Letzte Chance?: Wege aus der Krise der katholischen Kirche
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Book preview
Letzte Chance? - Harald Winkels
1. Meine Entwicklung und Erfahrungen in der katholischen Kirche
An einem kalten Wintertag im Jahre 1963 wurde ich in der damals noch von Mönchengladbach getrennten Stadt Rheydt geboren. Wie es vor über 50 Jahren noch üblich war, wurde ich wenige Tage später, am 2. Weihnachtstag, also dem Festtag des heiligen Stephanus, in meinem Geburtskrankenhaus getauft.
Meine Familie war eine christlich geprägte, aber sicherlich nicht tiefgläubige Familie. Zu Tisch wurde nicht gebetet, höchstens abends vor dem zu Bett gehen. An Sonn- und Feiertagen ging man in die Kirche, jedoch eher aus Gewohnheit und den gesellschaftlichen Regeln der damaligen Zeit heraus; weniger aus tiefer Gläubigkeit. Mütterlicherseits war es in meiner Familie jedoch Tradition, dass man Ministrant und Pfadfinder wurde. So war es nicht verwunderlich, dass auch ich – genau wie mein zwei Jahre älterer Bruder – nach der Kinderkommunion im Jahre 1972 in die Messdienerschaft und den DPSG-Stamm, der deutschen Pfadfinderschaft St. Georg, unserer Heimatpfarre eintrat. Für mich als jungen heranwachsenden Menschen war die Gemeinschaft der beiden Jugendgruppen extrem prägend und vor allem der Ministrantendienst und die Arbeit in der Messdienerschaft waren für meine Entwicklung zum überzeugten Christen von großer Bedeutung.
Die Erfahrungen als Jugendlicher innerhalb der Gruppen, mit Gruppenleitern, Verantwortlichen und Angehörigen des klerikalen Standes waren durchweg positiv und sexueller Missbrauch oder ähnliche Übergriffe waren mir völlig unbekannt und auch nicht im Ansatz erkennbar. Als Jugendlicher und späterer Gruppenleiter erhielt ich von den Pfarrverantwortlichen, Pfarrern und Kaplänen Respekt und eine Anerkennung auf Augenhöhe. Meine Entwicklung vom kleinen Ministranten zum selbstbewussten überzeugten Christen hätte somit nicht besser verlaufen können.
Mitte der 1980er Jahre beendete ich meine Schullaufbahn mit dem Abitur und mit dem Einstieg ins Berufsleben endete auch meine aktive Zeit als Ministrant. Mein ehrenamtliches Engagement innerhalb der katholischen Kirche ging jedoch mit der Übernahme anderer pfarrlicher Aufgaben (z.B. in Laiengremien) unbeirrt und überzeugt weiter.
Dies ist bis zum heutigen Tage so geblieben. Mit tief greifendem Enthusiasmus habe ich mich in verschiedenen Gemeinden in unserer Stadt ehrenamtlich und aktiv mit meinen Fähigkeiten eingebracht. Dabei reichte mein Engagement von der Mitgliedschaft in Chören über diverse Gruppierungen und Ausschüsse bis hin zu mitverantwortlichen Gremien. Auch auf diözesaner Ebene erstreckte sich zeitweise diese ehrenamtliche Arbeit.
Alles in allem würde ich mich als überzeugten Christen und gläubigen Menschen bezeichnen. Der Glaube an Gott und an Jesus Christus ist ein essenzieller Bestandteil meines alltäglichen Lebens, der mich in guten wie schweren Zeiten getragen hat und immer noch trägt.
Innerhalb meines Alltags macht sich diese christliche Überzeugung vor allem im Respekt, der Toleranz und der Ehrlichkeit anderen Menschen gegenüber bemerkbar. Dabei liegt mir eine Bekehrung oder Belehrung meiner Mitmenschen fern und ich hege nicht die Absicht, diese Menschen von meiner Glaubensauffassung zu überzeugen. Ein solches Verhalten wäre für mich ein Widerspruch zur Nächstenliebe, denn Nächstenliebe definiert sich für mich als Beziehung zu einem Menschen. Die Zugehörigkeit zu einer Religion oder Konfession, zu einer Nation, einer Rasse, zu einem Geschlecht oder zu einer sexuellen Neigung spielen hierbei keine Rolle. Im Mittelpunkt steht für mich der Mensch, egal ob gläubiger Christ oder überzeugter Atheist. Ein Mensch, der an Gott glaubt, ist nicht besser als ein Andersgläubiger oder ungläubiger Mensch. Folglich erhebt mein Glaube an einen lebendigen Gott mich nicht in eine besondere Position. Ein Leben als Christ ist kein Privileg, kein herausragendes Merkmal. Das „Christ-sein macht einen Menschen nicht zu etwas Besonderem. Vielmehr ist es eine Aufgabe, die uns Christus aufgetragen hat. Christ zu sein hat somit nur bedingt mit der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft zu tun. Ein guter Christ kann man auch dann sein, wenn man nicht der christlichen Religion angehört, aber die Grundaussagen Christi verstanden hat und danach lebt. Und das ist in erster Linie die Liebe zu den Menschen - zu allen Menschen. Die Lehre Christi ist folglich keine komplexe theologische Wissenschaft, sondern eine simple und leicht verständliche - wenn auch sicherlich nicht ganz einfach umzusetzende - Aufgabe, die jeder verstehen kann. „Das ist mein Gebot: Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe.
¹
Aber schafft es die katholische Kirche in der heutigen Zeit noch, eine solche Offenheit zu den Menschen innerhalb oder außerhalb ihrer Religionsgemeinschaft an den Tag zu legen? Hat sie noch Verständnis für die Lebens- und Denkweise derer, die nicht ins klassische Klischeebild eines Christen passen und die nicht aktiv am Gemeindeleben teilnehmen und brav jedes Wochenende die sonntägliche Messfeier besuchen? Leider habe ich im Laufe meines Lebens immer wieder erfahren müssen, dass die kirchlichen Gemeinschaften sehr nach innen gekehrt sind. Schnell wird sich nach außen abgegrenzt. Verständnis wird zu vorderst denen entgegengebracht, die sich an die kirchlichen Regeln, Gepflogenheiten, Traditionen und Hierarchien halten. Anderen Lebens- und Denkweisen wird oft - zu oft - mit Unverständnis und fehlender Toleranz entgegengetreten. Gelingt in wenigen Fällen doch zumindest noch ein Dialog, endet dies nicht selten in theologischer Belehrung. Wir sind die Guten, die den richtigen Weg gehen; die anderen diejenigen, die die falsche Richtung eingeschlagen haben.
Dies wird paradoxerweise vor allem in der Feier der Eucharistie deutlich. Verstärkt durch die dicken Mauern der Kirchengebäude hat sich über die Jahrhunderte eine Zeremonie herausgebildet, in der genau definiert ist, wer auf welcher Stufe steht und wer nicht dazugehört. Wer ausgegrenzt wird, der darf Christus in der Gestalt von Brot und Wein nicht erfahren. Das gilt für Menschen anderer Konfessionen und Religionen ebenso wie für wiederverheiratete Geschiedene oder für Homosexuelle. Sie alle dürfen an der Kommunion nicht teilnehmen. Die Institution Kirche stellt sich zwischen Mensch und Christus in der Verweigerung der konsekrierten² Hostie. Sie entscheidet, wer Christus erfahren darf und wer nicht. Welches Recht nimmt sich die Kirche hier heraus? Hat Christus nicht genau die gesucht, die als Außenseiter gelten? Die Entscheidung, ob Mensch und Christus sich suchen und zueinander finden, obliegt nicht der Kirche. Sie verwehrt durch diesen Schritt Suchenden den Zugang zu Christus. Ein Punkt, an dem die Kirche zweifelsohne ihre Kompetenz überschreitet. Da beruhigt es, dass Christus sicherlich andere Wege finden wird.
Mir ist bewusst, dass jetzt so mancher Theologe aufschreien wird, weil meine Analyse wenig theologisch fundiert ist. Das mag durchaus so sein und diese Problematik wird im Laufe dieses Buches zweifelsohne immer wieder aufkeimen. Doch gerade der Blick auf einen gelebten Glauben, im Speziellen hier in Deutschland, abseits der klassischen Theologie, abseits von jahrhundertealten Kirchengesetzen, Traditionen und Regeln ist mir wichtig. Ich möchte aufzeigen, dass die Kirche sich an vielen Stellen verrannt hat. Stellen, die für den einfachen Gläubigen widersprüchlich sind, die die Grundaussage Christi nicht mehr erkennen lassen und die dazu führen, dass die Menschen sich abwenden. Genau das ist der Grund dieses Buches. Ich sehe eine Kirche, die immer mehr an Bedeutung verliert. Im alltäglichen gesellschaftlichen Leben ist sie jetzt schon kaum noch präsent, ebenso verliert sie ihre Bedeutung als Wächter einer christlich geprägten Werteordnung und als moralische Instanz.
Meine Intention mit diesem Buch ist die Suche nach Auswegen aus diesem Dilemma. Weg von festgefahrenen Gedankenmustern, theologischen Regeln und Strukturen, hin zu einem Gedankenspiel basierend auf den wesentlichen Grundlagen der Aussage Jesu. Ich will versuchen zu entschlüsseln, wo die Kirche sich zu weit von der Botschaft Christi entfernt hat und wo sie sich zu weit von den Menschen entfernt hat. Denn wenn sich die Kirche von den Menschen entfernt - egal ob gläubig oder ungläubig -, dann entfernt sie sich auch von Christus. Und wenn sie sich von Christus entfernt, dann verliert sie ihren Sinn und ihre Bedeutung. Dann wird sie zu einer Kirche, die niemand braucht. Daraus lässt sich unweigerlich schlussfolgern, dass die Kirche immer den Menschen zugewandt sein muss. Und genau hier scheint das Problem der Kirche zu liegen. Sie verschanzt sich zu sehr hinter einer über die Jahrhunderte geformten Theologie, die sich zu viel um die Institution Kirche kümmert, und die zu oft, aus den unterschiedlichsten Gründen, den Menschen - bewusst oder unbewusst - vergessen oder übergangen hat. Dabei entfernen sich das innerkirchliche Leben und das Alltagsleben der gläubigen und nichtgläubigen Menschen immer mehr voneinander, so dass das Verständnis füreinander und das Wissen übereinander immer geringer und die Beziehung zueinander immer problematischer wird.
So wird es dringend Zeit, dass sich etwas ändert. Es ist kurz vor zwölf. Noch gibt es Menschen, die der Kirche nicht den Rücken zugewandt haben. Und diese Menschen kommen aus den unterschiedlichsten Beweggründen. Da sind die sozialen Kontakte, die für alte und einsame Menschen von großer Bedeutung sind sowie die eigene Bestätigung, die man in der Gemeinschaft erfährt. Da gibt es den Wunsch sich karitativ einzubringen und somit in der Freizeit anderen hilfsbedürftigen Menschen beizustehen. Da treffen sich Menschen in Gruppen, in denen sie ihre Fähigkeiten und Talente sinnvoll und erfüllend einsetzen können. Da findet man Menschen auf der Suche nach Spiritualität, Besinnung und dem gemeinsamen Gebet. All diese Menschen leben im Alltag in klassischen Familienstrukturen, in unverheirateten Beziehungen mit Kindern, als gleichgeschlechtliche Paare, Alleinerziehende, Wiederverheiratete, Patch-Work-Familien und in vielen anderen Strukturen. Sie alle verbindet der Glaube an einen Gott und sie alle – egal aus welchen Gründen sie auch in die Kirche kommen mögen – dürfen nicht abgewiesen werden und müssen willkommen sein.
¹ Joh. 15,12
² geweihten
2. Die Evangelien und ihre Interpretation
Seit der Jahrtausendwende wird auf unserem Planeten ein Phänomen immer deutlicher. Viele Menschen machen sich ihre eigene Wahrheit. Was nicht sein darf, das gibt es auch nicht. Die Flut der Informationen, die uns heute durch das Internet und einen omnipräsenten Journalismus zur Verfügung stehen, wird nicht hinterfragt. Sie werden falsch gedeutet oder den eigenen Wünschen und Meinungen angepasst. Wahrheiten hingegen werden als Fake-News und Lügen abgestempelt, wenn sie nicht