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Sehnsucht nach Pascasio
Sehnsucht nach Pascasio
Sehnsucht nach Pascasio
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Sehnsucht nach Pascasio

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About this ebook

Der vierjährige Wolfi lebt glücklich mit seinem sechsjährigen Bruder Roni, seiner deutschen Mutter und seinem spanischen Vater, dem Journalisten Pascasio, in Berlin. Doch an dem Tag, an dem Hitlers Truppen in Polen einmarschieren, stürzt Pascasio in die Wohnung, verbrennt seine Papiere, verlässt die junge Familie und bricht jeden Kontakt ab. Dieses traumatische Ereignis beeinflusst das Leben der kleinen Jungen. Sie werden während des Weltkriegs von ihrer Mutter getrennt. Nach den Schrecken des Krieges, macht sich Wolfi, inzwischen ein junger Mann, daran, das Geheimnis des mysteriösen Ereignisses zu lösen. Warum ist Pascasio geflüchtet? Was ist mit ihm passiert? Die Suche nach einer Antwort führt zu einem Kampf mit Hoffnung, Misstrauen, Enttäuschung und schockierenden Entdeckungen, die Wolfi durch Francos Spanien, Castros Kuba und die abgelegenen Kanarischen Inseln führen. Diese Geschichte, die sich wie ein Krimi liest, verwickelt ihn in Spionageaktionen, sowie unabsichtlich in eine Verschwörung zur Sprengung der Freiheitsstatue. In Kuba fordert ihn Fidel Castro persönlich zu einem Tischtennisspiel um die Insel heraus. Diese faszinierende und zutiefst persönliche Geschichte stellt einige der wichtigsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts gegenüber. Auf der Suche nach dem Vater entdeckt der Sohn Geheimnisse, die über Generationen hinweg schmerzhafte Spuren hinterlassen haben. Während der kleine Wolfi durch das Verschwinden seines Vaters anfänglich erschüttert ist, zeigt seine Suche, dass dieser Moment für den Mann, zu dem er geworden ist, von zentraler Bedeutung ist. (KIRKUS REVIEWS — New York: "A unique, often marvelous memoir of discovery." ("Eine einzigartige, oft wunderbare Entdeckungsreise.")
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateDec 21, 2021
ISBN9783347317802
Sehnsucht nach Pascasio

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    Book preview

    Sehnsucht nach Pascasio - Herminio Schmidt

    EBook-Cover

    Inhaltsverzeichnis

    Wer war Pascasio?

    Leserstimmen

    Personen

    1939–1942, Berlin

    1942–1945, Polen

    1945, Die Russen kommen

    1945, Die Russen

    1945, Vertreibung – Flucht nach Berlin

    1945–1948, Klara & Pascasio

    1948–1953

    1954, Auf nach Spanien

    1955, Reise durch Spanien

    1955, Spanien

    1958, Kanada

    1959, Kuba

    1962, Mittelamerika

    1962, Pascasio in Panama?

    1962–1964, Kanada

    1964, Kuba

    1964–1965, Zurück in Toronto

    1965–1975

    1975–1984

    1984, Madrid

    1984, La Gomera

    2000, Hermigua, La Gomera

    Der Autor

    Danksagung

    Titelei

    Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

    tredition GmbH

    Halenreie 40–44

    22359 Hamburg

    www.tredition.de

    Copyright © 2021, Herminio Schmidt · www.herminioschmidt.com

    2021 – 1. Auflage

    Lektorat: Büchermacherei · www.buechermacherei.de

    Satz & Layout / e-Book: Büchermacherei · www.buechermacherei.de

    Cover: OOOGRAFIK · www.ooografik.de

    Bildquellen: Privatbesitz des Autors

    Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice", Halenreie 40–44, 22359 Hamburg, Deutschland.

    ISBN Softcover: 978-3-347-31778-9

    ISBN E-Book: 978-3-347-31780-2

    Die englische Ausgabe erschien 2018 und 2020 in Kanada.

    Titel: FINDING PASCASIO – ISBN: 978-1-5255-2466-0

    Wer war Pascasio?

    Pascasio Trujillo Sarmiento wurde 1899 auf der kleinen Insel La Gomera, einer der Kanarischen Inseln, geboren. Er reiste weit durch Europa und gründete Ende der 1920er Jahre das spanischsprachige Pressebüro Servicios Periodísticos in Berlin. Dort bot ihm die kürzlich gewählte faschistische Regierung Anfang der 1930er Jahre die Möglichkeit, seine Nachrichtenagentur zu erweitern. Er konnte nun über Deutschlandsender III seine wöchentlichen Radiokommentare in die Welt senden. In dieser neuen Anlage wurde von Berlin aus ein starker Kurzwellensender betrieben.

    Durch seine Medienarbeit wurde Pascasio im spanischsprachigen Raum weltweit bekannt und von der deutschen Regierung wohlwollend unterstützt. Im Jahr 1939 erreichte Pascasio seinen publizistischen Höhepunkt, um dann spurlos zu verschwinden. Er hinterließ zwei kleine Kinder und ihre deutsche Mutter.

    Auf den Kanarischen Inseln wurde er posthum vom Schriftsteller Daniel María gelobt, der ihn für „eine der wichtigsten Persönlichkeiten nicht nur auf den Kanarischen Inseln, sondern auch international" hielt. Kürzlich ehrte auch Nura Niebla, Stadträtin für Kultur und Bildung auf La Gomera, Pascasio mit den Worten: „Pascasio hat in seinem Leben sowohl den Nazismus in Deutschland als auch die faschistische Unterdrückung Francos in Spanien erlebt. Pascasio war ein Schriftsteller, ein international renommierter Radiokommentator und ein begeisterter Befürworter der Wiederaufforstung. Er interessierte sich für die okkulten Wissenschaften und war Mitbegründer von Filii Christi, der in den 1920er Jahren auf La Gomera gegründeten Theosophischen Gesellschaft."

    Leserstimmen

    „Ich war schnell vom Schreibstil angezogen und fand die Erlebnisse unglaublich fesselnd. Ein ungewöhnlicher Pageturner, den ich nicht so leicht aus der Hand legen konnte. Ihre Geschichte ist eine unglaubliche Reise, die Sie erleben durften, eine außergewöhnliche Reise, die Sie zu einem Menschen gemacht hat, der das Leben in vollen Zügen genießt. Das Buch hat das Potenzial, ein Verkaufserfolg zu werden. Mir scheint, dass eine deutsche Ausgabe in Deutschland auf großes Interesse stoßen würde und möglicherweise eine spanische Ausgabe in Spanien. Ich gratuliere Ihnen von ganzem Herzen, nicht nur zu einem großartigen Buch, sondern auch dazu, dass Sie eine so ungewöhnliche Lebensreise so offen und ehrlich mit dem Leser teilen."

    Prof. Dr. Hart Bezner

    Strich

    „Ein faszinierender Bericht über ein unglaublich erfülltes Leben! Herr Schmidt erzählt seine Geschichte vom Leben durch den Zweiten Weltkrieg in Berlin, aber er schützt den Leser vor dem wahren Entsetzen dessen, was er erlebt hat, indem er seine Geschichte mit den Augen eines unschuldigen Kindes erzählt."

    Gail H

    Strich

    „Was für ein wunderbares Buch! Ich war von Ihrem Buch sehr angetan. Ich denke, viele Leser würden vieles lernen und das Lesen genießen. Was für eine tolle Lektüre. Ich konnte [das Buch] nicht weglegen. Und was für ein interessantes Leben Sie hatten."

    Marilyn H.

    Strich

    „Ich habe dieses Buch sehr genossen. Ich bin ein Geschichtsliebhaber und es war faszinierend, vom 2. Weltkrieg aus den Augen eines Kindes zu lesen. Obwohl es viele Abschnitte dieses Buches gab, die ich sehr interessant fand, finde ich es am bewegendsten, wie verheerend es ist, wenn ein Kind von einem Elternteil verlassen wird. Ich wusste nicht, was für eine lebenslange Wirkung es auf jemanden hat. Ich werde dieses Buch weiterhin meinen Freunden empfehlen."

    Vivian P

    Strich

    „Ich habe Herminios Buch Finding Pascasio gekauft und gelesen und schätze es sehr – Herminio ist ein guter Autor und die Geschichte ist ein Drama auf mehr als einer Ebene."

    Janice Mc

    Strich

    Lesen Sie mehr und/oder kontaktieren Sie

    den Autor unter www.herminioschmidt.com

    Personen

    DEUTSCHLAND

    Die Familie Schmidt:

    Klara, die Mutter

    Roni, der ältere Sohn

    Wolfgang (Wolfi) Herminio, der jüngere Sohn

    Pascasio, Vater von Roni und Herminio

    Onkel Fritz, Bruder von Klara

    Tante Trudi, Cousine von Klara

    Lehrer in Berlin:

    Herr Rohloff – Klasse 1 und 4

    Herr Richter – Klasse 9

    Herr Hahneberg, Ingenieur bei der Firma Liehr

    Herr Liehr, Inhaber der Firma Liehr

    Karl, Pfadfinderfreund

    Peter, Freund von Herminio

    POLEN (von Deutschland besetzt)

    Sommer, deutsch-polnische Gastfamilie:

    Tante Sommer, Tochter Elli und Sohn Alfred

    Fräulein Friedrich, Lehrerin in Turek

    Josef, bessarabiendeutscher Schüler

    SPANIEN

    Anneliese, ehemalige deutsche Sekretärin von Pascasio

    Señor González, spanischer Ingenieur bei der AEG Madrid

    Werner, in Spanien lebender deutscher Ingenieur, der für die AEG arbeitet

    Flora Espinosa, eine Witwe in Madrid

    KUBA

    Abuela Ana, Pascasios Mutter

    Miguelina, Tochter von Ana

    Vicente, Sohn von Ana

    Fidel Castro, Ministerpräsident von Kuba

    KANADA

    Pastor Rüger, Deutsche Kirche in Toronto

    Dr. Lautenschlager, Präsident des Universitätskollegs in Sudbury

    Michèle, Studentin aus Quebec

    Gérard, Student aus Quebec

    LA GOMERA, Kanarische Inseln

    Francisco Trujillo, Pascasios Vater

    Señor Vicente Bencomo, Franciscos Hafenmanager

    Miguel, Cousin von Pascasio

    Maruca, Cousine von Herminio und Familienhistorikerin

    Map

    1939 – 1942,

    Berlin

    1 April 1939 – Ein besonderer Geburtstag

    Ich sehnte mich immer nach meinem Vater. Wir nannten ihn bei seinem Vornamen Pascasio, vielleicht weil er kein Vater war, wie andere Kinder ihn hatten, ein Vater, der mit seinen Kindern und ihrer Mutter lebte. Ich weiß nicht mehr viel über die ersten Tage, an denen er bei uns war. Mein Bruder Roni, zwei Jahre älter als ich, wusste, dass Pascasio meist nach Einbruch der Dunkelheit kam. Hauptsächlich erinnere ich mich an seine Abwesenheit, in der Mutter die Wohnzimmermöbel umräumte.

    Obwohl ich damals erst knapp vier Jahre alt war, haben sich mir einige Ereignisse ins Gedächtnis gebrannt. Der 20. April 1939: Ich werde nie vergessen, wie ich an diesem Morgen aufwachte. Das Radio spielte die Nationalhymne, gefolgt von der Ankündigung einer großen Parade. Es sollte das größte Fest in Berlin werden. Wir wollten es nicht verpassen.

    Roni und ich sprangen aus dem Bett, reckten unsere Hälse, um über die Fensterbank zu schauen. Die meist langweilige Straße überraschte uns mit festlichen Farben. Aus jedem Fenster hingen rote Fahnen, die jeweils den weißen Kreis mit dem schwarzen Hakenkreuz in der Mitte zeigten.

    „Mutti, komm schnell!", rief ich und hoffte, dass sie mich hochheben würde, damit ich besser sehen könnte.

    „Warum haben wir keine Fahne?", beschwerte sich Roni, als sie das Zimmer betrat.

    „Oh, sagte Mutter und schaute durch das Fenster auf die Straße. „Oh, ja. Ich habe es ganz vergessen. Ja, ja, wir müssen eine raushängen. Sonst denken die Nachbarn, wir mögen den Führer nicht. Ihre Stimme klang anders als sonst. Sie entfaltete schnell das Fahnentuch und befestigte es an der Fensterbank. „Es ist der fünfzigste Geburtstag des Führers", fügte sie hinzu.

    Später am selben Tag schickte Mutter uns im Sonntagsanzug zu unseren Nachbarn Schulze. Sie erzählte uns, dass Pascasio mit der Arbeit beschäftigt war und Herr Schulze angeboten hatte, Roni und mich mit zur Siegesallee zur großen Parade zu nehmen. Seine Söhne, der vierzehnjährige Siegfried und der fünfjährige Peter, kamen ebenfalls mit. Unsere Mütter sagten, sie seien zu beschäftigt, und blieben zu Hause.

    Ich mochte Herrn Schulze. Er bezog mich oft mit ein, wenn er mit seinen Söhnen spielte. Pascasio spielte nie mit uns. Siegfried war auch nett zu mir. Wenn mich auf der Straße andere Jungen schikanierten, kam er mir zur Hilfe. Das hat mich stolz gemacht. Siegfried war so viel älter als ich, aber ich war seiner Freundschaft würdig.

    Herr Schulze, der humpelte, sagte uns, dass Zehntausende Menschen auf der Straße sein würden, um die Parade zu sehen, und wir besser loslegen sollten. Während Roni und Siegfried aufgeregt plauderten, spekulierten Peter und ich, wie so viele Menschen in die Straßenbahn und U-Bahn passen würden. So viele Berliner strömten zur Parade!

    Es war nicht mein erster Besuch auf der Siegesallee; einmal fuhr Pascasio Roni und mich mit seinem neuen Opel Olympia über die breite Allee. Wir beobachteten mit Erstaunen, wie der Doppeldeckerbus vor uns durch das Brandenburger Tor fuhr. Pascasio folgte dem Bus die Siegesallee entlang und um den großen Kreisverkehr herum, damit wir einen guten Blick auf die Siegessäule hatten. Ganz oben auf der hohen Säule streckte sich ein beeindruckender Engel, dessen goldene Flügel sich sieben Meter über der Straße ausbreiteten. Gemeinsam stiegen Roni und ich die zweihundertfünfundachtzig Stufen der steilen, spiralförmigen Treppe im Inneren der Säule hinauf. Mein Bruder war viel schneller, aber ich war stolz, dass ich es bis oben schaffte.

    Mein Freund Peter war noch nie die Treppe hinaufgestiegen. In der überfüllten U-Bahn beschrieb ich den Blick von oben.

    „Der Führer hat den Turm verlegt. Und er hat ihn noch größer gemacht! Er ist jetzt siebzig Meter hoch", sagte ich und versuchte, ihn mit Wissen zu beeindrucken, das ich von meinem Bruder Roni hatte.

    „Hast du keine Angst von da oben herunterzufallen?", fragte Peter.

    „Nein, mischte sich Roni ein. „Und von oben sieht man in alle Richtungen bis hinunter zu den zweihunderttausend Bäumen im Tiergarten.

    Ich war erleichtert, als Roni sich Siegfried zuwandte und mich mit Peter sprechen ließ. Ich sagte Peter, wenn er mit mir nach oben steigen würde, hätten wir den besten Blick auf die Parade. Wir wetteten, wer gewinnen würde. Die U-Bahn ratterte näher an unser Ziel.

    „Vati, können wir auf die Siegessäule gehen?", fragte Peter.

    „Heute nicht, sie ist wegen der Parade geschlossen", antwortete Herr Schulze.

    Als wir aus der U-Bahn kamen, lag Spannung in der Luft. Wir schlossen uns den Tausenden Menschen an, die die Paradestrecke säumten. Alle blickten auf das Brandenburger Tor in Erwartung der Ankunft Hitlers. Wir sahen Soldaten in Uniform und es gab Zuschauer, soweit wir sehen konnten. Polizisten in braunen Hemden mit schwarzen Leder-Schulterträgern standen auf jeder Seite der Straße. Lange Zeit kam kein Auto. Ich wurde ungeduldig, weil ich nicht über die großen Menschen sehen konnte.

    Plötzlich schrie jemand: „Der Führer! Der Führer!"

    Herr Schulze hob mich auf seine Schultern. Siegfried nahm seinen kleinen Bruder hoch.

    „Der Führer! Der Führer! Als die lange Reihe von Autos durch das Brandenburger Tor kam und sich langsam auf der Siegesallee bewegte, reckten alle die Hälse. Die rechten Arme schossen hoch zum Gruß. Mit meiner winzigen linken Hand hielt ich mich an Herrn Schulzes Stirn fest und hob meinen rechten Arm. Es fühlte sich toll an, in der Menge zu sein, mitten im sich wiederholenden Gebrüll: „Heil Hitler! Heil Hitler!

    Herr Schulze zeigte auf einen schwarzen Mercedes mit seitlich montiertem Reserverad und einer langen Motorhaube. Dann zeigte er auf dessen berühmten Beifahrer Adolf Hitler, der mit ausgestrecktem Arm uns alle beim Vorbeifahren grüßte. Der Führer trug eine braune Uniform und eine große Schirmmütze, die seine Augen fast bedeckte. Ich konnte sein Gesicht kaum sehen. Ich fragte Herrn Schulze, warum die Schirmmütze des Führers so groß war. Herr Schulze nahm mich von seiner Schulter, als die Leute ihren Blick auf die vorbeifahrenden Autos richteten und flüsterte leise: „Das ist zu seinem Schutz."

    Ich wollte wissen, warum, aber Herr Schulze hob mich wieder hoch.

    Die Leute um uns herum zeigten auf das Brandenburger Tor. Eine unendliche Formation Soldaten marschierte durch die fünf Öffnungen und füllte alle acht Fahrstreifen. Sie hielten vor der Tribüne an, um Hitler zu grüßen.

    Nach den Fußsoldaten kam ein großer Umzug von Reitern. Die Pferde waren viel geschmeidiger und kräftiger als die Arbeitspferde von Onkel Fritz und viel schöner, als ich je gesehen hatte. Ich war fasziniert, als Hunderte von ihnen im perfekten Rhythmus zu Trommeln, Trompeten, Zimbeln und Glockenspiel trabten. Als Nächstes folgten Motorräder mit Beiwagen, gefolgt von Lastwagen, Panzern und Kanonen. Es gab viele Reporter, alle mit mehreren Kameras um den Hals. Ich fragte mich, ob Pascasio unter ihnen war.

    Die Prozession schien ewig zu dauern. Fahnen und Wimpel flatterten. Marschmusik erklang und Posaunen brüllten. Es tat meinen Ohren weh. Plötzlich donnerte ein gewaltiger Lärm über uns. Eine große Formation Flugzeuge. Ich wollte zu meiner Mutter. Peter und ich wurden müde. Als Herr Schulze uns kurz darauf ablieferte, war Mutter erleichtert.

    2 Die Kubaner kommen

    Am folgenden Sonntag hatten wir eines der wenigen gemütlichen Frühstücke mit Pascasio in unserer Wohnung. Er war begeistert von Hitlers Geburtstagsparade. „Fünfzigtausend Soldaten! Was für eine erhebende Darstellung der gewaltigen deutschen Streitmacht. Besonders nach der verheerenden Depression des Weltkriegs. Es wird einen großen Eindruck hinterlassen und weltweit werden Zeitungen berichten. Andere Länder werden den Erfolg Deutschlands bewundern und einige werden besorgt sein. Deutschland kann stolz sein: Die Leute arbeiten. Sie haben zu essen. Das Land blüht auf."

    Ich dachte, dass der Führer von seiner großen Geburtstagsfeier und den tollen Pferden begeistert gewesen sein muss. Mutter schien unsere Begeisterung allerdings nicht zu teilen.

    Dann überraschte uns Pascasio. Er sagte, dass wir bald in ein großes Haus in einem anderen Teil Berlins ziehen würden, um mit seiner kubanischen Mutter Ana Sarmiento zusammenzuleben. Wir sollten sie Abuela nennen, spanisch für Großmutter. Er sagte, seine Schwester, Tante Miguelina, und sein Bruder, Onkel Vicente, würden auch von Kuba herkommen.

    Ich sprang auf und ab. „Ich mag Abuela."

    Wir hatten unsere kubanische Abuela noch nie getroffen, wir kannten nur unsere deutsche Oma. Aber ‚Abuela‘ klang so exotisch.

    Ich wollte, dass Pascasio uns zu Abuelas Haus fährt, damit wir beim Packen helfen konnten.

    Mutter lachte und erklärte: „Abuela Ana lebt sehr weit weg auf einer Insel, die von tiefem Wasser umgeben ist. Die Insel heißt Kuba."

    Roni protestierte: „Pascasio, du hast uns gesagt, dass du auf La Gomera aufgewachsen bist."

    Ich kannte keinen dieser Orte.

    „Das stimmt, sagte Pascasio. „Ich wurde auf La Gomera geboren, aber als ich dreizehn war, zog ich mit deiner Abuela nach Kuba.

    „Er musste mit einem großen Schiff nach Deutschland kommen", erklärte Mutter.

    Wir erfuhren, dass Pascasio dafür gesorgt hatte, dass seine kubanische Familie ein Kreuzfahrtschiff von Havanna nach Hamburg nehmen würde. Sie würden in ein paar Monaten eintreffen. Pascasio hatte eine passende Villa in Dahlem, einem schicken Berliner Stadtteil, für uns alle gefunden.

    „Die Villa hat einen großen Garten, so elegant", sagte Mutter. Sie schien glücklich zu sein beim Gedanken, in einer so noblen Gegend zu leben – wenn auch nicht darüber, das Haus mit Pascasios Familie zu teilen. Unsere Abuela sprach kein Deutsch und Mutter verstand kein Spanisch.

    Für mich klang alles exotisch. Selbst Mutters Zögern dämpfte meine Freude nicht. Roni und ich entschuldigten uns, um mit unseren kleinen Spielzeugautos von Opel zu spielen. Unsere Eltern planten die Zukunft.

    Bild1

    3 Flucht aus Berlin

    Wir wohnten damals in einer Wohnung im ersten Stock in der Petersallee 13 im Norden Berlins. Es war ein ungewöhnlich warmer Tag, früh im September. Helle Sonnenstrahlen schienen durch das offene Fenster bis zum Fuß des Wohnzimmertischs. Durch das geöffnete Fenster hörten wir Kinderstimmen und Gelächter und gelegentlich das Schnurren eines Autos. Mutter summte eine Melodie beim Kaffee kochen. Das Aroma füllte die Wohnung. Ich liebte den Duft, weil Mutti immer glücklich war, wenn sie Kaffee für Pascasio braute. Er mochte ihn stark.

    „Kinder, legt eure Spielsachen weg, Pascasio wird jeden Moment hier sein", sagte sie, als sie die Thermosflasche füllte. Er hatte versprochen, uns heute mit seinem neuen Opel Olympia zu kutschieren. Das war etwas Besonderes für uns, weil er immer so beschäftigt war.

    Während wir auf Pascasio warteten, spielten Roni und ich mit unseren glänzenden Spielzeugautos im Schatten unter dem Tisch. Es waren kleine Opel Olympias, die Pascasio uns geschenkt hatte. Ich stellte mir vor, in seinem echten Olympia in den Grunewald zu einem Picknick oder für ein Eis in einem Gartenrestaurant an der Havel zu fahren.

    „Wann fahren wir?", fragte ich von unter dem Tisch. Roni und ich freuten uns schon darauf, im Auto unseres Vaters zu fahren, wir würden jedes vorbeifahrende Fahrzeug zählen. Roni beanspruchte immer den Sitz hinter Pascasio. Wir würden auf dem Rücksitz von einer Seite zur anderen hüpfen und die Fußgänger beobachten, wie sie den neuen Olympia von Pascasio bewunderten. Pascasio gab immer Kommentare zu Gebäuden und Landschaft. Er war in Details vertieft und schien mit seiner Wahlheimat zufrieden zu sein.

    „Pascasio ist so stolz auf Deutschland, sagte Mutter. „Das ist seine Welt, sein Erfolg.

    Damals wusste ich nicht, was ‚Erfolg‘ bedeutet, aber ihre Freude war ansteckend.

    „Brumm, brumm, brumm", imitierte ich Roni, der den Verkehr unter dem Tisch kontrollierte. Ich parkte mein Auto genau dort, wo die Sonne auf den Schatten traf.

    „Nein! Nein!, rief Roni. „Park es im Schatten. In einer Garage scheint keine Sonne.

    „Ich will aber Sonne."

    Er schnappte mein Spielzeug und stellte es neben seins in den Schatten.

    „Nein!" Ich weinte und nahm mein Auto zurück. Ich wollte mein Auto in der Sonne funkeln sehen. Roni versuchte, es wieder zu greifen. Plötzlich hörten wir ein seltsames Bum, Bum, Bum, Bum. Seine Hand erstarrte in der Luft und wir sahen erschrocken von unseren Autos auf.

    „Donner!", bemerkte ich.

    „Dummkopf!, korrigierte mein Bruder. „Jemand rennt die Treppe hoch. Er kroch unter dem Tisch hervor.

    In diesem Moment schlug die Tür auf und Pascasio stürmte in die Wohnung.

    „Um Himmels willen", schrie Mutter.

    Nach all den Jahren ist diese Szene in meinem Kopf immer noch fest verankert. Von unter dem Tisch aus konnte ich die polierten braunen Schuhe meines Vaters an mir vorbeirennen sehen. Pascasio zog sonst immer die Schuhe an der Tür aus und wir hatten ihn noch nie so schnell laufen sehen. Er war immer ruhig.

    „Schnell! Pack ein paar Sachen für die Kinder. Wir müssen aus Deutschland raus."

    „Warum? Was ist passiert? Mutter war überrascht. „Wohin?

    Sie folgte ihm von einem Zimmer ins andere. Ich hörte, wie Schubladen auf und zu gezogen wurden und dann Mutters panische Frage: „Was machst du da?"

    Pascasio drängte sie immer wieder, Sachen für die Kinder zu packen. „Wir müssen sofort los", wiederholte er. Dann zog er die knarrende Stahltür des Kachelofens auf. Warum heizte er den Kachelofen an einem so heißen Tag wie diesem? Roni weinte. Das machte mir Angst und da weinte ich auch. Pascasio stopfte verzweifelt Papiere ins Feuer. Ich kroch zurück unter den Tisch. Mutter war in Tränen aufgelöst.

    „Wir müssen Deutschland sofort verlassen", drängte Pascasio.

    „Gestapo!, hörte ich meine Mutter sagen, aber ich wusste nicht, was sie meinte. „Oh mein Gott! Ich wusste, dass es so weit kommen würde! Ich wusste es! Ich habe es dir oft genug gesagt: Lass dich nicht mit denen ein!

    „Ich erkläre es später."

    „Wohin?"

    „Beeil dich! Wir haben keine Zeit. Sie könnten mich für immer festhalten. Uns alle."

    „Ich wusste es. Früher oder später. Ich habe es dir gesagt", schrie Mutter, als sie mit ihrer Reisetasche hantierte. Sie eilte von einem Zimmer ins andere.

    Die Panik in ihrer Stimme ließ uns laut weinen.

    „Was ist los?" Wegen meiner Tränen sah alles neblig aus. Der bittere Duft von verbranntem Kaffee auf dem Herd stieg in meine Nase. Ich hatte Angst und konnte die wirkliche Gefahr nicht verstehen. Die Aufregung brachte mich durcheinander. Ich dachte, wir würden mit dem Auto zu einem Abenteuer fahren.

    Vom Türrahmen aus beobachtete Roni das Chaos. Ich blieb unter dem Tisch. Mein kleines Auto stand jetzt im Schatten – das verwirrte mich. Hatte Roni es verschoben?

    „Wohin gehen wir?, wiederholte Mutter immer wieder. „Nach Spanien?

    „Raus aus Deutschland." Pascasio klang irritiert.

    „Was soll ich mitnehmen?"

    Pascasio schlug die Eisentür des Kachelofens zu und schrie: „Nichts! Wir müssen sofort los! Wir müssen raus, schnell!"

    4 Ein unerfülltes Versprechen

    Ich werde den Geruch von verbranntem Kaffee nie vergessen. Ich hatte meine Mutter noch nie so aufgeregt gesehen. Etwas stimmte nicht. Ich fragte mich, was unser Vater im Ofen verbrannt hatte. Unser Kachelofen war ein energiesparender Ofen, wie er damals in vielen Haushalten verbreitet war. In den dreißiger Jahren hatte jedes Zimmer in unserer Wohnung einen Kachelofen. Mutter hat die Wohnung im Winter mit drei Briketts geheizt. Das reichte aus, um das Zimmer den ganzen Tag und Abend über gemütlich warm zu halten. An heißen Tagen wie diesem hatten wir den Kachelofen noch nie geheizt.

    „Ich kann nicht." Meine Mutter blieb stehen und hielt unsere Pyjamas in ihrer Hand. Sie forderte Pascasio auf, ohne uns zu gehen.

    Er rief sie zu sich und drängte sie mitzukommen. Sie stand regungslos da.

    Ich hörte Pascasio sagen, dass er zu uns zurückkommen würde. Er rannte die Treppe hinunter, ohne zurückzublicken.

    „Ich wusste, dass es so weit kommen würde, rief Mutter die Treppe hinunter, dabei hielt sie mich fest. „Ich wusste es, schluchzte sie und streichelte die Haare meines Bruders.

    „Ich will mit, wimmerte ich, „ich will! Und ich stampfte mit dem Fuß. „Ich will mitfahren, schrie ich wieder und warf mein Spielzeugauto auf den Boden. „Warum nimmt er mich nicht mit? Er hat es versprochen. Er hat es versprochen! Es war ein ertrinkender Schrei.

    Meine Stimme war von Tränen erstickt. „Ich will mit ihm gehen!" Hatte meine Mutter Pascasio weggejagt? Ich war mir sicher, dass sie etwas mit seiner Flucht zu tun hatte.

    Dieser Freitagmorgen hat mich verändert. Die meiste Zeit meines Lebens suchte ich nach einer Antwort. Ich wollte meinen Vater zurückhaben. Selbst heute noch höre ich immer noch Pascasio die Treppe herunterrennen, zwei, drei Stufen auf einmal nehmend.

    Pascasio rannte über die Straße zu seinem geparkten Auto. Mutti und Roni winkten aus unserem Fenster im ersten Stock. Ich stand auf Zehenspitzen und reckte meinen Hals. Pascasio drehte sich ein letztes Mal um, winkte zum Abschied und schlug eilig die Autotür zu. Ich drehte mich vom Fenster weg und starrte auf den Tisch. Die Thermosflasche mit dem Kaffee stand noch da. Ich schrie. Mutter hielt mich in ihren Armen.

    „Ich hasse dich, schrie ich. „Warum hast du meinen Pascasio weggeschickt? Ich dachte, Mutter wolle ihm die Thermosflasche nicht geben und deshalb verließe er uns. Mit meinen kleinen Fäusten hämmerte ich ihr in die Seite. „Ich hasse dich! Ich hasse dich", schrie ich verwirrt. Vielleicht war es gar nicht die Thermosflasche. Vielleicht hatte ich etwas falsch gemacht.

    Auch Roni hatte Tränen in den Augen. Roni war normalerweise so logisch. Aber er war auch wütend und rief: „Ich will ihn nie wieder sehen. Nie wieder."

    „Wird er zurückkommen?, schluchzte ich in Mutters Schürze. „Wann wird er zurückkommen?

    Sie antwortete nicht.

    „Er hat es versprochen", schluchzte ich.

    Sie umarmte uns nur. Ich fühlte mich verraten. Ich konnte es nicht verstehen.

    „Er hat es versprochen", wiederholte ich.

    „Geht Pascasio zu seiner Mutter nach Kuba?", wollte Roni wissen.

    „Kommt Abuela immer noch zu uns?" Aus irgendeinem Grund wollte ich meine kubanische Großmutter jetzt dringend haben. Vielleicht würde sie Pascasio zurückbringen.

    An diesem Septembertag und für viele Jahre danach machte nichts mehr Sinn. Warum war Pascasio nicht zurückgekommen, um uns zu holen? Ich war zu klein, um zu verstehen, wie viele Geheimnisse mein Vater mit sich nahm, als er die Treppe hinunterrannte.

    5 Pascasios Schuhe

    Nachdem Pascasio uns verlassen hatte, bemerkten wir kleine Veränderungen. Früher hörte ich gern, wenn Mutter mich ‚Wolfi‘ nannte. Das war ein Kosename für Wolfgang. Nach Pascasios Flucht erinnerte mich der Name an das Verschwinden meines Vaters.

    In den ersten Wochen und Monaten besuchte mich Pascasio nachts in meinen Träumen. In einem eilte er auf mich zu. Vor Freude trat ich von einem Fuß auf den anderen und erwartete seine warme Umarmung. Dann hörte ich ihn sagen: „Beeil dich, geh, schnell!" Er wusste, dass ich jedes Mal, wenn ich aufgeregt war, dringend pinkeln musste. Während ich den Toilettendeckel hob, spritzte der Strahl überall hin, bis ich ihn endlich auf die Mitte des Beckens richten konnte. Was für eine Erleichterung! Aber dann begann alles zu verschwimmen. Die Toilette verwandelte sich in Vaters Schuhe und dann wieder in das Toilettenbecken. Als ich fertig war, war Pascasio verschwunden. Ich weinte im Schlaf.

    Am nächsten Morgen hörten wir Mutter überrascht ausrufen: „Oh mein Gott! Was ist denn das?"

    Roni sprang aus dem Bett und zog das Gitter von meinem Bett nach unten. Ich folgte ihm.

    „Was ist passiert, Mutti?", hörte ich ihn sagen.

    Sie zeigte auf Pascasios Schuhe, die auf der zweiten Sprosse der Stehleiter neben dem Toilettenbecken standen.

    „Was ist denn hier passiert?, fragte Mutter und lachte. Sie nahm die Schuhe mit Daumen und Zeigefinger und leerte den Inhalt ins Toilettenbecken. „Jetzt müssen wir sie wegwerfen, sagte sie. Das verwirrte mich.

    Roni sah auf mich herab. Ich fing an zu weinen.

    „Weine nicht, Liebling, beruhigte mich Mutter. „Pascasio braucht sie nicht mehr.

    Ich weinte noch mehr. Ich hatte seine glänzenden, kastanienbraune Schuhe mit ihren dekorativen Flügelkappen immer geliebt. Das Bild steckt immer noch in meinem Kopf. In den ersten Jahren nach Pascasios Verschwinden schaute ich immer auf Herrenschuhe und hoffte, meinen Vater zu finden. Noch bis heute besitze ich vier Paar kastanienbraune Lederschuhe mit dicken Ledersohlen. Obwohl ich sie selten trage, liebe ich diese Schuhe mit den verzierten Flügelkappen. Wenn ich an einem Schuhgeschäft vorbeikomme, zieht es mich jedes Mal zu diesen klassischen Schuhen.

    Bevor Pascasio uns verließ, war Roni ein glückliches und unkompliziertes Kind. Aber auch er veränderte sich. Eines Tages kam er aus der Schule und sagte: „Der Führer hat angeordnet, dass jeder Bürger einen deutschen Volksempfänger bekommt." Er belehrte nun oft Mutter und fing an, sich gegen ihre Anordnungen aufzulehnen. Eines Tages, als sie gerade Pascasios Grundig Radio einschaltete, überraschte Roni sie.

    „Das ist verboten!", sagte er streng.

    Mutter starrte ihn an und schaltete sofort das Radio aus. „Ja. Ich weiß. Ich wollte nur sehen, ob es noch funktioniert. Ihre Stimme klang seltsam und angespannt. „Morgen tauschen wir das Gerät gegen einen Volksempfänger ein.

    „Unser Lehrer hat gesagt, es ist verboten, ausländische Propaganda zu hören. Mit dem Volksempfänger müssen wir uns keine Lügen mehr über Deutschland anhören", erklärte Roni.

    „Ja, mein Lieber. Ich weiß. Deshalb tauschen wir den Apparat morgen um. Du brauchst es deinem Lehrer nicht zu sagen."

    Auch Mutter änderte sich nach diesem schicksalhaften Vorfall. Sie wurde reizbar und bestrafte uns für den kleinsten Verstoß.

    Wir dachten immer noch, dass Mutter die Ursache für Pascasios Flucht war. Ich fragte sie oft, wo er ist. Warum musste er gehen? Sie hat meine Fragen nie beantwortet. Schließlich vermied sie es, ihn überhaupt zu erwähnen. Mit der Zeit hörten wir auf zu fragen.

    6 Verhaltensänderung

    Nachdem uns Pascasio verlassen hatte, besuchte Herr Goldberg unsere Mutter häufiger. Roni sagte, Herr Goldberg sei ein Fotograf. Mutter meinte, Herr Goldberg habe mit Pascasios Zeitungsgeschäft zu tun. Nun lud uns Herr Goldberg gelegentlich zu Fotoaufnahmen in den Park ein. Im Volkspark Rehberge sprach er oft in leiser Stimme mit unserer Mutter. Sie schickte uns dann zum Teich, um die Fische zu füttern. Wir hörten nur selten, wovon sie sprachen. Roni sagte, Goldberg wollte wissen, warum uns Pascasio so plötzlich verlassen hatte, ob Pascasio Anweisungen für ihn hinterlassen hätte oder ob wir etwas von ihm gehört hätten.

    Diese Spaziergänge begannen, nachdem Hitlers Truppen in Polen einmarschiert waren. Seitdem hatte sich das Leben in Berlin verändert. Die Nachbarn begannen zu flüstern. Eine ängstliche Besorgnis machte sich breit. Unsere Familie wurde zu einem Kollateralschaden. Wir wurden von einigen Nachbarn als ‚Ausländerfreunde‘ verdächtigt. Dann hörten auch die Spaziergänge im Park mit Herrn Goldberg auf.

    Eines Tages fragte ich Roni, warum Herr Goldberg nicht mehr zu uns kam. Mutter sagte beiläufig, er sei gestorben. Ich war erleichtert, dass er sie nicht mehr besuchen konnte. Später hörte Roni von unserem Freund Siegfried Schulze, dass Herr Goldberg an einem Balken auf dem Dachboden aufgehängt gefunden worden war. Man sagte, es wäre Selbstmord gewesen. Es wurde aber gemunkelt, dass die Polizei ein großes Kurzwellenfunkgerät aus seiner Wohnung entfernt hätte. Anscheinend hatte Herr Goldberg mitten in der Nacht Morsezeichen gesendet und empfangen. Ich wusste damals noch nicht, was Morsezeichen waren und dachte, Herr Goldberg hätte Mäuse gesucht.

    Wir bemerkten weitere Veränderungen. Als unser Vater noch bei uns gewesen war, hatten wir immer echten Bohnenkaffee gehabt. Ich liebte den Geruch von frisch gemahlenem Kaffee. Pascasio und Mutter tranken gerne Bohnenkaffee, aber schon bald nach Kriegsausbruch war der Kaffeebehälter leer; wir hatten Muckefuck aus gerösteter Gerste als Kaffee-Ersatz. An manchen Sonntagen im Sommer nahm uns Mutter mit ins Café Kranzler am Kurfürstendamm. Dort gab es noch immer echten Kaffee.

    Im Laufe der Zeit wurde mein Bruder immer streitsüchtiger. Er ärgerte Mutter und kommandierte mich herum. Er fing an, mich ohne ersichtlichen Grund zu schlagen. Anfänglich wehrte ich mich mit immer mehr Wut. Dadurch bekam ich aber nur noch mehr Prügel. Manchmal schlug auch ich andere Kinder. Roni nannte mich ‚Heulsuse‘. Diese Schikanen begannen meistens harmlos.

    „Hört auf, euch zu streiten", tadelte Mutter.

    „Roni hat angefangen."

    „Lügner."

    Eines Tages ärgerte mich ein Junge aus der Nachbarschaft. Er muss fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein. „Dein Vater ist ein Aus-län-der, ein Aus-län-der", rief er im Singsang hinter mir her.

    Ich lief weinend nach Hause und beschwerte mich bei unserer Mutter: „Er sagt, Papa ist ein Ausländer."

    „Wer hat das gesagt?"

    „Der Junge von gegenüber."

    „Hör nicht auf ihn. Er weiß nicht, was er sagt."

    Tage später konfrontierte mich derselbe Junge am Sandkasten, wo ich mit einem Spaten spielte.

    „Du bist dumm, schrie ich. „Meine Mutter sagt, dass du dumm bist. Ich ging weg. Plötzlich bekam ich einen Faustschlag in den Rücken. Mein Spaten knallte so schnell und hart auf seinen Kopf, dass ich nicht wusste, wie mir geschah. Blut lief ihm über das Gesicht. Er schrie den ganzen Weg nach Hause.

    Ich rannte hinter unser Wohnhaus und kroch unter die dicken Büsche. Dort lag ich auf dem Rücken, fühlte mich sicher und beobachtete die Vögel, die von Ast zu Ast hüpften. Ich liebe Vögel. Sie geben mir auch heute noch ein Gefühl von Frieden und Ruhe und sie zwitscherten ohne scheinbare Angst. Das Zwitschern erinnerte mich an Pascasio, der uns die Pfeifsprache beigebracht hatte. Ich wünschte mir, ich könnte hoch in die Luft fliegen und nach ihm suchen. Ich war sicher, dass ich ihn finden würde. Nun lag ich da und atmete tief und ruhig. Dieser dumme Junge, der meinen Vater einen ‚Ausländer‘ nannte.

    Der Himmel wurde langsam dämmrig. Ich hörte Mutters vertrautes Pfeifsignal aus dem Küchenfenster.

    Pascasio hatte uns beigebracht, wie man durch Pfeifen Nachrichten übermitteln konnte. ‚Wolfi, komm nach Hause‘, war eines der Pfeifsignale, die wir von ihm gelernt hatten. Zwei lange und vier kurze Pfeiftöne. Ich liebte den Klang. Pascasio hatte gesagt, dass auf der Insel La Gomera, wo er aufgewachsen war, das Pfeifen über weite Strecken benutzt wurde. So kommunizieren die Schulkinder von einer Bergspitze zur anderen miteinander.

    Ich wusste, was Mutter meinte, als ich ihr Pfeifen hörte. Es war das Signal zum Abendbrot. Als ich die Treppe hinaufsprang, merkte ich sofort, dass dicke Luft war. Der Junge aus dem Sandkasten stand mit seiner Mutter an der Tür. Sie schauten auf mich, als ich nun langsam die letzten Stufen hochkam. Ich fing an zu weinen. Ich hörte Mutters Worte, musste mich entschuldigen, dem Jungen die Hand geben und versprechen, nie wieder zu schlagen. Wütend rannte ich an ihr vorbei ins Badezimmer, knallte die Tür zu und entließ meine Wut mit einem harten Tritt gegen die Badewanne. Das tat weh. Ich war wütend auf mich – auf meinen Vater und meine Mutter. Dieser dumme Junge, der uns beschuldigte, Ausländer zu sein. Wie konnte er so über meinen Vater lästern! Meine Mutter hätte mich in Schutz nehmen sollen.

    7 Roni Kommandiert

    Es begann 1940, ich war fünf Jahre alt. Mutter brachte mich zum ersten Mal in den Kindergarten. Roni war sieben und schon in der Schule. Es war das erste Jahr des Zweiten Weltkriegs.

    Danach brachte mich Roni jeden Morgen um sieben Uhr in den Kindergarten und ging dann zur Schule. Das flache Gebäude hatte einen großen, grasbewachsenen Hinterhof, der von dicken Büschen umgeben war. Gegen fünf Uhr nachmittags gingen Roni und ich nach Hause. Wieder bestand er darauf, meine Hand zu halten, wenn wir die Müllerstraße überquerten. Dies entwickelte sich zu einem täglichen Kampf. Seit Pascasio weg war, versuchte Roni, die Rolle eines Vaters zu übernehmen. Ich weiß nicht, woher er diese Idee hatte; unser Vater war normalerweise zu beschäftigt gewesen, um uns zur Schule zu bringen.

    Alles im Kindergarten war angenehm, auch die Kindergärtnerinnen waren freundlich. Das Essen war lecker und reichlich, obwohl ich mich nach Orangen und Bananen sehnte. Südfrüchte erinnerten mich an Pascasio. Als er noch bei uns gewesen war, hatten wir immer Orangen und Bananen gehabt. Der Krieg änderte alles.

    Normalerweise machten die Aktivitäten im Kindergarten Spaß. Aber manchmal wollte ich einfach allein spielen. Ich liebte es, herumzuwandern und mich in den Büschen hinter unserem Wohnhaus zu verstecken. Da fühlte ich mich wohl. Im Kindergarten wurde alles organisiert. Wir mussten zu einer bestimmten Zeit essen, zu einer bestimmten Zeit auf die Toilette gehen und uns nach dem Mittagessen ausruhen. Alles war strukturiert. Jeden Tag nach dem Mittagessen mussten wir uns in Zweierreihe aufstellen und wir marschierten mit unserer Kindergärtnerin zum großen Badezimmer, um zu pinkeln und unsere Hände zu waschen. Dann war es Zeit zum Ausruhen.

    „Ruhezeit, sagte sie. „Nicht reden.

    Das gefiel mir auch nicht. Die älteren Kinder hatten die Erlaubnis, wach zu bleiben und Hausaufgaben zu machen. Sie konnten reden. Wir mussten still sein. Das war unfair. Ich war mehr daran interessiert, zu reden oder zu singen. Wie konnte ich schlafen, wenn so viele Ideen und Fragen durch meinen Kopf wirbeln? Ein Flüstern zum Kind im nächsten Kinderbett brachte mir eine ernste Warnung ein. Ich hasste es, herumkommandiert zu werden. Ich hörte genug Kommandos von Roni.

    8 Lebensraum

    An einem anderen Tag im Kindergarten war ich besonders schlecht gelaunt. Die Wolken hingen tief und das schwache Tageslicht war deprimierend. Mein Kopf schmerzte und ich war nicht in der Stimmung, einen Nachmittagsschlaf zu machen. Ich wollte nicht ausgeschimpft werden, wenn ich mit den anderen Kindern flüstere. Warum musste ich mich ausruhen, wenn ich nicht müde war? Warum musste ich pinkeln, wenn ich nicht konnte? Warum sollte ich still sein, wenn ich so viel zu erzählen hatte?

    Die Kindergärtnerin marschierte mit uns zu den Toiletten. In meinem Kopf pochte der Schmerz. Ich blieb als letzter in der Kinderreihe. Das offene Fenster im Gang lockte, es lud mich ein in die Freiheit. Als das letzte Kind durch die Tür in das Toilettenzimmer gegangen war, sprang ich aus dem Fenster und rannte über den Rasen bis zur Müllerstraße. Die überquerte ich vorsichtig, wie ich es von Roni gelernt hatte. Ich rannte so schnell wie Pascasio die Treppe hinuntergelaufen war, als er uns verlassen hatte. Wir nannten unsere Babysitterin Oma. Sie war eine ganz liebe Frau.

    „Oma, es ist so gut im Gebüsch zu sein. Da habe ich großen Lebensraum."

    Die Oma schaute mich von der Seite fragend an.

    „Das ist doch, was im Radio immer gesagt wird: Wir brauchen mehr Lebensraum. Das ist doch richtig. Oder?"

    „Nicht ganz, mein Kind, sagte Oma Hebmüller. „Nicht ganz. Schokoladenmilch?

    Vielleicht hatte ich das Wort ‚Lebensraum‘ nicht richtig verstanden. „Oma, deine Schokoladenmilch schmeckt am besten."

    9 Siegfried Schulze!

    Ein paar Tage später, an einem sonnigen Samstagnachmittag, aß ich gerade eine Stulle Brot und wollte dann wieder heruntergehen zum Spielen. Plötzlich hörten wir Posaunen und Trommeln auf unsere Straße. Mutter hob mich zum Fenster hoch. Roni brauchte keine Hilfe.

    Eine Kolonne von mehr als hundert Hitlerjungen mit Fahnen, Trommeln und Posaunen marschierte die Straße auf unser Wohnhaus zu. Alle Einwohner sahen aus den Fenstern. Die Jungen trugen gestriegelte Uniformen: hellbraune Hemden, schwarze kurze Hosen und schwarze Schulterriemen, ein Messer in der Scheide am Gürtel.

    Der Hitlerjugend-Führer rief mit lauter Stimme: „Abteilung halt! Alle hielten an. „Abteilung rechts um. Alle drehten sich zu unserem Gebäude.

    „Wenn ich groß bin, will ich auch eine Uniform haben, sagte ich. „Kann ich auch in die Hitlerjugend?

    „Nein! Du bist zu jung. Du musst mindestens vierzehn Jahre alt sein. Roni wusste alles. Seine Erklärungen begannen immer mit einem abweisenden „Nein. Mit zehn Jahren kommst du erst ins Jungvolk, mit vierzehn kannst du in die Hitlerjugend, fügte er tröstend hinzu.

    Die Formation von Jungen im Alter zwischen vierzehn und sechzehn Jahren blieb auf der Straße stehen. Der HJ-Führer rief: „Abzählen!" Jeder Junge brüllte seine Nummer aus, bis sie das Ende erreichten. Stille.

    „Wer wird vermisst?", schrie der HJ-Führer.

    Jemand rief zurück: „Siegfried Schulze." Pause.

    Der Anführer drehte sich auf den Hacken zum Wohnhaus unseres Nachbarn. Ich konnte sein strenges Gesicht sehen. Er schrie auf das Gebäude zu: „Siegfried Schulze! Lange Zeit gab es keine Antwort. „Siegfried Schulze! Rauskommen!

    Ich wusste, dass etwas Besonderes vor sich ging. Ich hörte meine Mutter leise murmeln, aber ich konnte nicht verstehen, was es war.

    Schließlich kam Siegfried langsam aus der Tür und stand vor dem HJ-Führer.

    „Siegfried muss berühmt sein, sagte ich. „Sie sind mit Fahnen und Musik gekommen, um ihn zu begrüßen. Er war schon immer mein Freund.

    „Nein, Siegi mag nicht die Hitlerjugend", antwortete Roni.

    Der Anführer schrie Siegfried an. Ich war verwirrt.

    Mutter flüsterte: „Oh mein Gott."

    Die Menschen lehnten sich weiter aus den Fenstern. Siegi starrte auf das Straßenpflaster.

    „Wo ist deine Uniform?", rief der Anführer, damit es alle hören konnten.

    Keine Antwort.

    „Warum bist du nicht zur Übung gekommen?"

    Immer noch keine Antwort.

    Jedes Mal, wenn der Anführer schrie, wurde Siegfried etwas kleiner.

    Ich fing an zu weinen. Mir gefiel es nicht, dass der Hitlerjugend-Führer meinen Freund anschrie. „Mutti, warum ist er so sauer auf Siegi?"

    „Siegfried mag die Hitlerjugend nicht."

    „Sein Vater auch nicht", fügte Roni hinzu.

    Ich wollte mit meinem Bruder streiten, aber Mutter sagte: „Kinder, ich habe ein Geschenk für euch." Sie lenkte uns vom Fenster ab.

    Dieser Vorfall verstörte mich. Nachts träumte ich davon. Ich sah einen starken Wolkenbruch, Donner und Blitze. Alle Hitlerjungen auf der Straße liefen in Deckung, während der Führer durch den Regenguss schrie. „Siegfried, hundert Liegestützen." Ich muss die ganze Nacht geschluchzt haben.

    Bild2

    10 Blond und Blauäugig

    Abgesehen vom Flüstern der Bevölkerung schien das Leben in Berlin unverändert, zumindest aus der Sicht eines Fünfjährigen. Die Leute fuhren mit der Straßenbahn, dem Bus oder der U-Bahn zur Arbeit. Kinder spielten auf der Straße. Das deutsche Militär berichtete von einem Sieg nach dem anderen. Ich liebte unseren Führer; er machte uns alle stolz.

    An einem der folgenden Sonntage spielten Roni und ich vor unserem Wohnhaus. Eine Frau näherte sich. Als Straßenbahnschaffnerin trug sie einen dunkelblauen Rock und eine Jacke mit goldenen Knöpfen. Sie hatte einen Gürtel über der Schulter, um ihren Geldwechsler zu halten. Eine Kappe, die wie ein auf dem Kopf stehendes Schiff aussah, bedeckte teilweise ihr blondes Haar. Sie blieb vor uns stehen und beugte sich zu Roni.

    „Du bist so ein reizendes Kind", sagte sie, als ihre Finger Ronis blondes Haar streichelten.

    Er antwortete mit einem liebevollen Lächeln.

    „Was für wunderschöne Augen – so blau!", rief sie aus.

    An diesem Tag schienen Ronis Augen die leuchtend blaue Pracht des Himmels besonders gut zu reflektieren. Seine Haare, von der Sonne vergoldet, verstärkten sein charmantes Lächeln. Roni konnte die meisten Frauenherzen schmelzen, aber heute schien die Schaffnerin wie hypnotisiert. Sie entschuldigte sich, während ihre Finger noch einmal seinen Schopf aus weißblondem Haar streichelten. „Leider, sagte sie, „bin ich zu spät zur Arbeit. Dann drückte sie ihren Geldwechsler und gab Roni einen Groschen. Was für eine liebe Frau, die Münzen an Kinder zu verteilt! Ich hob erwartungsvoll meinen Blick, aber sie eilte weiter und winkte mehrmals zurück. Mich hatte sie nicht bemerkt. Ich lief weinend nach Hause.

    „Mein Gott, was ist mit dir passiert?", lachte meine Mutter, als sie die Tür öffnete und mich direkt zum Badezimmerspiegel führte. Ein schmutziges Gesicht, von dunklen Tränenstrichen gezeichnet, starrte sie an. Meine dunklen, strähnigen Haare und haselnussbraunen Augen ließen mich immer wie einen Zigeuner aussehen. Die Kinder auf unserer Straße nannten mich ‚Schwarzer‘ – es half nichts, dass ich gerne im Sand spielte und die Erde schien mich zu mögen.

    Es war nicht das erste Mal, dass ein Berliner die Augen meines Bruders bewunderte und meine ignorierte.

    Wenn Mutter uns sonntags ins Café Kranzler am Kurfürstendamm mitnahm, kleidete sie uns in unseren Sonntagsstaat: kurze, weiße Marinehosen mit passenden, blau gestreiften Oberteilen. Wir liefen in weißen Kniestrümpfen und glänzenden braunen Schuhen. Mutter trug weiße Schuhe, weiße Handschuhe und mein Lieblingskleid in Blau. Ich mochte die kurzen Ärmel, die mit zarter weißer Spitze besetzt waren. Dazu trug sie einen großkrempigen weißen Hut, der zur Seite geneigt war. Um ihren Hals und ihre Schultern warf sie einen Silberfuchskragen. Ich war so stolz darauf, mit meiner schönen Mutter zusammen zu sein.

    Wir wanderten Unter den Linden, durch das Brandenburger Tor und in den Tiergarten. Passanten hielten an, um Komplimente zu machen. Sie blickten auf meinen Bruder und meine Mutter und bewunderten ihre leuchtend blauen Augen und blonden Haare.

    „Wie charmant", sagten sie.

    Mutter nahm gnädig die Komplimente an.

    Als Männer über Roni sagten: „Was für schöne blaue Augen", tat es weh. Die bewundernden Blicke galten nur meinen Bruder. Meine haselnussbraunen Augen sahen sie nicht, als ob ich nicht existieren würde.

    Diese Ausflüge endeten eines Tages abrupt.

    11 Die ersten Luftangriffe auf Berlin

    Auf dem Heimweg von der Schule besuchten Roni und ich gern die im Goethepark stationierten Soldaten. Sie waren freundlich und ließen uns ihre großen Kopfhörer aufsetzen. Sie erklärten uns, ihr leistungsstarkes Radar erkenne alle feindlichen Flugzeuge, lange bevor sie die Stadt bombardieren könnten. Ihre großen Kanonen würden jedes Flugzeug abschießen, bevor es unsere Stadt erreichte. Berlin war also sicher. Die Soldaten würden uns bestimmt nicht anlügen.

    In unserem kleinen Volksempfänger wurde häufig über den siegreichen Vormarsch unserer Soldaten in feindliche Länder berichtet. Ich fragte mich, warum die Soldaten nicht in Berlin blieben, um uns hier zu schützen, anstatt in ferne Länder zu marschieren. Hatten die Soldaten ihre eigenen Kinder auch verlassen, wie es Pascasio getan hatte? Ich wusste nicht einmal, ob Pascasio Soldat war.

    Die friedlichen Zeiten waren aber bald vorbei. Der erste Luftangriff auf Berlin fand eines Nachts im Sommer 1940 statt. Fast hundert Flugzeuge warfen Bomben auf den Flughafen Tempelhof und über den Bezirk Siemensstadt ab. Diese ‚Stadt‘ war von Siemens, dem größten europäischen Elektromaschinenbaukonzern gebaut worden. Dessen Beschäftigte arbeiteten in fortschrittlichen Fabriken und lebten in den modernen Wohnhäusern mit großen Balkonen. Es war ein Aushängeschild für die Nationalsozialistische Partei. Siemens war sowohl an der Finanzierung des Aufstiegs der Nazipartei als auch an der geheimen Aufrüstung Deutschlands beteiligt. Siemensstadt war daher ein symbolisches Ziel für den Luftangriff.

    Nach der ersten Bombennacht strömten viele Berliner dorthin, um den Schaden des Bombenangriffs zu sehen. Mutter nahm uns mit auf einen Nachmittagsspaziergang. Wir sahen Feuerwehrleute, die in einem schwelenden Wohnhaus arbeiteten. Das Haus war in Trümmern und hier und da waren ein paar Haushaltsgegenstände zu sehen. Ein kaputter Stuhl, ein Kissen, zertrümmertes Geschirr, ein Kachelofen. Wir hatten den Krieg bis jetzt noch nicht wirklich erlebt. Berlin war so friedlich gewesen. Einige der feindlichen Flugzeuge mussten durch das enge Netz von Abwehrgeschützen geschlüpft sein. Der Führer hatte uns immer wieder gesagt, dass keine feindlichen Bomben auf unsere Städte fallen würden. Diese Bombe muss ein Fehler gewesen sein, dachte ich.

    „Mutti, warum wurde dieses Haus bombardiert? Der Führer sagte, auf Berlin werden keine Bomben fallen."

    „Nun, manchmal laufen die Dinge anders ab als geplant."

    „Aber, unser Führer …"

    „Ja, manchmal machen wir alle Fehler, sogar der Führer."

    „Aber was ist, wenn unser Haus von einer Bombe getroffen wird? Wird der Führer uns beschützen?"

    „Das wird er bestimmt."

    Als ich vor den Trümmern stand, kam mir der Gedanke an unseren Vater. „Mutter, wo ist Pascasio jetzt? Kommt er uns helfen, wenn unser Haus brennt?"

    „Sieh mal, was ich gefunden habe", rief Roni plötzlich.

    Er hob ein Fragment von einer Bombe auf. Er behielt es als Schatz. Wir suchten nach mehr, wir sammelten und tauschten Bombensplitter mit anderen Kindern. Je größer die Stücke, desto wertvoller waren sie. So waren wir schnell von unseren Ängsten abgelenkt. Die Suche nach Bombensplittern machte Spaß.

    Zuhause spielten Roni und ich immer noch mit unseren Opel Autos, aber jetzt hatten wir auch Militärspielzeug aus Kunststoff. Kinder in der Nachbarschaft spielten Soldaten – und machten Kriegsspiele.

    Unbehagen lag in der Luft. Die Stadt hatte sich verändert. Bis Ende 1940 stellte die Wehrmacht große Abwehrgeschütze auf den meisten Regierungsgebäuden auf. Große Suchscheinwerfer, Radar und Kanonen sollten ganz Berlin vor feindlichen Flugzeugen schützen.

    12 Sicher in Hitlers Bunker

    An einem späten Nachmittag, wenige Monate nach meinem fünften Geburtstag, brachte Mutter Roni und mich zur Müllerstraße. Dort winkten wir ihr zum Abschied und stiegen zusammen mit etwa vierzig anderen kleinen Kindern in einen Doppeldeckerbus. Während der Bus durch die Stadt fuhr, sangen, lachten und scherzten wir, als wären wir auf einem aufregenden Ausflug in den Zoo. Der Doppeldecker hielt vor einem imposanten Gebäude, das sich über einen ganzen Block entlang der Voßstraße erstreckte, nicht weit vom Brandenburger Tor.

    Als wir aus dem Bus stiegen, schaute ich hoch, um den beeindruckenden Eingang zu bewundern. Vier gewaltige quadratische Säulen erreichten eine Höhe von drei Stockwerken. Ganz oben befand sich ein riesiger Adler aus Stein, dessen Flügel fast die Breite aller vier Säulen ausmachten. Die Krallen des Adlers hielten einen Kranz mit einem Hakenkreuz in der Mitte.

    Wir wurden von zwei Krankenschwestern in weißen Uniformen und mit Hakenkreuz an den Ärmeln begrüßt. Eine ‚Tante‘ fand sofort Gefallen an Roni. Sie war eine große, muskulöse Frau mit einem freundlichen Lächeln. Ich hatte noch nie ein Gesicht wie ihres gesehen. Sie schob ständig die Kappe nach vorne. Die Kappe rutschte immer wieder nach hinten und legte eine kahle Stirn frei. Die Stirn und die gebogene Nase gingen nahtlos ineinander über. Ihr Kinn schien eine Verlängerung vom Hals zu sein. Ihre durchdringenden blauen Augen verursachten mir eine Gänsehaut.

    Dann marschierten wir durch die hohen Säulen, zehn große Marmorstufen nach oben und durch die höchste zweiflügelige Tür, die ich je gesehen hatte. Ich hielt die Hand meines Bruders, und Roni flüsterte: „Wir betreten die Neue Reichskanzlei. Der Führer wohnt hier."

    Ich folgte voller Ehrfurcht.

    Als Nächstes bewunderten wir eine große Eingangshalle, wo uns zwei große Aufzüge in die Tiefe saugten. Mein Magen wollte rebellieren. Es schien, als würden wir direkt ins Zentrum der Erde sausen. Ich dachte mir, der Führer müsse uns sehr lieben, wenn er sein Bunkerhaus mit uns teilte. Aber warum lebte er so tief unter der Erde?

    Ich hielt mich an Ronis Arm fest. Er schob mich weg. Ich wollte weinen, aber ich hatte Angst, dass er mich vor den anderen Kindern eine Heulsuse nennen würde. Ich wusste, was der Führer wollte. Wir sollten hart wie Kruppstahl und zäh wie Leder sein. Aber ich war besorgt: Würde ich Mutter jemals wiedersehen?

    Der Fahrstuhl hielt und wir gingen durch ein Labyrinth aus langen Hallen und vielen Ecken. Wir trafen andere Gruppen von Kindern, die ebenfalls still durch das Labyrinth gingen. Unsere Gruppe wurde in einen runden Saal mit hoher Decke geführt. Etagenbetten standen an den Wänden mit den Fußenden zur Mitte der Halle. Das erinnerte mich an ein Stachelschwein mit scharfen Stacheln. Es gab keine Bilder an den weiß getünchten Wänden. Nur die Mitte der Halle war beleuchtet; die Etagenbetten lagen im Lichtschatten. Tische bildeten einen großen inneren Kreis mit Stühlen an der Außenseite. Die Atmosphäre war streng, kalt und unpersönlich. Ich fühlte mich unwohl.

    In Zweierreihen führten uns die Frauen um die Tische herum und teilten jedem Kind ein Bett zu. Ich hing fest an der Hand meines Bruders, bis ihm sein Bett zugewiesen wurde und er sich von mir trennen musste. Ich ahnte, sobald ich seine Hand losließ, würde ich in Schwierigkeiten kommen.

    Dann befahl uns die muskulöse Tante, an die Tische zu treten. Wir mussten hinter unseren Stühlen stehen. Dann erklärte sie die Hausordnung. Eindringlich sagte sie uns, wir müssten dem Führer danken, dass er uns in seinem neuen Bunker übernachten ließe. Sie sagte uns, wie sehr der Führer Kinder liebte und er wolle, dass wir vor feindlichen Bomben sicher sind. Meine Gedanken wanderten. Ich fragte mich, wie wir dem Führer danken konnten? Er war nirgendwo zu sehen. Würde er kommen und uns gute Nacht sagen? Dann kam der Befehl „Setzen!"

    Plötzlich spürte ich, dass die Tante hinter mich getreten war. Sie kam vorbei, mit der Aufforderung gerade zu sitzen. Mein Rücken fing an zu jucken. Ich konnte sie deutlich sehen, als sie weiter ging und die andere Seite des großen Tischkreises erreichte. Das Deckenlicht schien auf ihr Gesicht. Vor dem dunklen Hintergrund sah sie wie ein Raubvogel aus. Ich sah, wie sie einen anderen kleinen Jungen ermahnte, gerade zu sitzen. Dann zögerte sie für einen Moment hinter dem Stuhl meines Bruders. Ihre Finger streichelten sein blondes Haar, genau wie die Straßenbahnschaffnerin in unserer Straße. Vielleicht hatte sie auch ein Kind wie mein Bruder. Sie muss eine liebevolle Mutter sein, dachte ich.

    Diese Reise gehörte bald zu unserem Alltag. Wir Berliner Kinder wurden von zu Hause abgeholt, zur sicheren Unterkunft für die Nacht.

    13 Essen in Hitlers Bunker

    Jedes Kind hatte eine Schüssel Suppe vor sich. Nichts sollte in unserer Schüssel zurückbleiben, sagte die Tante mit der großen Nase. „Nicht reden. Jetzt könnt ihr anfangen." Ihr Jetzt fühlte sich an wie das Knallen einer Pferdepeitsche. Während wir aßen, kreiste die Tante hinter uns um die Tische und beugte sich gelegentlich zu einem Kind hinunter, um zu flüstern. Es sah aus, als würde ihre markante Nase

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