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Seele auf Zeit: Karmische Spuren
Seele auf Zeit: Karmische Spuren
Seele auf Zeit: Karmische Spuren
Ebook477 pages6 hours

Seele auf Zeit: Karmische Spuren

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About this ebook

Zeit ist ein seltsames Phänomen! In guten Zeiten eilt sie dahin, in schlechten weilt sie unendlich lange. Jedenfalls erscheint es uns so. Dabei steht zwischen gestern und morgen für die Dauer eines Wimpernschlages nur ein Augenblick. Er währt immer gleich lang und schon im nächsten Augenblick ist er verflossen und vollendete Vergangenheit.

Gibt es Wanderer zwischen den Welten? Gibt es Seelen, die Wissen aus der Vergangenheit und Wissen um die Zukunft in sich tragen? Wir können diese Fragen weder bejahen noch können wir den Gegenbeweis dafür erbringen. Wenn jedoch, wie Platon lehrte, die Seele unsterblich ist, dann wären solche Phänomene durchaus denkbar.
Wer hat nicht schon einmal davon geträumt, in die Vergangenheit zu reisen? Der große Wunsch der Menschheit, mit einer Zeitmaschine aufzubrechen, wird allerdings Fiktion bleiben. Doch es gab schon immer Menschen mit magischen Geheimnissen. Sie hüten diese in den unscheinbarsten Äußerlichkeiten. Natürlich ist keiner dieser Vorgänge real wiederholbar und überprüfbar, geschweige denn messbar.

Franka steht an einem Wendepunkt im Leben. Der Mann, dem sie blind vertraute, hat sie verlassen. Sie ist am Boden zerstört. Wie konnte das geschehen? Und warum ihr? Nur eins weiß sie bestimmt: Sie wird die Gegenwart nur meistern und an eine neue Zukunft denken können, wenn sie die karmischen Spuren verstanden hat.
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateNov 9, 2020
ISBN9783347189720
Seele auf Zeit: Karmische Spuren

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    Book preview

    Seele auf Zeit - Nika Hemoger

    Ein Raum ohne Bücher ist ein Körper ohne Seele.

    Marcus Tullius Cicero (106 - 43 v. Chr.)

    Das kam wieder plötzlich und unerwartet, doch dieses Mal wusste ich, warum ich vor dem alten Tor stand. Kein Zweifel! Müde rieb ich mir über das Gesicht und massierte meine Stirn. Seit meinem letzten Besuch hatte sich mein Leben so radikal geändert, dass ich unsicher war, ob ich im Moment offen war für Neues. Ich hatte mich gerade an dieses Leben gewöhnt. Hier zu stehen, zeigte mir unmissverständlich, dass nun ein neuer Lebensabschnitt bevorstand, ob ich das wollte oder nicht.

    Das Tor war weit geöffnet und lud mich ein, näherzutreten. Nach langer Pause befand ich mich nun wieder vor dieser Bibliothek, diesmal so unerwartet, dass ich es kaum fassen konnte. Mein Leben war anders verlaufen, als ich es erwartet hatte: einiges war gut gewesen, auf andere Erfahrungen hätte ich verzichten können.

    Tatsächlich hatte sich schon nach meinen ersten rätselhaften Besuchen in dieser wunderbaren Bibliothek einiges in meinem Leben wie auf Knopfdruck verändert. Es gibt ihn wirklich, diesen Schalter, der sich umlegt, wenn man etwas begriffen hat! Was gestern war, muss uns heute nicht definieren. Wir haben jeden Tag, ja jeden Augenblick die Möglichkeit, uns und unser Leben zu verändern, zu wachsen und mutiger zu werden. Nur weiß ich gerade nicht, ob ich jetzt schon etwas verändern will. Ich war bis eben noch ganz zufrieden mit meinem zurückgezogenen Leben.

    Ja, ich weiß, wie man sich gefühlsmäßig von seiner Umwelt abschottet. Mein wahres Wesen zeige ich niemandem, einfach deshalb, weil ich mich dann sicherer fühle. Unangreifbar. Ich weiß nicht, ob ich diesen Schutz aufgeben will. Doch diese Bibliothek umfasste alle Weisheitsliteratur der Welt. Ich sollte etwas Neues lernen, da war ich mir sicher.

    „Du glaubst diesen Büchern, als ob sie etwas empfinden würden…", flüsterte ich mir selbst zu. Finster starrte ich auf die gefüllten Regale und Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus. Natürlich glaubte ich, dass etwas von ihren Erschaffern an ihnen haften geblieben war ebenso wie ein Teil der Seelen, die darin wandelten.

    Jetzt führte ich schon wieder Selbstgespräche! Mir kribbelten die Fingerspitzen, erneut ein Sprung ins Unbekannte.

    War ich stark genug für dieses neue Abenteuer? Mein Vertrauen war so oft missbraucht worden, dass ich nicht mehr gewillt war, tiefere Freundschaften einzugehen. Innerlich fröstelte es mich. Doch die Vergangenheit war vergangen! Nun hieß es, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Zu lange nachdenken wollte ich nicht. Es war etwas Besonderes, wieder hier zu stehen. Also würde ich den Stier bei den Hörnern packen und mich meinem Schicksal stellen.

    Mit vorsichtigen, zögerlichen Schritten ging ich hinein. Es war als beträte man eine andere Welt, so unfassbar fremd und doch irgendwie die eigene. Still stand ich da und dachte an all die Menschen, denen ich von dieser Bibliothek erzählen wollte. Sie würden mich für verrückt erklären! Ich wusste, nicht jeder würde diese Bibliothek finden, doch ich hoffte, dass diejenigen, die sie finden, ebenfalls von ihr durchdrungen würden. Ich besah die bis zur Decke reichenden Regale. Sie waren mit tausenden von Büchern gefüllt. Ich überflog die Buchrücken und in mir keimte ein tiefer Wunsch auf: mein Buch sollte eines Tages auch hier in den Regalen stehen und anderen helfen, ihren Weg zu gehen.

    Ich lachte laut auf und meine Hand fuhr erschrocken zu meinem Mund. Verstohlen schaute ich mich um, aber es war niemand hier, den es hätte stören können. War ich jetzt größenwahnsinnig geworden? Ich und ein Buch schreiben? Wie kam ich nur auf so eine irrwitzige Idee?

    Zwischen den Regalen standen gepolsterte Sessel, die zum gemütlichen Lesen einluden und der ganze Raum schien von einem wärmenden Licht erfüllt zu sein. Nein, ich wollte jetzt nicht schreiben, ich wollte lesen. Ich wollte mehr! Ich brauchte mehr! In mir gärte abermals die Sehnsucht nach einem Sinn, nach wahrer Offenbarung der Geheimnisse des Lebens. Tausend Fragen trieben mich um: Wer bin ich? Was soll ich auf dieser Welt? Was ist Wahrheit und was Phantasie?

    Was ist Erkenntnis, was ist Wahn? Sollte ich mich wirklich auf das Abenteuer einlassen, ein Buch zu schreiben?

    Konnte ich das überhaupt? Worüber sollte ich schreiben? Ich schüttelte den Kopf, das war jetzt nicht wichtig.

    Ich konzentrierte mich auf die Bücher, die in den Regalen standen. Es roch nach Papier, Staub und Leder und nach Geheimnisvollem… Manche Bücher waren sehr alt, das Papier war vergilbt und bröckelte schon. Gänsehaut kroch mir über die Wirbelsäule. Langsam schritt ich durch die Reihen der Regale. War es vermessen, davon zu träumen, sie alle lesen zu wollen? Das würde wahrscheinlich keinem menschlichen Wesen je gelingen. Doch ich durfte schon zum dritten Male hier entlang schreiten. Nein, eigentlich hatte ich das Gefühl zu schweben und ich genoss es. Trotzdem konnte ich mich des eigenartigen Gefühls nicht erwehren, dass ich beobachtet wurde. Doch jedes Mal wenn ich mich umdrehte, konnte ich niemanden entdecken.

    Welches Buch würde es diesmal sein? Es ist wichtig, auf die innere Stimme zu hören. Manchmal ist sie ganz leise und wird vom Kopf übertönt. Oft ist die erste Eingebung die richtige. Überwältigt schloss ich kurz die Augen und atmete tief ein. Und dann sah ich es: plötzlich stand es da. Ich wusste, dass dieses Buch genau das richtige war. Es war wunderschön und schien zu leuchten. Vorsichtig nahm ich es in die Hand und mein Herz klopfte bis zum Hals. War es Einbildung oder wurde der Raum tatsächlich wärmer? Ich wischte den unheimlichen Gedanken beiseite. Ich betrachtete das Buch mit gemischten Gefühlen. Ich empfand Liebe und Respekt und gleichzeitig Neugierde, aber auch Angst vor der Macht, die dieses Buch enthielt und auf seinen Leser zu übertragen schien.

    Das letzte Buch aus dieser Bibliothek hatte mich gelehrt, nicht zeigen zu dürfen, was ich wirklich wollte und konnte. Dadurch musste ich lernen, neue Fähigkeiten zu entwickeln, um anderen den Rücken zu stärken. Ich verhalf ihnen zu einem besseren Selbstausdruck und unterstützte sie, mit Ablehnung zurechtzukommen.

    Meine Hand zitterte. Ich traute mich nicht, es aufzuschlagen.

    Da flog der Buchdeckel auf, als ob das Buch beleidigt wäre, dass ich ihm nicht vertraute.

    Die Seiten blätterten sich so schnell um, dass ich ihnen mit dem bloßen Auge nicht folgen konnte. Das Blättern dauerte bis zu einer bestimmten Stelle am Ende des Buches, dann hörte es abrupt auf.

    „Die Aufgabe ist vielleicht einfach die, deine Angst vor dem Unfassbaren abzubauen."

    Ich hielt den Atem an und nickte mehr zu mir selbst. Ohne den Blick von der Buchseite abzuwenden zu können, näherte ich mich einem der gepolsterten Sessel, um weiterzulesen. Schon die ersten drei Zeilen zogen mich in eine andere Welt. Ich möchte jede Geschichte, jeden gelesenen Buchstaben für immer in meinem Wesen verankern, niemals vergessen und mich trotzdem auf neue Wege machen können.

    1

    Ruhelos lief Franka im Zimmer herum. Sie schämte sich fast dafür, dass sie Karin wieder abgesagt hatte. Viel zu lange hatte sie alles in sich hineingefressen und jetzt spürte sie den Schmerz nicht nur in ihrer Seele, sondern auch am ganzen Körper. Sie hatte abgenommen und Ringe unter den Augen zeigten deutlich, dass sie schlecht schlief. Doch ihre Freundin hatte Recht, nur sie selbst konnte etwas dagegen tun. Sie sollte sich nicht so gehen lassen! Auch gegen ihre düsteren Gedanken sollte sie etwas tun. Vielleicht war Arbeit wirklich ein Heilmittel. Seufzend setzte sie sich mit gekreuzten Beinen mitten in ihren Berg von Papieren: Reiseziele, Hotels, Bars und Sehenswürdigkeiten.

    Einen Moment lang starrte sie auf das graue Bild einer Burg, die sie schon vor einer ganzen Weile besichtigen wollte. Sie liebte alte Burgen und ihre Geschichten. Doch zunächst mussten alle Papiere sortiert werden, dann erst würde sie anständig arbeiten können. Sie seufzte und legte das Bild der Burg zur Seite. Ein wenig mehr Disziplin würde ihr guttun, sagte sie sich. Sorgfältig arbeitete sie sich nun weiter durch den Papierstapel. Sie schaffte es genau eineinhalb Stunden lang und füllte dabei vier Ablagekörbe.

    Dann bog sie ihren steifen Rücken durch und bewegte die Schultern im Kreis. Sie hatte sich auf Reiseberichte spezialisiert, schrieb aber auch allerlei Kurzgeschichten aus dem täglichen Leben, während Karin lieber aus dem Leben der Stars und Sternchen berichtete. Doch zurzeit konnte sie sich nicht aufs Schreiben konzentrieren. Es kam ihr vor, als ob sich ihre kreative Tür geschlossen hätte und sie den Schlüssel dazu nicht mehr fände. Sie seufzte erneut und stand schließlich auf. Ihr Magen knurrte und sie ging in die Küche, um sich etwas zu essen zu machen. Sie hatte angefangen regelmäßig zu essen, damit ihr Körper zu Kräften kam. Zwei Mal war sie zusammengebrochen. Zum Glück war das immer bei ihr zu Hause geschehen und Karin hatte ihr wieder aufgeholfen. Beim letzten Mal aber hatte Karin ihr angekündigt, dass sie sie nächstes Mal ins Krankenhaus bringen würde. So könnte es nicht weitergehen. Karin war ihr wirklich eine Stütze und Hilfe. Sie war immer da, wenn es ihr mies ging. Sie hielt sie vom Grübeln ab, wenn sie erneut in ein Gefühlstief zu stürzen drohte, und verbrachte viel Zeit mit ihr. Karin sendete wie selbstverständlich eine energiegeladene, unbekümmerte Lebendigkeit aus und hatte einen tiefen Glauben an ihre eigene Kraft. Bei ihr ging es immer nur vorwärts. Sie hatte nie das Ende im Auge, sondern nur den neuen Anfang.

    In Gedanken versunken bestrich sich Franka automatisch ein paar Brote mit Butter, belegte sie mit Wurst und Käse, fischte einige Gurken aus dem Glas und halbierte eine Tomate. Ja, Karin hatte so ihre eigenen Lebensansichten.

    „So übel ist das Single-Leben gar nicht…", sinnierte Franka laut vor sich hin. Man musste es sich nur oft genug einreden, dann würde man es auch eines Tages so empfinden. Nein, so schlecht war es nicht! Keiner, der einem sagte, wann man nach Hause zu kommen hat. Keiner, der motzte, weil das Toilettenpapier im Bad nicht aufgefüllt war und der das Bad blockierte. Keiner, auf den man Rücksicht nehmen musste. Trotzdem: ihr fehlte etwas! Entschlossen zündete sie den Kamin an, obwohl es heute nicht wirklich kalt war.

    Das offene Feuer und die darin tanzenden Flammen beruhigten jedoch ihre Nerven und wärmten ihr Gemüt. Ein Glas Rotwein würde ihr zum Schlafen verhelfen. Karin gab ihr das Gefühl, nicht alleine zu sein und ließ sie die gemeinsamen Momente genießen. Sie war einfach ein wundervoller Mensch. So voller Lebensfreude, voller Energie und Tatendrang. Und es gab keinen Tag, an dem Franka ihre Freundin einmal niedergeschlagen erlebt hätte. Karins Spontaneität und Leidenschaft waren bewundernswert. Im Gegensatz dazu musste sie sich immer wieder zusammenreißen und ihr Leben in die eigene Hand nehmen. Erneut überrollte sie eine Welle der Scham, dass sie auf Karins Anrufe nicht reagierte. Zugegeben, es war manchmal sehr anstrengend, mit Karin befreundet zu sein und mit ihrer überbordenden Energie und ihrem unermesslichen Tatendrang Schritt zu halten, doch das hatte sie definitiv nicht verdient. Franka musste zugeben: bei Karin wusste man immer, woran man war und einige ihrer Kommentare in der letzten Zeit hatten ziemlich genau ins Schwarze getroffen, so sehr, dass es wehtat. Nein, sagte sich Franka, sie würde jetzt erst einmal in Deckung bleiben und sich ehrlich damit beschäftigen.

    Ganz gleich wie unterschiedlich sie beide waren: diese Freundschaft hielt und war viel zu wertvoll, um sie aufs Spiel zu setzen. Morgen, nahm sie sich fest vor, morgen würde sie das ändern.

    Franka nahm eines der Bücher zur Hand, die sie in der Bücherei entdeckt hatte. Sie kuschelte sich aufs Sofa und biss herzhaft in eines ihrer Brote. Kauend blätterte sie die ersten Seiten auf. Wie jeden Abend versuchte sie von ihrem Gefühlschaos abzuschalten: der Eifersucht auf ihren Ex, auf die neue Frau an seiner Seite, der Verzweiflung, der Einsamkeit und der tief sitzenden Trauer. Sieben Monate waren vergangen und doch konnte sie all diese Gedanken und Gefühle nicht abstellen. Wenn sie doch wenigstens die Kraft gehabt hätte, wütend zu sein! Doch alles wozu sie noch in der Lage war, war Resignation und ihr Schicksal mit demütigem Haupt zu ertragen. Franka trank einen Schluck Wein. Die Einsamkeit verband sich mit ihrer inneren Leere und alles schien plötzlich über ihr zusammenzubrechen. Sie trank noch einen Schluck Wein, schüttelte den Kopf, um wieder klar zu sehen, und blätterte in ihrem Buch.

    Liebe ist ein Grundbedürfnis unserer Seele.

    Sie seufzte und dachte an Rafe, seine Augen, sein Lächeln, und ein wohliger Schauer lief über ihre Haut. Seufzend kuschelte sie sich tiefer in ihre Decke. Noch immer war sie nicht müde, stattdessen starrte sie ins Feuer. Nicht daran denken, ermahnte sie sich - und doch stellte sie sich vor, wie seine Hände über ihren Körper streichelten. Das Kribbeln auf ihrer Haut wurde stärker. Dieses Gefühl der Schwäche, das sich in ihr breitmachte, wenn sie an ihn dachte. Sie musste sich endlich zur Ruhe zwingen, musste Rafe aus ihren Gedanken streichen. Jedes Mal wenn sein Gesicht vor ihrem inneren Auge auftauchte, schob sie es konsequent beiseite. Sie wollte, verdammt nochmal, nicht an ihn denken! Wie sehr hatte er sie betrogen, Tag für Tag!

    Erneut schüttelte sie den Kopf und las weiter:

    Doch Liebe ohne Vertrauen ist wertlos. Wir alle kennen aus eigener Erfahrung die Angst vor Liebesverlust oder vor zurückgewiesener Liebe.

    Sie seufzte abgrundtief und schloss für einen Moment die Augen. Wie wahr! Doch sie wusste noch immer nicht, was sie falsch gemacht hatte. Er hatte Angst gehabt, ihr zu erzählen, dass er noch mehr vom Leben wollte als das, was sie gemeinsam hatten. Und sie? Sie hatte ihm bedingungslos vertraut und nun herrschte das absolute Chaos in ihrem Leben.

    „Mit dir hat das alles nichts zu tun", hatte er ihr versichert. Aber mit wem denn sonst? Wie hatte es nur so weit kommen können? Wie war es möglich, dass ein Mensch die Fähigkeit besaß, das Leben eines anderen komplett wertlos und kaputt zu machen? Würde sie jemals wieder lieben können? Würde sie je wieder fähig sein, einem anderen Menschen zu vertrauen? Sie wusste es nicht. Das Leben an Rafes Seite war himmlisch gewesen. Er hatte sie auf Händen getragen, hatte ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen und sie hatte ihm blind vertraut. Sie hatte ihn geliebt. Ja, sie liebte ihn noch immer und ärgerte sich darüber, weil es so wehtat. Kein Zweifel: ihre Gefühlswelt lief aus dem Ruder. Und nun, nachdem sie von Wolke sieben herunter gestoßen worden war, musste sie zusehen, sich in der Realität zurechtzufinden. Dennoch wollte sie ihm nicht die ganze Schuld geben, denn sie hatte das Geschehen ja auch zugelassen. Es hatte sich für sie richtig angefühlt, wenn sie zusammen waren. Jedenfalls am Anfang. Sie blinzelte die Tränen weg, die sich in ihren Augen sammeln wollten. Es gelang ihr, einige Male tief durchzuatmen. Mühsam unterdrückte sie ein Schluchzen. Womöglich hatte Karin ja Recht und sie sollte sich von jemandem helfen lassen. Doch schnell schob sie diesen Gedanken von sich: nein, morgen würde sie ihr Leben ändern!

    Sie würde es ganz alleine schaffen. Krampfhaft hielt sie das Buch fest, dass sie in der Hand hatte, fast so, als wollte sie sich daran festhalten. Sie wollte nicht mehr an ihn denken!

    Sie wollte vergessen, ihn, was er getan hatte und wie sehr er sie verletzt hatte. „Verflixt und zugenäht!", murmelte sie laut vor sich hin und wischte sich mit der Hand über das Gesicht, bevor sie weiter las.

    Wer wahre Liebe erfahren will, kann nur eines tun: lernen, sich selbst zu lieben

    Das Telefon klingelte und Franka schreckte hoch. Das konnte nur Karin sein. Freundschaft hin oder her, aber jetzt hatte sie keine Lust, sich anzuhören, dass sie sich von einem Profi helfen lassen oder wieder unter die Leute gehen sollte. Das Genörgel ging ihr auf die Nerven und die hingen gerade an einem sehr dünnen Faden. Morgen! Morgen würde sie ihr Leben ändern. Aber jetzt wollte sie ihre Ruhe haben und ließ es klingeln. Sie legte das Buch zur Seite, es war nicht gerade das, was sie lesen wollte. Ja, Liebe tat weh! Sie wollte nichts mehr von Liebe hören und im Moment auch nicht spüren, geschweige denn davon lesen oder sich in irgendeiner anderen Form damit beschäftigen. Sie musste ihr Herz schützen. Es war nicht leicht, ein so tiefes Gefühl wie Liebe aufzubauen und genauso schwierig war es auch, dieses Gefühl zu löschen. Sie wusste, dass nur die Zeit ihre Wunden heilen konnte. Nur die Zeit würde ihr dabei helfen, ihrer gebrochenen Seele irgendwann wieder einen kleinen Schimmer Hoffnung zu schenken. Bis dahin, das spürte sie, würde sie wohl noch einige Tode sterben müssen.

    Was auch immer sie auf die Idee gebracht hatte, dieses kleine grüne Buch mitzunehmen, es war im Augenblick nicht das richtige zum Entspannen. Glücklicherweise hatte sie noch mehrere andere Bücher zur Auswahl. Doch auch in diesen stand nur so esoterischer Kram drin. Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, woher sie diese Bücher hatte.

    Aus der Bücherei jedenfalls nicht. Hatte Karin sie mitgebracht? Es wäre ihr zuzutrauen, denn Karin las gern solche Bücher. Wahllos blätterte sie durch das zweite Buch und las einen Absatz, der ihr ins Auge sprang: Alles was uns im Leben begegnet, ist die Folge unserer eigenen Gedanken, Worte und Handlungen in der Vergangenheit. Diese verdeckten Schätze, ob nun positiv oder negativ, welche wir im Laufe von vielen Leben ansammeln, wird Karma genannt. Es ist das Gesetz von Ursache und Wirkung.

    Karma bedeutet, dass unser Verhalten anderen Menschen gegenüber zu uns zurückkehrt. Gedanken, die wir lange Jahre gehegt haben, kommen ständig aufs Neue zu uns zurück. Auch das Gute, das von uns ausgegangen ist, kehrt zu uns zurück. Das geschieht so lange, bis wir verstanden haben.

    Vertraue dem Leben! Nichts was du tust, ist ohne Bedeutung!

    Franka ließ das Buch vor sich sinken und blickte ins Leere. Was, fragte sie sich, was habe ich denn in der Vergangenheit angestellt, dass ich für meine Liebe bestraft werde? Oder verstand sie das einfach nur nicht?

    Unendlich viele Probleme, die noch nicht gelöst sind, die aus vielen Inkarnationen mitgebracht wurden, sollte man nach und nach auflösen. Beginne mit einem einzigen Problem und arbeite daran bis zur Auflösung. Dann erst nehme das nächste in Angriff. So wirst du immer klarer und bewusster werden.

    Franka sah erneut auf und seufzte tief. Was für ein Hokuspokus war das denn! „Beginne mit einem einzigen Problem, hallten die Worte in ihr wider. „Ja, rein theoretisch habe ich das verstanden…, sprach sie vor sich hin. „Aber mit welchem meiner Probleme fange ich an? Woher soll ich denn wissen, woher meine Probleme kommen?" Ärgerlich warf sie das Buch auf den Tisch und starrte an die gegenüberliegende Wand. Sie gab sich doch alle Mühe, versuchte ja, aus dem Rad ihrer Gedanken herauszukommen. Doch im Moment wusste sie gar nichts. Sie wusste nicht einmal, wie sie überhaupt weiterleben wollte. Sie wusste überhaupt nicht, was sie noch von diesem Leben erwarten sollte.

    Sie musste eingenickt sein, denn plötzlich kroch Gänsehaut über ihren Nacken, die Luft verdichtete sich und sie bekam keine Luft mehr. Eine Hitzewelle schlug über ihr zusammen und ein heller Lichtpunkt explodierte vor ihren Augen. Keuchend und um Atem ringend saß sie wie erstarrt auf dem Sofa und konnte sich nicht bewegen. Panik kroch in ihr hoch. Alles um sie herum begann sich zu drehen.

    Eine neue Hitzewelle schoss durch ihren Körper und sie spürte ihr Herz rasen. Ihr Magen fing an zu rebellieren und sie schloss die Augen. Von einem Moment zum anderen war alles vorbei, es wurde still. Dann drangen Stimmen in ihr Unterbewusstsein, laute Stimmen. Oder träumte sie? Ja, sie musste träumen! Was war geschehen? Woher kamen die Stimmen? Es roch nach Fleisch und Alkohol, nach Rauch und Schweiß. War womöglich mit ihrem Kamin etwas nicht in Ordnung?

    Erschrocken riss sie die Augen auf und sah zum Kamin. Doch da war kein Kamin mehr! Sie saß an der Wand eines großen Holzhauses. Das Haus war brechend voll, doch niemand beachtete sie. Schnell schloss sie die Augen wieder, doch die Stimmen blieben. Panik erfasste sie. Hatte sie jetzt den Verstand verloren und halluzinierte? Vorsichtig öffnete sie erneut die Augen und sah sich um, stumm und mit rasendem Herzschlag. Dabei bewegte sie sich nicht und hielt sogar die Luft an, um keinesfalls Aufmerksamkeit zu erregen.

    Doch niemand schien sie wahrzunehmen. Tausend Fragen schossen durch ihren Kopf, als ihr bewusst wurde, was sie sah: ein großer U-förmiger, grob gehobelter Tisch stand oberhalb einer Art Empore. Er war beladen mit Speisen und Krügen. Frauen liefen hin und her und bedienten die Anwesenden. Es gab kaum Fenster, nur zahllose Kerzen erhellten den Raum. In der Mitte brannte ein Feuer und viele unterschiedliche Gerüche hingen in der Luft. Ein großer rotblonder Mann, dessen Erscheinung sie erzittern ließ und völlig gefangen nahm, sprach lautstark mit seinen Nachbarn. Männer, die einem wirklich Angst einflößen konnten. Die Sprache kannte sie nicht, dem Klang nach musste es eine nordische sein. Völlig merkwürdig jedoch war, dass sie den Sinn dieser Worte verstand, als ob ein Übersetzer in ihrem wirren Hirn säße. Sie überlegte krampfhaft, ob sie vielleicht einen Termin in einer Fernsehshow hatte oder über einen Kinofilm berichten sollte, aber ihr fiel nichts ein.

    Die Männer sahen genauso aus, wie man sich Wikinger in ihren Langhäusern vorstellt. Viele von ihnen saßen unterhalb der Empore, sie machten den Eindruck von einfachen, arbeitenden Bauern und Handwerkern.

    Das Gefühl der Irrealität in Franka verstärkte sich zusätzlich, als sie an sich herabschaute: sie war barfuß und saß auf einem festgestampften Lehmboden. Wer war sie? Und wo war sie? Sie musste träumen! Sie kniff sich in den Arm, dass es wehtat, doch sie wachte nicht auf. Nicht ein Wort des Gesprochenen war ihr geläufig, aber sie spürte, dass hier etwas Besonderes vorging. Die Atmosphäre war spannungsgeladen, als ob alle auf etwas warteten. Gebannt beobachtete auch Franka den gut gebauten, rotblonden Mann am Kopfende des Tisches. Wikinger, dachte sie. Was wusste sie aus dieser Zeit? Raubzüge, Heiden, der Glaube an Götter wie Odin und Runen, das fiel ihr spontan ein. In Gedanken ging sie die Bücher durch, die sie aus dieser Geschichtsepoche gelesen hatte. Viele waren es nicht, so dass ihr Wissen ziemlich oberflächlich war. Sie durchsuchte ihr Gehirn und wünschte, es würde besser funktionieren. Schließlich musste sie sich eingestehen, wie wenig sie von den Geschehnissen dieser Zeit wusste. Sie nahm sich vor, das zu ändern, doch das half ihr gerade auch nicht.

    Dann sah der wortführende Wikinger, der eine Art Anführer zu sein schien, zu ihr herüber und zwinkerte ihr mit seinen blauen Augen zu. Ein Schwindelgefühl erfasste Franka und ein plötzliches Gefühl tiefer Liebe breitete sich in ihr aus. Sie erschrak. Nicht nur über dieses Gefühl, sondern auch darüber, dass es nicht ihr Gefühl war. Damit konnte sie nicht umgehen. Sie hätte dieses Buch nicht lesen sollen! Erneut sah sie zu dem Rotblonden hin, wandte den Blick aber rasch wieder ab. O Gott! Was war hier los? Als sie aufgeregte Stimmen hinter sich hörte, sprang sie auf und lief los. Instinktiv wusste sie, dass sie nicht hier sein durfte. Sie rannte so schnell ihre Beine sie trugen und schlüpfte durch irgendeine der Holztüren. Doch schon nach wenigen Metern fühlte sie ihre weichen Knie. Nur nicht in den Spiegel schauen, dachte sie. Es ist verboten! Sie wusste nicht, woher sie überhaupt wusste, dass hier ein Spiegel hing.

    Ein Spiegel bei den Wikingern? Doch beim Laufen erhaschte sie einen Blick darauf und blieb wie elektrisiert stehen. Sie war zutiefst verwirrt. Wer bin ich? Was sie im Spiegel sah, begriff sie nicht. Sie hatte ein graues Kleid an, das in Fetzen an ihr herunterhing, und sie hatte langes schwarzes, verfilztes Haar. Unter ihren blauen Augen waren dunkle Ringe zu sehen, die ihr junges Gesicht wie das eines Gespenstes erscheinen ließen.

    Atemlos schluckte sie den Kloß in ihrem Hals herunter. Das musste ein Traum sein!

    „Du kleines Miststück, geh sofort da weg!", rief eine große rothaarige Schönheit in Frankas Richtung. Sie hatte ihre Arme in die Hüften gestemmt und pure Wut flackerte in ihren Augen. Franka zögerte keinen Augenblick, drehte sich herum und lief in die entgegengesetzte Richtung davon auf eine Tür zu. Dann stand sie im strömenden Regen. Wer auch immer das gewesen war, diese Frau war mehr als wütend auf sie.

    „Almina! Almina, komm sofort hierher! Was ist heute bloß in dich gefahren?", rief es hinter ihr. Doch sie rannte weiter durch kalte Pfützen bis zur nächsten Tür und zurück in das überfüllte Gemeinschaftshaus. Voller Panik ließ sie sich auf die Knie fallen und kroch unter den Tischen entlang, bis sie bei den Füßen des großen Wikingers angekommen war. Dort rollte sie sich erschöpft zusammen. Hier war sie erst einmal sicher.

    Dieser Mann, zu dessen Füßen sie Zuflucht gesucht hatte, sprach mit einem festen und bestimmenden Tonfall. Er war offensichtlich daran gewöhnt, Befehle zu erteilen. Sie zwang sich zum Nachdenken: wer war dieser Mann, mit dem sie sich unsichtbar verbunden fühlte? Warum wurde ihr so warm ums Herz, wenn sie an ihn dachte? Und wer war die Frau, die nach ihr gerufen hatte? Seine Frau? Sie war so müde! Was gaukelte ihr ihr Gehirn da vor? Warum verstand sie jedes Wort, obwohl sie diese Sprache nicht kannte?

    Sie konnte fast körperlich den Kampf spüren, der in ihrem Kopf tobte: Wahrheit kämpfte gegen Traum. Oder war es die Wirklichkeit gegen die Illusion? Die Kraft, die sie hierher gebracht hatte, weigerte sich, sie wieder nach Hause zu bringen. Sie saß hier fest und ihr blieb nichts weiter übrig als abzuwarten, wie es weitergehen würde. Dies hier war Vergangenheit und gehörte nicht zu ihr.

    Es war nicht real. Es war ein Traum - wenn auch ein sehr echt wirkender. Wahrscheinlich war sie völlig verrückt. Sie hätte doch auf Karin hören und sich einen Termin beim Psychologen geben lassen sollen. Aber nein, sie wollte sich lieber verstecken und nicht den Tatsachen stellen!

    Lieber die Realität verleugnen und sich der Illusion hingeben, alles sei in Ordnung, warf sie sich selbst vor. Irgendwann wurde sie schläfrig und fiel in einen unruhigen Halbschlaf. Sie hatte wohl schon mehrere Stunden so unter dem Tisch gelegen, als ihr bewusst wurde, dass sie ganz erbärmlich fror. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr, sie fühlte sich fiebrig und zitterte. Der Wikinger, bei dem sie Schutz gesucht hatte, warf ihr hin und wieder unbemerkt kleine Essensportionen unter den Tisch. Automatisch steckte sie sich die Bissen in den Mund, denn ihr Magen knurrte. Aber sie hätte genauso gut auch Papier essen können. Sie aß rein mechanisch. Sie war eindeutig krank. Und wie sollte sie jemals wieder nach Hause kommen? Vielleicht träumte sie auch nur. Irgendwann schlief sie endgültig und völlig erschöpft ein.

    2

    Die kleine Sklavin verfolgte ihn eine ganze Weile wie ein unsichtbarer Schatten. Olav wusste, dass sie unter dem Tisch lag und nahm sich vor, den angsterfüllten Blick aus ihren Augen zu vertreiben. Diese wunderschönen großen Augen fesselten ihn, denn sie erinnerten ihn an jemanden. Eine innere Wut wallte in ihm hoch und das ihm selbst unerklärliche Bedürfnis, das Mädchen vor der Menge zu schützen, war übermächtig. Er würde denjenigen umbringen, der für ihren gehetzten Blick verantwortlich war. Doch vorerst musste er den Drang, sie hier herauszubringen, mit aller Macht unterdrücken. Ärgerlich ließ er seine Faust auf den Eichentisch donnern. Was war bloß mit ihm los? Er hatte wirklich andere Sorgen. Die heutige Versammlung würde noch länger dauern als gestern. Und es regnete immer noch. Es regnete schon seit einer Woche und seine Laune war inzwischen auf dem Tiefpunkt angekommen. Ginge es nach ihm, wäre er jetzt draußen und würde frische Luft atmen.

    Alle hatten sich versammelt, um das Land wieder sicherer zu machen: viele mächtige Landesmänner, Könige und Fürsten ihres noch jungen Norwegens, dazu der Ältestenrat und das Volk. Die politischen Beratungen hatten gerade erst begonnen und die Verhandlungen der Ältesten über die künftige Rechtsprechung waren noch in vollem Gange. Nach dem letzten Bauernaufstand bedurfte es jetzt einer neuen Führung. Jarl Håkon, einer der Fürsten, hatte viel Zwist hinterlassen. Wenn die Menschen hungerten, wurden sie zu Bestien. Håkon hatte es herausgefordert und – er hatte verloren! Nun lag es an ihm, den Menschen neue Hoffnung auf ein besseres Leben zu geben. Und er würde seine Mission erfüllen. Heute sollte eine Entscheidung fallen. Der neue König würde Ordnung und Gerechtigkeit für die Familien schaffen, denn das Volk war kriegsmüde und hungrig.

    „Das ganze Land ist im Chaos. Das muss im Sinne der Familien endlich ein Ende haben!", ließ Olav die Versammlung mit autoritärer Stimme wissen. Es war eindeutig eine Provokation an die anderen Männer, als wolle er sie herausfordern. Ja, er hatte Pläne und die wollte er durchsetzen, komme was wolle. Ein unruhiges Gemurmel folgte seinen Worten und das Stimmengewirr an den Tischen schwoll an. Olav sah in die Runde und wartete.

    „Olav soll unser König werden!", rief jemand aus der Menge.

    Einer der Wikingerfürsten fluchte und wandte sich ab.

    „Ja, Olav soll uns führen!", wiederholte ein anderer und weitere Anwesende erhoben sich zustimmend. Daraufhin erhoben sich alle, Älteste, Edle und Bauern.

    „Olav soll unser König werden!", riefen sie immer wieder im Chor, dabei klatschten sie in die Hände und stampften mit den Füßen auf. Olav neigte den Kopf, stand auf und ging zum Feuer. Mit einer triumphierenden Geste hob er seinen Becher und prostete seinem Volk mit einem lauten „Skål!" zu. Dorrell, sein Berater, hatte es ihm vorhergesagt. Doch dass es so schnell gehen würde, hatte Olav nicht erwartet und nickte ihm, seinem engsten Freund und Vertrauten, anerkennend zu. Endlich hatte er sein Ziel erreicht und seinen Platz eingenommen. Eine gute Wahl für sein Volk. Seine Anhänger jubelten und die Hochrufe wollten nicht enden.

    Olav war weit in der Welt herumgekommen. Er hatte viel gesehen und gelernt. Er hatte viel gekämpft und war ein wohlhabender, mächtiger Mann. Und er hatte große Veränderungen von seinen Reisen und Raubzügen mitgebracht. Mit Dorrell und den neuen Priestern plante er das Christentum in Norwegen einzuführen, um auch auf diesem Wege das Land seiner Väter zu einen und auf politisch sichere Beine zu stellen.

    *

    Dann war es endlich ruhig geworden. Die meisten hatten sich zurückgezogen oder schliefen ihren Rausch aus. Olav sah unter den Tisch: wie alt sie wohl sein mochte? Ihren dünnen Armen nach zu urteilen war die Kleine höchstens zwölf Jahre alt. Doch als er sie vorhin angesehen hatte, hatte er in ihren Augen eine tiefe Weisheit wahrgenommen, die er nicht deuten konnte. Ein unermesslicher Schmerz spiegelte sich darin, der ihn in seinem Innersten berührte. Nie zuvor hatte er solche Augen gesehen und ihn überkam das Gefühl, dass er dieses Mädchen vor Unheil beschützen müsse. Wer war sie? Als er sie auf den Arm nahm, musste er sein Entsetzen verbergen. Unter dem formlosen grauen Kleid konnte er fast jeden einzelnen Knochen spüren.

    Als Franka erwachte, hatte sich die fremde Welt noch immer nicht aufgelöst. Im Gegenteil: der Mann war echt, echt von Kopf bis Fuß, und er trug sie auf dem Arm. Sie spürte deutlich seine Wärme. Aus seinen leisen Worten, die jedoch ihren Verstand nicht erreichten, sprach Besorgnis. Franka regte sich nicht. Woher sollte sie wissen, wie sie mit den Menschen in dieser Zeit umgehen musste, wenn sie noch nicht einmal ihre Sprache sprechen konnte? Dass sie sie verstand, war schon verwirrend genug. Man würde sie für verrückt erklären. Vielleicht war sie das ja auch und saß schon längst in einer Irrenanstalt.

    „Olav!, rief eine Frau. Olav blieb stehen und drehte sich um. „Hej, Astrid, antwortete er langsam. Astrid war voller Groll und gereizt. Franka erkannte die Stimme. Sie war sofort auf Flucht eingestellt, doch Olav drückte sie fest an sich. Sie war in seinen Armen gefangen.

    „Du bist jetzt König", stellte die Frau fest und blieb zwei Schritte vor ihm stehen.

    „Ja, und? Was willst du damit sagen?", fragte er ruhig.

    Astrid fixierte ihn mit kalten Augen.

    „Was willst du mit ihr?", fragte sie, ohne das Mädchen anzusehen.

    „Ich bringe sie in mein Haus und werde…"

    „Nein, auf keinen Fall, schrie Astrid empört auf. „Olav, ich verbiete es dir! Sie war ungehorsam und muss bestraft werden.

    Olav fixierte Astrid mit zusammengekniffenen Augen. Franka stöhnte leise auf.

    „Das Mädchen gehört mir. Was willst du mit einer unbedeutenden kleinen Sklavin?" Er zögerte eine Sekunde und runzelte nachdenklich die Stirn. Noch bevor er etwas erwidern konnte, fuhr Astrid fort, änderte jedoch ihre Tonlage.

    „Vergebt mir, mein König… Ich habe mich drei Jahre lang um das Kind gekümmert. Ich mache mir nur Sorgen." Olav spürte wie das Mädchen in seinen Armen steif wurde.

    Sie atmete schwer und hatte eindeutig Furcht. Er wollte nicht, dass sie Angst hatte.

    „Ich glaube nicht, dass du diejenige bist, die sie bestrafen wird, sagte Olav mit leiser Stimme. Franka entspannte sich ein wenig. Er würde nicht zulassen, dass diese Frau ihr wehtat. „Ich möchte wissen…, er stockte. Er konnte es selbst nicht einordnen, was ihn dazu bewog, sich Sorgen um eine Sklavin zu machen. Doch warum sollte er das seiner Schwester erklären? Er war jetzt König, er brauchte gar nichts mehr zu erklären.

    „Ich bringe sie in mein Haus", wiederholte er und warf seiner Schwester einen warnenden Blick zu. Einen Moment lang schien sie ihm zum zweiten Mal widersprechen zu wollen, doch sie schwieg. Dann überlegte sie es sich anders und nickte ergeben.

    „Wenn du etwas über sie weißt, er betonte diese Worte, „etwas das ich wissen sollte, dann berichte es mir nachher in meinem Haus. Und jetzt suche nach dem Heiler. Wir brauchen Medizin und saubere Kleidung. Und zwei Frauen, die mir zur Hand gehen. Und heißes Wasser.

    Sie nickte, sah jedoch nicht gerade erfreut aus.

    Olav wollte weitergehen, stockte noch einmal kurz und atmete tief ein: „Und noch etwas, Astrid. Es wird keine Sklaven mehr geben. Auch nicht für dich." Mit diesen Worten ließ er sie stehen und ging festen Schrittes hinaus.

    *

    Wind und Regen ließen Franka frösteln, als er aus der großen zweiflügeligen Tür trat. Aus dem Augenwinkel heraus sah sie erstaunt, dass das Langhaus, in dem sie sich aufgehalten hatten, überhaupt nicht als Haus zu erkennen war. Es sah mehr aus wie ein Grashügel. Unwillkürlich suchte sie nach den laufenden Kameras, doch es waren keine zu entdecken. Olav schritt zügig und geradewegs auf eines der großen Holzhäuser zu. Franka schloss die Augen und betete, dass dies alles nur ein Traum sei oder die Kulisse eines guten Films.

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