieher benutzt eine Psychologie. Dabei ist es gleichgültig, welcher Art diese sein mag. Es geht hierbei um die Entwicklung des Menschen, um unterschiedliche seelische Strukturen des Säuglings, Kleinkinds, Schulkinds, Jugendlichen und Erwachsenen. Man braucht auch eine Kenntnis von den verschiedenen menschlichen Konstitutionen (Temperamente, Typ, Charakter), eine Kenntnis über die Seelenfähigkeiten des Menschen, über seine Vorstellungen und Gedanken, Gefühle, Strebungen, Motive und Werte. Auch ein Wissen über seelische Auffälligkeiten, Lernfähigkeiten und Bewusstseinsfähigkeiten ist nötig.
Zu einer psychologischen Menschenkunde gehört auch eine Kenntnis über die historische und kosmische Entwicklung des Menschen. Wie stelle ich mich als zeitgenössischer Erzieher dazu? Solche Haltungen haben durchaus eine große Wirkung in der Erziehung. Es ist ein Unterschied, ob man den Menschen ausschließlich als einen „komplexen biochemischen Mechanismus oder als „ individuelles geistiges Wesen
anschaut.
Die Menschenkunde, die der Erzieher anwendet, hängt von seiner Welt- und Menschenanschauung ab. In einer umfassenden Menschenkunde geht man vom doppelten Ursprung des Menschen aus. Der Mensch hat einen geistigen und eine physischen Anteil. Man sollte auch etwas über die geistige Entwicklung des Menschen wissen, wenn man gut erziehen will.
Menschenkunde und Psychologie kann in wissenschaftlichdistanzierter oder menschlich verbindender Art betrieben werden. Jeder, der in der Erziehung tätig ist, kann spüren, wie hilfreich es ist, wenn ein Lehrer und Erzieher sich wirklich für die Kinder interessiert und nicht nur abstrakte, pädagogische Kenntnisse anwendet. Es ist eine Lernaufgabe für die Erwachsenen „in den Schuhen des anderen gehen" zu lernen. Es ist ein Wille nötig, sich mit dem Seelenleben anderer Menschen zu verbinden und am Leben eines anderen Menschen teilzuhaben. Der Begriff „Empathie" weist auf diese Aufgabe hin. Es ist eine Schulung des Mitvollzugs und der Teilhabe und weniger ein unbeteiligtes Konstatieren psychischer Mechanismen. Die große Kunst besteht darin, ein Gleichgewicht zwischen engagierter innerer Teilhabe und sachlicher Bewertung zu finden.
Normalerweise sind Eltern mit ihrem Kind innerlich verbunden, sie lieben es. Das ist eine wunderbare Gabe des Schicksals, dass man als Kind darauf vertrauen kann, so wie man ist, angenommen zu werden. Darauf beruht das so wichtige Urvertrauen, das sich am Beginn des Lebens heranbilden sollte. Die Gefahr dabei ist allerdings, dass der sachlich kritische Blick verloren geht und gefährliche Entwicklungen aus lauter „Liebe zum Kind" nicht gesehen werden. Gerade in schwierigen Situationen benötigt man auch den kritischen Blick des distanzierten Beobachters, der Funktionszusammenhänge sachlich wahrnehmen kann.
Man braucht Beides: eine „warme Herzenspsychologie und eine „kühle Kopfpsychologie
. Die distanzierte, funktionelle, wissenschaftliche Beobachterhaltung wird nur auf dem Hintergrund einer liebevoll, menschlich, verbindenden Haltung fruchtbar. Insofern ist eine liebevolle, mitfühlende Menschenkunde die Basis für alles andere.
Erziehung als Selbsterkenntnis
Was in der Erziehung Selbsterkenntnis und Selbsterziehung heißt, soll an folgendem Beispiel verdeutlicht werden.
Eingangsbeispiel: Der „weise" Mann
Eine Frau hatte einen Sohn der zuckerkrank war. Sie mahnte ihn immer wieder, er solle und dürfe keinen Zucker essen, aber es nützte alles nichts. Sie war schließlich ganz verzweifelt und ging zu einem weisen Mann, von dem ihr gesagt wurde, der könne sicher helfen.
Sie suchte mit ihrem Sohn diesen weisen Mann auf und sagte zu ihm: „Weiser Mann, mein Sohn ist zuckerkrank und isst trotzdem dauernd Zucker. Kannst du ihm nicht sagen, dass er keinen Zucker mehr essen soll? Der weise Mann sagte: „Komm in sechs Wochen wieder!
Die Frau ging und kam nach sechs Wochen wieder mit ihrem Sohn. Der weise Mann sagte zu dem Sohn: „Iss keinen Zucker mehr!", und seit dieser Zeit aß der Junge keinen Zucker mehr.
Nun möchten Sie gewiss das Gleiche wie die Frau wissen. Sie fragte nämlich den weisen Mann, warum er sechs Wochen gebraucht hätte, um ihrem Sohn zu sagen: „ Iss keinen Zucker mehr. Das sagte der weise Mann: „Ich habe selber so gerne Zucker gegessen und wollte erst schauen, ob ich das, was ich deinem Sohn sagte, auch selber schaffe. Dazu habe ich sechs Wochen gebraucht."
In der Erziehung wirkt man mehr durch seine Persönlichkeit als durch kluge Ratschläge. Bei jedem zwischenmenschlichen Konflikt kann erlebt werden: Wer seinen Mitmenschen direkt ändern will, wird wenig Erfolg haben. Wer dauernd darüber nachdenkt, was der Konfliktpartner doch bitte endlich anders machen sollte, wird in den meisten Fällen das Problem eher verschärfen, als lösen. Es gibt nur einen Ort, wo man mit einer Veränderung ansetzen kann: Das ist bei sich selbst.
Unser Schwerpunkt liegt darin, dass wir Erziehung als Selbsterziehung betrachten. Wir gehen davon aus, dass Kind und Erzieher Schicksalsgenossen sind, die das Leben zusammengeführt hat. Auf der menschlichen Ebene sind Kind und Erzieher gleichberechtigte Partner, die sich gegenseitig fördern oder hemmen können.
Die Positionen sind allerdings sehr verschieden. Der Erwachsene kennt sich auf der Erde gut aus. Er hat alle Macht und Gewalt in den Händen. Das Kind ist vollkommen von ihm abhängig. Alles, was es zum irdischen Leben und Überleben braucht, bekommt es von ihm: Essen, Kleidung, Wohnung, Spielzeug, Lernmaterial, Bildung usw. Das Kind kann vom Erwachsenen lernen, wie es auf der Erde zugeht.
Was kann der Erwachsene vom Kind lernen? Die Kinder kommen aus der geistigen Welt. Dort gelten andere Gesetze. Äußere Gewalt und Macht spielen hier keine Rolle. Da wird nur etwas verändert, wenn man sich innerlich öffnet für das, was auf einen zukommt.
Der Erwachsene, der sich innerlich verschließt, wird vom Kind gar nichts lernen können, sondern im besten Fall das kindliche Verhalten als störend empfinden.
Die wechselseitige Erziehung von Kindern und Eltern besteht darin, dass die Erwachsenen die Kinder lehren, wie es auf der „Erde zugeht und die Kinder die Erwachsenen lehren können, wie es im „Himmel
zugeht.
In der spirituellen und religiösen Literatur wird immer wieder auf diese Qualität des kindlichen Wesens hingewiesen. Christus sagt: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Reich der Himmel hineinkommen."
Die Art, wie Kinder und Erwachsene sich gegenseitig belehren und lernen, ist sehr verschieden. Die Erwachsenen belehren die Kinder aus ihren Vorstellungen und ihrem Wissen heraus. Das Kulturgut der Menschheit wird als traditionelles Wissen gezielt weitergegeben. Man bringt den Kindern bewusst bei, was sie alles wissen und können sollen, damit sie auf der Erde zurechtkommen. Es ist eine Art bewusstes „Lehrplanlernen", in dem verschiedene Fähigkeiten und Fertigkeiten angeeignet werden sollen.
Die Erwachsenen müssen von den Kindern anders lernen. Es ist eine Art Schicksalslernen. Das Leben des Kindes selbst oder auch seine speziellen Eigenarten sind das Lernmaterial. Die Kinder belehren die Erwachsenen durch ihr