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Johann Sebastian Bach komponiert Zeit: Tempo und Dauer in seiner Musik, Band 3: Wohltemperiertes Klavier I und II
Johann Sebastian Bach komponiert Zeit: Tempo und Dauer in seiner Musik, Band 3: Wohltemperiertes Klavier I und II
Johann Sebastian Bach komponiert Zeit: Tempo und Dauer in seiner Musik, Band 3: Wohltemperiertes Klavier I und II
Ebook199 pages1 hour

Johann Sebastian Bach komponiert Zeit: Tempo und Dauer in seiner Musik, Band 3: Wohltemperiertes Klavier I und II

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About this ebook

Von allen seinen Werken hat Bach das Wohltemperierte Klavier am vielfältigsten und reichsten mit Ordnungsstrukturen durchzogen. Das Buch widmet sich diesem entscheidenden Aspekt und stellt erstmals die zeitliche Dimension ins Zentrum der übergreifenden Strukturen.
Der erste Teil des Wohltemperierten Klaviers war das erste vielgliedrige Werk, das Bach zu organisieren hatte; es trägt Spuren eines ersten Versuchs an sich. Demgegenüber konnte Bach mit der Wiederaufnahme des zweiten Teils auf eine zwanzigjährige Erfahrung zurückgreifen und eine durchaus schlüssige Lösung darbieten. Die Schwierigkeit, die er zu bewältigen hatte, lag in erster Linie in der formalen Gleichstellung der Präludien mit den Fugen.
Der vorliegende Band bietet zunächst eine Übersicht über die Voraussetzungen, insbesondere über die zwei Kulturen der kontrapunktisch definierten und der Ritornellfugen. Darauf folgt die Untersuchung der beiden Teile, wobei die Erläuterung des zweiten Teils durch die Möglichkeit des Vergleichs mit dem ersten am tiefsten in die Problematik einzudringen vermag. Die Zeitstruktur der beiden Teile des Werks ist eine einzigarige Leistung Bachs.
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateApr 7, 2017
ISBN9783743905726
Johann Sebastian Bach komponiert Zeit: Tempo und Dauer in seiner Musik, Band 3: Wohltemperiertes Klavier I und II

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    Book preview

    Johann Sebastian Bach komponiert Zeit - Ulrich Siegele

    Vorwort

    Der dritte Band der Reihe über Tempo und Dauer in Bachs Musik gilt einem Bereich der beiden Teile des Wohltemperierten Klaviers, der bisher in meinen Publikationen nicht zur Sprache kam. Die Untersuchung der zeitlichen Dimension ergänzt einen entscheidenden Aspekt des Werks. Soviel ich sehe, repräsentiert das Wohltemperierte Klavier das am vielfältigsten und reichsten von Ordnungsstrukturen durchzogene und zusammengehaltene Werk des Bachschen Schaffens; es geht weit über die Aufreihung der Präludien-Fugen-Paare an der in Halbtönen steigenden und von Dur nach Moll wechselnden Leiter hinaus. Die Ordnungsstrukturen sind verflochten. Ihr beziehungsreiches Ineinandergreifen weist den Weg, um sie zu entschlüsseln; zugleich stützt es die Resultate.

    Der erste Teil des Wohltemperierten Klaviers war das erste vielgliedrige Werk, das Bach zu organisieren hatte; es trägt Spuren eines ersten Versuchs an sich. Demgegenüber kann die Wiederaufnahme des zweiten Teils auf eine zwanzigjährige Erfahrung zurückgreifen und eine durchaus schlüssige Lösung darbieten. Die Schwierigkeit, die zu bewältigen war, lag in erster Linie in der formalen Gleichstellung der Präludien mit den Fugen.

    Der Vergleich der beiden Teile erlaubt es, die Unterschiede zu benennen und die Entwicklung zu erkennen. Das Ziel des Bandes ist die differenzierte Erschließung der Zeitstruktur. Die Darstellung gliedert sich in drei Abschnitte. Die Einleitung gibt eine Übersicht über die Voraussetzungen, insbesondere über die zwei Kulturen der kontrapunktisch definierten Fugen und der Ritornellfugen. Hierauf folgen die Hauptstücke über den ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers und den anschließenden zweiten Teil, dessen Untersuchung durch den ausgeführten Vergleich mit dem ersten Teil am tiefsten in die Problematik einzudringen vermag. Die Leistung Bachs steht einsam da.

    Der Brennpunkt des Interesses liegt im Kontext, in dem die Präludien und Fugen jeweils stehen und den sie in ihrer Gesamtheit bilden. Dieses dezidierte Interesse am Zusammenhang der Ordnungsstrukturen macht ein Verzeichnis der einzelnen Stücke entbehrlich; denn es entreißt sie dem Zusammenhang, der ihren Sinn ausmacht.

    Meine Beschäftigung mit dem Werk reicht mehr als 75 Jahre zurück. Während dieser Zeit haben mich Zu- und Widerspruch befördert. In jüngerer Zeit danke ich Claus-Steffen Mahnkopf für die freundliche Erlaubnis, einen Beitrag aus Musik & Ästhetik noch einmal abzudrucken, Michael Heinemann für die Einladung, in seinem Doktoranden-Kolloquium über einen älteren Versuch zum Wohltemperierten Klavier zu berichten, und Siegbert Rampe für viele Gespräche über das Werk. Der größte Dank geht jedoch an Linda Maria Koldau, die mir, obwohl sie aus der Musikwissenschaft vertrieben wurde und sich einem anderen Berufsfeld zugewandt hat, meine wichtigste und stets kritische Gesprächspartnerin geblieben ist.

    Den Leserinnen und Lesern wünsche ich Neugier und Geduld, ein allbekanntes Werk auf kaum betretenen Pfaden zu erkunden. Vielleicht bereitet es ja der einen oder dem anderen Vergnügen, die vorgeschlagenen Tempostufen dem Spiel der Stücke und den Übergängen zwischen Präludien und Fugen zugrunde zu legen und so das Ergebnis der Untersuchung der manuellen und ästhetischen Erfahrung zugänglich zu machen.

    VORAUSSETZUNGEN

    Ordnungsfaktoren

    Formaler Modus und Stimmenzahl

    Im Zentrum steht die Suche nach übergreifenden Strukturen, die geeignet sind, jedem der beiden Teile des WK den Charakter eines Werks im emphatischen Sinn zu verleihen. Diese Fragestellung mag auf den ersten Blick vermessen erscheinen. Denn sowohl die Überlieferung als auch der Notentext einzelner Stücke belegen im ersten wie besonders im zweiten Teil, dass hier älteres, in jedem Fall nicht primär im Zusammenhang des Teils entstandenes Material verwendet wurde. Dieser Tatbestand scheint eher für eine Sammlung zu sprechen und ein Werk auszuschließen. Allerdings ist in Erwägung zu ziehen, dass es sich zwar um älteres Material handelt, das jedoch an der betreffenden Stelle eingefügt werden konnte, weil es passte oder sich durch eine entsprechende Bearbeitung passend machen ließ; vielleicht stehen einige der Transpositionen älterer Stücke damit in Zusammenhang.

    Vor etwa 15 Jahren habe ich unter dem Titel Kategorien formaler Konstruktion in den Fugen des Wohltemperierten Klaviers ein Ensemble kompositorischer Gesichtspunkte diskutiert. Jeder dieser Gesichtspunkte stellt eine begrenzte Zahl von Möglichkeiten zur Verfügung, zwischen denen der Komponist von Fall zu Fall entscheiden kann und zu entscheiden hat. Lässt die Summe dieser Entscheidungen kein übergreifendes Muster erkennen, spricht das für eine bloße Sammlung von Stücken. Ein übergreifendes Muster dagegen deutet darauf hin, dass die Entscheidungen und so auch die Stücke der Konzeption eines Werks unterstehen, die sich in diesem Muster äußert.¹

    Die kompositorischen Ordnungsfaktoren bilden vier Paare, von denen jeweils das eine Glied den Zeitraum, das andere Glied den Tonraum ins Auge fasst. Nicht nur für die Fugen, sondern auch für die Präludien gelten die generellen Bestimmungen der Taktart und der Tonart. Auf die Fugen allein beziehen sich hierauf spezielle Bestimmungen; sie umfassen einerseits den formalen Modus, nämlich das Grundmuster für die Zahl der Einsätze, andererseits die Stimmenzahl. Als Grundmuster für die Zahl der Einsätze stehen zwei Paare zur Verfügung, von denen jedes eine kleine und eine große Form aufweist, nämlich einerseits zwei und vier Zweiergruppen, andererseits zwei und vier Dreiergruppen, also einerseits 2x2=4 und 4x2=8 Einsätze, andererseits 2x3=6 und 4x3=12 Einsätze. Die Grundmuster, die auf Zweiergruppen basieren, nenne ich die imperfekten, die Grundmuster, die auf Dreiergruppen basieren, die perfekten Modi. Das WK I verwendet den großen imperfekten und den großen perfekten Modus, das WK II außerdem den kleinen perfekten Modus. Der Basis eines Grundmusters können im Einzelfall gemäß bestimmten Verfahren eine begrenzte Zahl weiterer Einsätze hinzugefügt werden. Als Zahl der Stimmen stehen zwei, drei, vier und fünf, ausnahmsweise auch sechs zur Verfügung. Das WK I verwendet zwei, drei, vier und fünf Stimmen, wobei die Zwei- der Dreistimmigkeit, die Fünf- der Vierstimmigkeit zu- und untergeordnet sind; das WK II begnügt sich von vornherein mit der Drei- und Vierstimmigkeit.

    Das dritte Paar der Ordnungsfaktoren verbindet die beiden Glieder des vorhergehenden Paars, indem es der Darstellung der Einsätze im Zeitraum durch die Stimmen im Tonraum dient; es umgreift einerseits die Einsatzstufen und die Stufenfolge, andererseits die Einsatzlagen und die Stimmfolge. Das vierte Paar schließlich befasst sich mit der thematischen Struktur, sein erstes Glied mit dem Verhältnis von thematischer und nichtthematischer Zeit. Thematische Zeit meint, dass das Thema als Ganzes, als Einheit anwesend ist, nichtthematische (oder einsatzfreie) Zeit dagegen, dass es als Ganzes, als Einheit abwesend ist; das schließt allerdings nicht aus, dass während dieser Zeit thematisches Material verarbeitet wird. Das andere Glied bezieht sich auf den Umfang der Stimmen und des Satzes; denn außer dem Zeitraum eignet auch dem Tonraum das Verhältnis von thematischem und nichtthematischem Bereich, nämlich von Umfangsbereichen, die das Thema in Besitz nimmt, und von Umfangsbereichen, an denen es vorübergeht.

    Von diesen Ordnungsfaktoren sind zuvor die formalen Modi und die Zahl der Stimmen von Bedeutung. Denn der Werkplan eines jeden der beiden Teile des WK ist von deren Verhältnis zur Reihe der Tonarten bestimmt, die, in stetem Wechsel von Dur nach Moll, in Halbtönen von c nach h aufsteigt.

    Ritornellform und kontrapunktische Definition

    Zu diesen Ordnungsfaktoren tritt ein weiteres Paar. Es steht in der Bestimmung des formalen Verlaufs der Fugen voran und tut kund, ob die Glieder des Verlaufs in erster Linie durch die kontrapunktischen Verfahren charakterisiert sind, denen das Thema unterzogen wird, oder ob der formale Verlauf in Analogie zur Ritornellform, nämlich durch eine konstruktive Modulationsordnung der Einsatzstufen und eine konstruktive Verwendung der Zwischenspiele, charakterisiert ist, ohne dass das Thema selbst, abgesehen von der Mehrstimmigkeit des Tonsatzes, kontrapunktischen Verfahren unterworfen wird. Aus diesem Blickwinkel sind die thematischen Einsätze als Ritornelle, die nichtthematischen Abschnitte oder Zwischenspiele als Episoden zu verstehen (und tatsächlich ist es möglich, diese Betrachtungsweise experimentell durch die Instrumentierung einzelner Fugen als zwar knappe, aber eindeutige Solokonzertsätze zu erhärten). In jedem der beiden Teile des WK steht bei der einen Hälfte der Fugen die kontrapunktische Definition, bei der anderen Hälfte die Ritornellform im Vordergrund.

    Im Anschluss an die vorher genannte Studie habe ich der Frage dieser Doppelung ein Kongress-Referat gewidmet, das ich unten unter dem Titel Tradition und Innovation noch einmal abdrucke; es kommt zu dem Ergebnis, dass die kontrapunktische Definition die traditionelle und dann auch durch Marpurg kodifizierte Kultur der Fuge vertritt, während die Analogie zur Ritornellform eine spezifisch Bachsche Innovation und zweite Kultur der Fuge darstellt.² Leider waren mir damals zwei neuere Publikationen nicht bekannt, die zu ähnlichen Ergebnissen führen. David Ledbetter handelt über „The Concerto principle in den Fugen des WK; Joseph Groocock weist gleich zu Beginn mit einer klassischen Formulierung auf den prinzipiellen Unterschied der ersten beiden Fugen des WK I hin, dass nämlich die Fuge C den Typ einer Engführungsfuge ohne Episoden, die Fuge c den Typ einer Episodenfuge ohne Engführung repräsentiert: „Even a superficial examination of the first two fugues has revealed that they are of two distinct types; the first is a stretto fugue without episodes, and the second an episodic fugue without stretto. As we explore the ‘48’, we shall find that most fugues tend to be of one or the other type, though the principles of stretto and episodic treatment are not necessarily opposed, since some fugues effectively blend both principles.³

    In diesem Essay habe ich die Unterscheidung der Fugen in die beiden Kulturen der kontrapunktischen Definition und der Ritornellform dargestellt und begründet. Die Verteilung der Fugen der beiden Kulturen im Werkplan, also in den beiden Teilen des WK, wird unten ausgeführt.

    Zeitstruktur

    In diesen vielschichtigen Zusammenhang tritt die Zeitstruktur ein. Sie beansprucht unter den Ordnungsfaktoren einen herausgehobenen Rang. Denn sie erstreckt sich auf die beiden konstitutiven Formen des Werks und entfaltet ihre Wirksamkeit einerseits innerhalb einer jeden der beiden Reihen der Präludien und der Fugen, andererseits in der Beziehung dieser beiden Reihen untereinander. Welchen Beitrag leistet nun die Zeitstruktur zur Konstitution der beiden Teile des WK als Werk?

    Die Zeitstruktur äußert sich in der Dauer der einzelnen Stücke, in der Dauer von deren Gruppen und deren Summe. Sie realisiert sich kompositorisch im Zusammentreten der Zahl der Takte, der Tempostufe und der Taktart. Dabei ist daran zu erinnern, dass Tempostufe und Taktart nicht fest miteinander verbunden sind; denn ein und dieselbe Tempostufe kann sich in verschiedenen Taktarten verwirklichen, ebenso wie ein und dieselbe Taktart verschiedenen Tempostufen zugänglich ist. Die Tempostufe stellt die in der Taktart gegebene metrische Ordnung an einen bestimmten Ort im Ablauf der Zeit. Sie bleibt insoweit auf die Taktarten bezogen, wahrt ihnen gegenüber jedoch relative Selbstständigkeit. In diesem Sinn geht es hier um die Funktion der Tempostufen für den Aufbau des WK. Bachs Musik gibt sechs Tempostufen zu erkennen; sie sind in der Tabelle am Ende der gegenüberliegenden Seite in der Form zusammengefasst, wie das bereits in den beiden vorhergehenden Bänden geschehen ist.

    Die Herstellung und Kontrolle der Dauer eines Musikstücks gehören

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