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Windmühlentage: Roman
Windmühlentage: Roman
Windmühlentage: Roman
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Windmühlentage: Roman

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About this ebook

Eva ist Mitte dreißig, schwanger und auf einer Reise nach Zürich spontan als Dolmetscherin in einem spanisch-russischen Theaterprojekt eingesprungen. Eigentlich ist sie auf der Suche nach Spuren ihrer verstorbenen Mutter. Nun steckt sie mitten in einem Konflikt um die richtige Inszenierung von "Don Quixote": Wieviel Fiktion verträgt die Wahrheit? Können wir uns unsere Lebensgeschichte aussuchen? Und wer erzählt diese Geschichte eigentlich? Eva spürt, dass diese Fragen mehr mit ihr selbst zu tun haben, als ihr lieb ist. Auch ihre Suche gleicht allzu oft einem Kampf gegen Windmühlen. Wird es ihr gelingen, Wahrheit und Fiktion zu trennen? Katrin Köhl erzählt feinfühlig und mit großer Beobachtungsgabe von einer Frau auf der Suche nach der eigenen Lebenserzählung.
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateAug 6, 2020
ISBN9783347087347
Windmühlentage: Roman

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    Book preview

    Windmühlentage - Katrin Köhl

    Ankunft

    Ein leichter Geruch von Urin auf warmem feuchtem Stein. Sobald ihr die vertraute Mischung in die Nase stieg, wusste Eva: sie war angekommen. Die Duschen lagen rechts und links der Terrasse, direkt neben den Toiletten mit den hellblauen Holztüren. Abends stapfte sie mit ihrem Vater durch den Sand nach oben, sonnenwarm oder fröstelnd von Wind und kaltem Meerwasser. Wenn sie die Gettoni, die Signor Bertoni ihnen umsonst gab, in das abgewetzte Metallkästchen steckte, hüllte der Dampf in der gemauerten Duschkabine sie ein wie ein Willkommensgruß. Über ihr der Himmel, manchmal blau, oft aber grau, mit Wolken, die der Scirocco vor sich hertrieb. Sie kamen im Frühjahr und im Herbst. Es waren die Zeiten der Arbeit. Des Aufräumens und der Vorbereitung. Wenn Bernd den alten VW-Bus im Herbst auf der Terrasse des Restaurants parkte, waren die Spuren der Saison schon fast beseitigt. Sonnenschirme und Liegestühle hatte Eva nie gesehen. Vereinzelt wurden noch Boote winterfest gemacht. Vor allem aber mussten die Zäune aufgebaut werden, die verhinderten, dass der Sand im Winter bis auf die Terrasse geweht wurde.

    Eva und Bernd waren in dem kleinen Kosmos von Signor Bertonis Strandbad so etwas wie Zwitterwesen, keine Einheimischen, aber auch nicht wirklich Touristen. Bernd half dem Padrone beim Auf- und Abbau vor und nach der Saison, dafür durften sie kostenlos direkt am Restaurant campen. Wenn Eva und ihr Vater ankamen, wurden sie jedesmal herzlich begrüßt.

    »Ecco, arrivano i tedeschi! Die Deutschen sind wieder da!«

    Die Einheimischen kannten sie schon. Ebenso wie die clienti, die Sommergäste, die in der Zeit um Ostern ihren ersten großen Auftritt hatten. Wie sie in Signor Bertonis Bagno Einzug hielten, erinnerte Eva immer an eine Fronleichnamsprozession: in feinem Zwirn und hochglanzpolierten Stöckelschuhen, die Kinder matrosenblau oder rüschenbehangen, vorneweg mit einem spitzenbesetzten Tuch um die Schultern und wichtiger Miene die nonna als Älteste der Familie. Sie kamen, um für die Sommermonate Liegestühle und Sonnenschirme in den vorderen Reihen zu reservieren. Mit den Jahren hatten sie sich wohl an den rostenden blauen VW-Bus mit Stuttgarter Kennzeichen gewöhnt, der mitten auf der Sonnenterrasse stand, direkt vor dem Panoramafenster des Restaurants. Trotzdem gehörte es zu ihrem Osterritual, auf dem Weg vom Bagno zum Strand langsam in geordneter Formation die Terrasse zu durchschreiten. Hörbar klingelten Großmütter und Tanten mit den goldenen Kettchen, die sie um Hals und Handgelenke trugen, und warfen missbilligende Seitenblicke auf das klapprige Gefährt. Bernd grinste dann immer süffisant. Er klopfte Eva auf die Schulter.

    »Merkst du es? Wir zwei Hippies stören die großbürgerlichen Kreise.«

    So war es immer gewesen. Sie beide gegen den Rest der Welt.

    »Wir sind die Familie, vergiss das nie!«

    Wie hätte Eva es je vergessen können? Sie hatte ja nur ihren Vater.

    Jetzt saßen sie sich zu Hause am Küchentisch gegenüber. Er stopfte genüsslich seine Pfeife, zog ein paar Mal daran, paffte Rauchwölkchen in die Luft.

    »Und? Was gibt’s so Wichtiges zu erzählen?«

    Wo sollte sie beginnen? Am Abend zuvor war sie nach Hause gekommen. Sie war nur zwei Wochen weg gewesen, doch es fühlte sich an, als habe sie zwei Jahre auf einem fernen Kontinent verbracht. Der kleine Holztisch, an dem sie seit Evas Kinderzeit gemeinsam gefrühstückt hatten, erschien ihr auf einmal wie ein unüberwindliches Hindernis zwischen ihnen. Waren sie sich nicht immer nah gewesen? Wann hatte sich das verändert? Vermutlich hatte es an jenem Tag im Januar begonnen, als Eva sich mit Ruben im alten Waisenhaus traf.

    Januar

    Es wurde langsam hell. Eva stand am Fenster. Sie drehte ihr Wasserglas in den Händen. Die Wiese im Garten war nass und matschig, die kahlen Büsche vom Ostwind zerzaust. Es würde Schnee geben. Hoffentlich sprang in ihrem alten Polo die Heizung an. Bernd war schon unterwegs zur Arbeit, der dunkelbraune, in die Jahre gekommene Holztisch stand da, wie er ihn verlassen hatte. Sie nahm die Kaffeetasse und das Frühstücksbrett, trug beides zur Spüle. Bernd trank seinen Kaffee aus alten Porzellantassen, die er von seiner Mutter geerbt hatte. Man musste sie von Hand spülen. Eva drehte den Wasserhahn auf und wusch die Tasse ab. Sie räumte die Anrichte ab, stellte die Butter in den Kühlschrank, die Marmeladen ins Regal. Dann leerte sie die Reste von Pfeifentabak in den Mülleimer und spülte den Aschenbecher. Der süßliche Geruch des Tabaks hing noch in der Luft. Die Pfeife lag ordentlich geputzt in einem Korb in der Mitte des Tisches. Daneben hatte der Vater einen Zettel gelegt. Bitte Tabak mitbringen! Er bestand auf einem ganz bestimmten Pfeifentabak aus einem Laden im Stuttgarter Westen, nicht weit von dem Buchladen, in dem Eva arbeitete. Sie hob den Korb hoch, wischte den Tisch ab, stellte die Pfeife dann vorsichtig wieder ab. Zehn Minuten, mehr Zeit müsste der Vater morgens nicht aufwenden, um seine Küche nach dem Frühstück wieder in Ordnung zu bringen. Er tat es nie. Jeden Morgen war es Eva, die rechtzeitig von oben herunterkam, um bei ihm sauber zu machen, bevor sie zur Arbeit ging.

    Eva trank einen Schluck Wasser. Dabei spürte sie dieses leichte Gefühl von Übelkeit, das sie seit einigen Wochen jeden Morgen hatte. Es fühlte sich an wie ein dumpfer schmerzender Fleck in ihrem Magen. Wenn es so blieb, war es auszuhalten. Manchmal jedoch begann der Fleck, sich auszubreiten. Dann schien die Übelkeit regelrecht Besitz von ihr zu ergreifen, bis sie sich von einem Augenblick auf den anderen übergeben musste. Sie konzentrierte sich auf ihr Wasserglas und überlegte, ob sie noch eine Scheibe Brot essen sollte, als sie oben das Telefon klingeln hörte. Wer konnte das um diese Zeit sein? Eva rannte die Treppe hinauf in ihre Wohnung im ersten Stock und griff nach dem Telefon, das im Flur auf der Kommode stand.

    »Brandes.«

    »¡Hola corazón! Hallo, mein Herz!«

    Ruben. War er schon aus Argentinien zurück?

    »Bist du in Stuttgart? Wie war die Reise?«

    »¡Muy bien! Sehr gut. Gestern Nacht bin ich wieder hier gelandet.«

    Einen Moment war es still.

    »Ich möchte dich sehen.«

    Diese Selbstverständlichkeit in seiner Stimme. Sie war Eva schon bei ihren ersten Treffen aufgefallen. Die letzen vier Wochen war er bei seiner Familie in Buenos Aires gewesen. Wir telefonieren, hatte er gesagt. Eva ging das alles zu schnell. Sie hatte sich Zeit erbeten.

    »Wie wäre es in der Mittagspause? Um zwölf im alten Waisenhaus?«

    Eva strich mit der Hand über die Fransen des kleinen Wollläufers, der auf der Kommode lag. Einfach nein sagen. Einen Termin vorschieben. Behaupten, sie sei krank.

    »Vor halb eins kann ich nicht.«

    »Abgemacht. Ich warte auf dich – Eva?«

    »Hmm?«

    »Ich habe dich vermisst.«

    Er war einfach da gewesen, an jenem Abend im November. Saß im Hotel Cortina an der Bar, vor sich ein Glas Bier. Die Jeans und das Hemd, das er trug, waren dunkel. Das einzige, was auffiel, waren die leuchtend gelben Turnschuhe. Eva trank Weißwein, obwohl sie den ganzen Abend noch nichts gegessen hatte.

    »Er kommt nicht mehr, oder?«

    Er nahm sein Bierglas und kam zu ihr herüber.

    »Darf ich?«

    »Bitte. Ja, vermutlich habe ich umsonst gewartet.«

    Woran hatte er gemerkt, dass sie auf jemanden wartete?

    »Wissen Sie, wie die Franzosen sagen, wenn jemand ganz lange wartet?«

    Sie schaute überrascht auf. Dann lächelte sie.

    »Ich weiß, es heißt faire le poireau, aber ich habe mich immer gefragt, wie sie auf Lauch kommen. Vielleicht, weil man, wenn man lange steht, aussieht wie eine Lauchstange?«

    »Es gibt auch faire le pied de grue, das spielt auf den Kranich an, der ewig auf einem Bein steht.«

    Eva drehte ihr Weinglas in den Händen und spürte, dass ihr der Kopf wehtat. Sie schloss kurz die Augen.

    »Sie sollten etwas essen.«

    »Ich glaube, ich gehe nach Hause.«

    Vorsichtig stand sie auf. Er hatte sich ebenfalls erhoben.

    »Kann ich Ihnen helfen?«

    »Nein, vielen Dank. Gute Nacht.«

    Eva bezahlte den Wein und verließ die Bar.

    Zwei Wochen später sah sie ihn wieder. Er saß am gleichen Platz. Als sie hereinkam, hob er sein Bierglas und prostete ihr zu.

    »Sie waren letzten Freitag nicht da.«

    »Nein.«

    Eva bestellte wieder Weißwein. Er saß ganz am Ende der Bar. Sie ließ vier Stühle Platz zwischen sich und ihm. Einen Moment schwieg sie, fuhr mit der Hand über das glatte Holz des Tresens.

    »Letzte Woche war es Dienstag.«

    »Und?«

    Sie tat, als hätte sie ihn nicht verstanden.

    »Ist er gekommen?«

    Eva nickte wortlos.

    »Na dann …«

    Er bestellte ein zweites Bier. Wartete er auch auf jemanden? Jedenfalls schien er es nicht eilig zu haben. Eva schätzte, dass er ungefähr so alt war wie sie selbst, vielleicht etwas jünger, Ende zwanzig, Anfang dreißig. Wieder trug er ein dunkles Hemd zur schwarzen Hose. Die Turnschuhe waren diesmal hellgrün. Sie schaute auf die Uhr. Frank hätte schon seit einer Viertelstunde da sein sollen. Vielleicht hatte seine Sitzung wieder länger gedauert? Er würde kommen, ganz bestimmt. Freitags war es schwieriger als unter der Woche. Seine Frau wollte, dass er schon am Nachmittag zu Hause war, um mit der Familie das Wochenende zu beginnen. Aber wenn Eva und er es unter der Woche nicht geschafft hatten, sich zu treffen, schob er hin und wieder auch am Freitag Geschäftstermine vor, um mit ihr zusammen zu sein.

    Zwanzig Minuten waren vergangen. Eva wurde immer unruhiger. Schließlich stand sie auf und ging mit ihrem Weinglas ans Ende der Bar.

    »Warten Sie auch?«

    »Nein. Ich bin einfach da. Ich heiße übrigens Ruben.«

    Er machte eine einladende Handbewegung.

    »Eva.«

    Sie setzte sich neben ihn auf einen Hocker. Eine Zeit lang sagte keiner etwas. Eva nippte an ihrem Weinglas. Immer wieder blickte sie verstohlen zur Tür. Ruben trank einen Schluck von seinem Bier. Dann drehte er sich zu ihr.

    »Ist er verheiratet?«

    Eva spürte, wie sie rot wurde. Es war so offensichtlich. Treffen im Hotel. Warten. Immer wieder der ungewisse Blick zur Tür: Kommt er?

    Sie nickte.

    »Scheiße.«

    Es kam so unvermittelt, dass Eva lachen musste.

    »Das kannst du laut sagen.«

    Er hatte es auf den Punkt gebracht. Ein Wort nur, aber Eva fühlte sich verstanden.

    »Bist du … Sind Sie Künstler?«

    Er lachte.

    »Lass uns beim Du bleiben. Ich bin Theatermaler an der Oper. Daneben arbeite ich auch als freier Künstler. Und du?«

    »Buchhändlerin.«

    »Hier in Vaihingen?«

    »Im Westen. Buchhandlung Keller in der Augustenstraße.«

    Der Barkeeper nahm ihr leeres Glas.

    »Darf ich Ihnen noch eines bringen?«

    Eva zögerte. Sie schaute auf die Uhr.

    Ruben machte eine auffordernde Handbewegung.

    »Komm, ich lade dich ein.«

    »Danke. Das brauchst du nicht. Ich muss jetzt auch los.«

    »Mach ich doch gern.«

    Er trank sein Bier aus und wandte sich an den Mann hinter der Bar.

    »Rechnen Sie alles zusammen.«

    Gemeinsam gingen sie nach draußen.

    »Mein Auto steht gleich da drüben.«

    Eva zeigte zum Parkplatz. Ruben machte eine Kopfbewegung zur anderen Seite.

    »Ich bin mit dem Fahrrad da. Bis Rohr, wo ich wohne, ist’s nicht weit.«

    Er holte einen Schlüsselbund aus der Tasche, machte aber keine Anstalten zu gehen.

    »Vielleicht treffen wir uns hier mal wieder.«

    Sie antwortete nicht.

    »Im Übrigen hat Vaihingen auch noch ein paar nette Kneipen. Warst du mal im Krokodil?«

    Eva lächelte.

    »Lustiger Name. Nein, das kenne ich nicht.«

    »Da musst du unbedingt hin. Hast du nächsten Freitag schon was vor?«

    Eva schluckte. Suchte nach etwas, das sie sagen konnte.

    »Guck nicht so verschreckt. Ich hab nicht vergessen, dass du auf ihn wartest. Und ich wünsche dir, dass er nächsten Freitag kommt. Wenn nicht, können wir ja immer noch ins Krokodil gehen. Also tschüss, mach's gut!«

    Er schwenkte seinen Schlüsselbund, deutete ein Winken an und verschwand in Richtung Vaihinger Bahnhof.

    Am Freitag saß Eva allein unten im Wohnzimmer. Im Fernsehen lief eine Quizshow. Sie hörte nur mit halbem Ohr zu. Lustlos stocherte Eva in einem Teller mit Spaghetti, die sie in der Küche in einem Topf gefunden und aufgewärmt hatte. Ihr Vater war nicht da. Irgendeine Sitzung mit Gewerkschaftskollegen. Frank hatte sie am Mittwoch kurz getroffen. Er war übers Wochenende auf einer Familienfeier.

    Die Spaghetti waren kalt geworden. Eva schob den Teller zur Seite. Frank saß jetzt vielleicht irgendwo und trank Wein mit seiner Frau. So wie am Mittwoch mit ihr. Sie versuchte, sich die beiden vorzustellen. Im Kreis einer Schar von Verwandten, die um einen großen Tisch herum saßen. Kinder sprangen lachend und lärmend um die Erwachsenen herum und bettelten, länger aufbleiben zu dürfen. Würde sie selbst so etwas je erleben? Frank war schon der zweite verheiratete Mann, in den sie sich verliebt hatte. Immer wieder heulte er sich bei ihr aus, wie schlecht es mit seiner Frau laufe und dass er sich eigentlich von ihr trennen wolle. Eigentlich. Aber dann kam die nächste Familienfeier. Ausgerechnet bei dieser konnte er nicht fehlen, das musste sie verstehen. Die Eltern, die Geschwister, die alte Tante, sie wären enttäuscht. Sie freuten sich so, wenn er mit Frau und Kindern kam. Und sie? Sie saß mit kalten Spaghetti vor dem Fernseher. Der Kandidat der Quizshow rief seine Mutter an, um sie zu fragen, was la cucaracha auf Deutsch bedeutete. Eva wusste es. Sie schaute auf die Uhr. Kurz vor neun. Sollte sie nach Vaihingen fahren? Genau genommen war sie mit Ruben nicht wirklich verabredet. Ob er an der Bar im Cortina saß und auf die Uhr schaute, wie sie selbst es so oft getan hatte? Plötzlich fand Eva den Gedanken tröstlich, dass irgendwo jemand auf sie wartete. Sie zog sich die Schuhe an, nahm den Autoschlüssel vom Haken und ging nach draußen.

    Auf der Kaltentaler Abfahrt fiel ihr ein, dass sie sich nicht einmal geschminkt hatte. Sie war einfach losgefahren. Was würde er denken, wenn sie ungeschminkt in Jeans und Pulli auftauchte? An den Abenden, an denen sie auf Frank gewartet hatte, hatte sie kurze Röcke und anliegende Oberteile getragen, die ihre üppigen Rundungen betonten. Die langen schwarzen Haare hatte sie hochgesteckt, Parfüm benutzt. Andererseits sollte Ruben ja auch nicht den Eindruck haben, sie wolle mit ihm anbändeln. Sie war mit Frank zusammen. Hoffte gegen jede Wahrscheinlichkeit, dass er sich doch noch von seiner Frau trennen würde. Dass eines Tages sie diejenige wäre, die mit ihm im Kreis von Freunden oder Verwandten an einem Tisch saß und lachend eine Schar Kinder zur Raison brachte. Seufzend stellte Eva den Polo auf dem Parkplatz ab und ging auf die Eingangstür des Hotels zu. Sie traf einen Freund. Nicht mehr. Gut, dass sie sich nicht umgezogen oder aufwändig zurechtgemacht hatte.

    Eva betrat die Bar und schaute sich um. Am Tresen saß ein Paar. Einige Tische waren belegt. Ruben war nicht da. Sie spürte, wie Enttäuschung in ihr hochstieg. Gleichzeitig ärgerte sie sich über sich selbst. Wie konnte sie annehmen, dass er einen ganzen Abend lang hier sitzen und auf sie warten würde! Es war zwanzig nach neun. Selbst wenn er da gewesen wäre, wäre er wohl längst gegangen. Hätte angenommen, dass sie nicht kam. Als sie wieder auf den Parkplatz kam, sah sie ihn. Er stand in der Nähe des Bahnhofskiosks und schloss sein Fahrrad auf. Sollte sie sich bemerkbar machen? Als hätte er ihre Anwesenheit gespürt, drehte er sich um. Er winkte ihr zu.

    «Eva! Schön, dass du da bist. Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.«

    Eva zupfte ihren Schal zurecht, fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Ruben schloss das Rad wieder an und winkte Eva zu.

    »Komm! Wenn wir Glück haben, finden wir im Krokodil noch ein Plätzchen.«

    Sie gingen das kurze Stück zu Fuß.

    Die Kneipe war bis auf den letzten Platz besetzt. Über der Bar hingen Fußballschals diverser Clubs und ein VfB-Wimpel. Eine große Tafel an der Wand pries das Bier der Woche an. Es kam von einer kleinen Brauerei aus Isny im Allgäu. Ruben winkte einer der Bedienungen. Sie war dabei, vier Teller mit Flammkuchen zu einem Tisch zu bringen. Danach kam sie zu ihnen, umarmte Ruben. Sie sagte etwas zu ihm, das Eva nicht verstand, und zeigte auf einen kleinen Tisch in der Ecke. Die beiden Frauen, die dort gesessen hatten, waren gerade im Aufbruch. Als sie gegangen waren, schob Eva sich auf die Bank an der Wand. Ruben setzte sich ihr gegenüber. Eva ließ den Blick durch den kleinen Raum schweifen. Zwei gusseiserne Stützpfeiler in der Mitte. An einer der Wände prangte ein großes gemaltes Krokodil, an den anderen hingen gerahmte Poster. Mick Jagger, die Rolling Stones, Frank Zappa.

    Sie bestellten das Weizenbier aus dem Allgäu. Ruben erzählte Eva von seiner Arbeit an der Oper, von seiner Familie und den Orten, an denen er als Kind gelebt hatte. Sein Vater, ein Deutscher, war ein hohes Tier in einem weltweit operierenden Konzern. Die Familie war immer wieder umgezogen. Zu Hause war für Ruben der Ort, an dem seine Mutter war. Sie, die Künstlerin, eine gebürtige Spanierin, war der Ruhepol, der Hafen, zu dem er immer wieder zurückkehrte. An welchem Platz der Erde das gerade war, war ihm egal. Das Leben draußen war für ihn immer eine Einladung zum Abenteuer gewesen. Als Kind war er durch die Städte, in denen sie wohnten, gestreunt, immer mit einem Skizzenblock unterm Arm, hatte Häuser, Menschen, Stadtansichten gezeichnet, mit den Leuten auf den Märkten und Plätzen geredet. Er war überzeugt, das Meiste von dem, was er im Leben brauchte, auf den Straßen seiner Kindheit gelernt zu haben. Immer wieder wechselte die Umgebung. Auch die Häuser, in denen er wohnte, waren immer wieder andere. Was blieb, war das Atelier seiner Mutter. Ihre Bilder wurden in einem neuen Haus immer als erstes aufgehängt.

    »Meistens war das Atelier früher eingerichtet als die Küche oder das Wohnzimmer.«

    Er lachte, trank einen Schluck aus seinem Bierglas.

    »Ich bin praktisch im Atelier aufgewachsen. Du hättest mich mal sehen sollen, als sie versuchten, mich in den Kindergarten zu schicken!«

    »Du wolltest dort nicht hin?«

    »Auf keinen Fall! Wir waren damals in Paris. Meine Schwester Cristina war schon in der école maternelle. Ich sollte dann auch dort hin. Aber ich fing an zu schreien, bekam Tobsuchtsanfälle, lief immer wieder weg. Schließlich haben sie kapituliert.«

    Ruben blieb, wo er ohnehin am liebsten war, bei seiner Mutter im Atelier. Er bekam eine eigene kleine Staffelei. Fortan malten sie zu zweit. Die Mutter ermutigte ihn, zeigte ihm die verschiedenen Techniken, nahm ihn mit, wenn sie mit dem Skizzenblock auf einen ihrer ausgedehnten Spaziergänge ging.

    »Ich bin recht früh auch allein losgezogen. Mein Vater wusste lange Zeit nichts davon. Er hätte es nicht erlaubt. Als Grundschüler allein in Paris, mit zehn dann in Tallinn, das war kurz nach der Wende. Als ich dreizehn wurde, zogen wir nach Sankt Petersburg. Wie man Porträts malt, habe ich von den Straßenmalern auf dem Nevskij Prospekt gelernt.«

    Besonders fasziniert war Eva von Rubens Art, Sprachen zu lernen. In seinen Erzählungen hörte es sich an, als würde er sie einatmen wie die Gerüche eines Basars.

    »Hast du nie Vokabeln gelernt?«

    Ruben schüttelte den Kopf.

    »Sprache ist für mich Teil eines Ganzen. Wenn ich unterwegs bin, mache ich mich auf und lasse alles in mich einströmen: Farben, Geräusche, Gerüche. Die Menschen einer Stadt, eines Landes, ihre Kultur, die Geschichten, die ihr Leben prägen. Alles ist untrennbar miteinander verbunden, die Sprache steht nicht für sich.«

    Er trank einen Schluck, lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

    »Und du? Lernst du Vokabeln?«

    Eva strich mit dem Zeigefinger über eine Kerbe in der Tischplatte. Sie schaute Ruben nicht an.

    »Ich lese Wörterbücher.«

    Würde er sie auslachen? Normalerweise erzählte Eva niemandem von ihrer Leidenschaft für fremde Sprachen, deren Grammatik und Etymologie. Nicht einmal ihr Vater wusste von der Menge an Wörterbüchern und Sprachlehrwerken aller Epochen, die sich in Evas Zimmer stapelten. Einzig ihre Freundin Giulietta war eingeweiht. Mit der jüngsten Tochter von Signor Bertoni, dem Padrone des Bagno, hatte Eva als Kind in den Ferien gespielt und dabei Italienisch gelernt. Auch die Grundlagen des Lateinischen und Griechischen hatte Giulietta, die das altsprachliche Gymnasium besuchte, Eva beigebracht. Bis heute schrieben die Freundinnen sich Briefe, in denen sie über linguistische Themen fachsimpelten.

    Eva schob ihr Glas ein Stück zur Seite. Sie blickte zu Ruben.

    »Ich lese Grammatiken und Wörterbücher wie einen Roman. Mich interessieren Strukturen, Entwicklungslinien. Die Aussprache höre ich mir auf CDs an und versuche dann, herauszufinden, wie ein Laut genau gebildet wird, was ihn von den Lauten einer anderen Sprache unterscheidet. Am Ende entsteht dabei auch ein Gesamteindruck, aber es ist mehr wie ein Mosaik, das ich langsam zusammensetze.«

    Ruben schaute sie verwundert an. Dann nickte er.

    »Du kennst den Stadtplan.«

    »Was meinst du damit?«

    »Wenn ich in eine Stadt komme, finde ich intuitiv die Kirche, den Markt und den Platz, wo sich die Straßenmusiker treffen. Ein Plan verwirrt mich. Du hast den Stadtplan im Kopf. Und vermutlich weißt du immer, wo Norden ist.«

    So hatte Eva es noch nie betrachtet. Aber vielleicht beschrieb dieses Bild den Unterschied zwischen ihnen ganz gut. Ruben prostete ihr zu.

    »Zum Glück sind die Menschen und ihre Wahrnehmung verschieden. Sollten wir je zusammen verreisen, werden wir wunderbar zurechtkommen.«

    Sie hatten sich danach noch ein paarmal im Krokodil verabredet. Eva freute sich auf die Treffen mit Ruben. Sie fühlte sich leicht und unkompliziert, wenn sie mit ihm zusammen war, und genoss seine Aufmerksamkeit. Frank dagegen schien sich ihr mehr und mehr zu entziehen. Sie drängte auf gemeinsame Zeit, er tauchte immer öfter zu ihren Verabredungen nicht auf. Eines Abends rief er aus heiterem Himmel an und bestellte sie für den ersten Advent um sieben Uhr abends ins Cortina. Ein Treffen am Sonntag, dem Tag, der sonst immer der Familie vorbehalten gewesen war. Was mochte das bedeuten? Konnte sie es wagen zu hoffen? Hatten Frank und seine Frau einen letzten Versuch gemacht und sich nun doch getrennt? Vielleicht hatte er deshalb so wenig Zeit gehabt in den letzten Wochen. Er war mit der Trennung von seiner Frau beschäftigt. Jetzt war er frei für Eva. In der Woche vor dem Termin konnte sie kaum noch essen. Nachts schlief sie unruhig. Schließlich erzählte sie Ruben bei einem ihrer Treffen von Franks Anruf. Er hörte zu, sagte aber nichts.

    Am Morgen des ersten Advents wachte Eva früh auf. Sie versuchte, ein Kapitel in einer historischen französischen Grammatik zu lesen, aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Der Abend schien noch so unendlich weit weg zu sein. Lange stand Eva vor dem Kleiderschrank und überlegte, was sie anziehen konnte. Heute sollte ihr großer Tag sein. Das Warten der vergangenen Monate würde nicht umsonst gewesen sein.

    Viel zu früh saß sie an der Bar des Cortina. Von ihrem Weißwein trank sie nichts, ihr war ohnehin schon leicht schwindelig, weil sie den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Aufgeregt nestelte sie an ihrer Handtasche, holte den kleinen Spiegel heraus, prüfte ihr Make-up. Dann saß sie wieder vor ihrem Glas, schaute auf die Uhr neben der Eingangstür. Es war inzwischen halb acht. Im Lauf der nächsten halben Stunde trank Eva den Wein aus. Sie bestellte ein zweites Glas. Um halb neun hörte sie, wie die Tür zur Bar aufging. Sie drehte sich nicht um, versuchte, sich auf dem Barhocker aufzurichten, hielt das Weinglas mit spitzen Fingern. Dann spürte sie die Hand auf ihrem Arm.

    »Komm mit. Es tut dir nicht gut, wenn du hier noch länger sitzt.«

    Ruben. Er bezahlte Evas Wein und nahm ihre Hand. Sie spürte, dass ihr Tränen die Wange hinunterliefen. Auf dem Parkplatz holte er ein in Alufolie gewickeltes Päckchen aus seiner Tasche.

    »Ich habe dir Crêpe mit Schokolade mitgebracht. Würde mich wundern, wenn du heute schon etwas gegessen hättest.«

    Dankbar biss Eva in den eingerollten Pfannkuchen. Er war sogar noch warm. Ruben nahm wieder ihre Hand.

    »Du solltest auf andere Gedanken kommen. Möchtest du sehen, woran ich gerade arbeite?«

    Eva schaute ihn an, kaute. Langsam wich der Schwindel, sie fühlte sich etwas stabiler.

    »Ein Bühnenbild an der Oper?«

    »Nein, ein Auftrag in Nürtingen. Dort wird gerade ein altes Programmkino wiederhergerichtet. Ich bemale die Wände im Saal und im Café. Bist du mit dem Auto da? Wir könnten gemeinsam hinfahren.«

    Alles erschien besser, als an diesem Abend allein zuhause zu sitzen. Gemeinsam gingen sie zu Evas Polo. Sie schob das letzte Stück Crêpe in den Mund, warf die Alufolie in einen Mülleimer und öffnete die Autotür.

    Der Saal war nicht besonders groß. Zehn Stuhlreihen mit roten Plüschsitzen. An eine der Seitenwände hatte Ruben einen Projektor gemalt. Eine lange Filmrolle schlängelte sich über die gesamte Wand. An der gegenüberliegenden Wand prangten die Köpfe bekannter Regisseure. Eva erkannte Alfred Hitchcock, Martin Scorsese, Woody Allen. Im Vorraum, der einmal das Café werden sollte, entstand neben der Tür zum Saal eine Bar. Ein Teil der Holzkonstruktion war schon zu sehen. Daneben stapelten sich weitere Bretter und Werkzeug. Ansonsten war der Raum noch leer bis auf ein ausladendes Sofa mit geschwungenen Armlehnen und grünem Plüschbezug, das an einer Seite stand. An der Wand dahinter ein angefangenes Bild. Große Schauspieler vergangener Zeiten, die an Bistrotischen saßen oder an einer Bar standen. Eva betrachtete die Vorzeichnungen. Einzig Richard Burton und Elizabeth Taylor waren schon in Farbe zu sehen.

    Der Raum war kalt, Eva fröstelte. Sie zog ihren Mantel enger um sich, drehte sich zu Ruben um.

    »Es wird sicher großartig aussehen.«

    Er stand an der unfertigen Bar. Eva fuhr mit der Hand über die Sofalehne.

    »Danke, dass du mich mitgenommen hast. Ich …«

    Sie merkte, dass ihr wieder die Tränen kamen, wischte sich mit dem Ärmel über die Augen.

    »Tut mir leid.«

    Ruben kam zu ihr herüber. Er stand ganz nah, sein Gesicht an ihrem.

    »Eva, Evita, du brauchst dich nicht zu entschuldigen.«

    Seine Hand an ihrer Wange, um sie der stille, fast leere Raum. Das grüne Sofa wie eine Insel, auf der sie für einen Moment die Kälte vergaßen. Sie drängten sich aneinander, wärmten sich, sogen einander auf.

    Auf dem Heimweg sprachen sie nicht viel. Eva brachte Ruben zurück zum Vaihinger Bahnhof, wo sein Fahrrad stand. Er beugte sich zu ihr, küsste sie sanft auf den Mund.

    »Buenas noches, Evita.«

    Dann stieg er aus. Langsam fuhr Eva nach Hause. Sie lächelte. Erst als sie in ihrer Wohnung im Badezimmer stand und sich abschminkte, überfiel sie die Panik. Was hatte sie getan? War ihre Situation nicht schon kompliziert genug? Wie sollte es denn jetzt weitergehen? In zwei Wochen würde Ruben zu seiner Familie fahren. Dann hätte sie Zeit zum Nachdenken. Sie musste den Kopf frei bekommen, sich klar werden, was sie eigentlich wollte. Sollte sie versuchen, Frank zu kontaktieren? In ihrem Schlafzimmer zog Eva die russische Grammatik von Tauscher und Kirschbaum aus dem Regal und begann, das Kapitel über die Verben zu lesen. Sie zwang sich, ihre Aufmerksamkeit ganz auf die Bildung von Zeitformen und Verbaspekten zu richten. Über dem Kapitel zu den Bewegungsverben schlief sie schließlich ein.

    Sechs Wochen waren seitdem vergangen. An diesem Morgen war nicht viel Betrieb im Buchladen. Die Umtauschwelle nach Weihnachten war schon verebbt, viele Kunden waren noch im Winterurlaub. Eva musste lediglich ein paar Bestellungen eintippen, einige Bücher für die Stadtteilbücherei einbinden und im Lager etwas Ordnung machen. Zwischendurch blätterte sie in den Leseexemplaren der Neuerscheinungen, die die Verlage geschickt hatten.

    Als sie um viertel nach zwölf aus dem Laden trat, schneite es. Sie beschloss, eine Station mit der S-Bahn zu fahren und den Rest bis zum Café im alten Waisenhaus zu Fuß zu gehen. Der Wind war im Lauf des Vormittags stärker geworden. Er blies Eva ins Gesicht. Von der Königstraße kommend, blickte sie über den Karlsplatz. Das gelbe Gebäude des Cafés war in dem dichten Flockenwirbel kaum zu erkennen. Die Löwen zu Füßen des Reiterstandbilds in der Mitte des Platzes, weiß vermummt, wie eingefroren. Eva überquerte den Platz, öffnete die Tür zum Café. Dämpfige Wärme schlug ihr entgegen, Musik, Lachen, Tellerklappern. Es war Mittagszeit. Fast alle Tische waren belegt. Sie stand einen Moment in der Tür, die Kälte des Platzes im Rücken, vor sich die geschäftige Gemütlichkeit des Cafés. Ohne dass Eva gesehen hätte, woher er kam, stand Ruben plötzlich neben ihr.

    »¡Hola Eva!«

    Sie sah, dass seine Haare vollkommen trocken waren. Er musste also schon länger hier sein. So weit sie sich erinnerte, hatte sie ihn nie eine Mütze tragen sehen. Lachend nahm er eine ihrer schwarzen Strähnen in seine Hand.

    »Schneit's?«

    Eva versuchte ein Grinsen, aber ihre Mundwinkel fühlten sich an wie eingefroren.

    »Komm.«

    Er hatte einen Tisch am Fenster ergattert, im hinteren Teil des Cafés mit Blick auf den Platz und die Planie. Eva hängte ihren tropfenden Mantel an einen Stuhl und setzte sich auf die lederbezogene Bank. Den Kopf an die Wand gelehnt, schloss sie für einen Moment die Augen.

    »Darf"s schon was zu trinken sein?«

    Eva schaute auf. Aus einem Gewirr von blonden Locken schaute die Bedienung sie auffordernd an. Sollte sie heißen Tee bestellen? Eva zögerte kurz, entschied sich dann sicherheitshalber für Wasser. Ein größeres Problem würde das Essen darstellen. Sie schaute in die Karte und überlegte, was sie wählen konnte. Von den umliegenden Tischen zog ihr das Tagesgericht in die Nase – Pasta mit Gorgonzolasauce. Der Geruch drehte Eva den Magen um. Hoffentlich hielt sie durch. Ruben nahm eine ihrer immer noch kalten Hände in seine.

    »Wie geht es dir? Du siehst ein bisschen blass aus.«

    »Mir ist heute nicht so gut, aber das vergeht schon wieder«

    Sie zuckte mit den Schultern, versuchte zu lächeln. Die Bedienung steuerte wieder auf ihren Tisch zu. Ihre Locken und das Tablett, das sie auf der Hand balancierte, tanzten wie auf kleinen Wellenkämmen zwischen den Tischen hindurch.

    »Ein Wasser, eine Cola. Was darf's zu essen sein?«

    Ruben drückte Evas Hand.

    »Versuch es mit Reis und Huhn. Das ist gut verträglich.«

    Vermutlich hatte er Recht. Sie würde es probieren.

    »Wie war Argentinien?«

    Er lachte, streckte die Beine unter dem Tisch aus.

    «Es war warm! Wir hatten die ganze Zeit schönes Wetter. Und es tat gut, mal wieder zu Hause zu sein. Meine Mutter hat gerade einen großen Auftrag bekommen. Ein russisches Café in der Nähe der orthodoxen Kathedrale von Buenos Aires möchte die Wände mit Stadtansichten von Moskau und Sankt Petersburg bemalt haben.«

    Ruben erzählte Eva, wie er mit seiner Mutter über den Jahreswechsel Bildbände gewälzt und Unmengen von Fotos im Internet gesichtet hatte. Sie hatten gemeinsam das Café angeschaut, Skizzen gezeichnet, Pläne gemacht. In seiner Stimme hörte Eva die Begeisterung. Vermutlich wäre er am liebsten dort geblieben und hätte mitgeholfen, die Wände des Cafés zu bemalen.

    »Lernst du immer noch Russisch?«

    Eva nickte. Es freute sie, dass Ruben sich erinnerte. Sie hatte ihm vor Weihnachten einige der Bücher und Lexika gezeigt, die sie sich besorgt hatte, um in die Geheimnisse der russischen Sprache einzudringen. Im Gegenzug hatte er ihr eine Menge umgangssprachlicher Ausdrücke und ein ganzes Repertoire an ausgefallenen Flüchen beigebracht. Auch wenn sein Zugang zu fremden Sprachen ganz anders war als ihr eigener, fühlte sich Eva doch zum ersten Mal verstanden. Ruben schien etwas zu begreifen von der Ehrfurcht, die sie empfand, wenn sie das erste Mal den Fuß auf unbekannten Boden setzte, wenn sie versuchte, grammatische Strukturen zu durchdringen wie noch nicht erforschte Gebiete eines Dschungels. Auch jetzt hörte er voller Aufmerksamkeit zu, während Eva ihm erzählte, wie weit sie bisher gekommen war.

    Der Geruch von Gorgonzola ließ sie aufschauen.

    »Einmal Reis mit Hühnchen und ein Tagesessen. Guten Appetit.«

    Die Bedienung stellte zwei Teller auf den Tisch. Ruben schaute Eva an und lächelte.

    »Prijatnowo apetita!«

    Eva spießte ein Stück Fleisch auf die Gabel. Inzwischen war ihr angenehm warm. Das Café war etwas leerer geworden, der Hauptansturm zur Mittagszeit war vorüber und für Kaffee und Kuchen war es noch zu früh. Vor dem Fenster sah Eva die Schneeflocken tanzen. Sie kaute ihr Stück Fleisch, probierte ein wenig von dem Reis. Für einen Moment schien alles in Ordnung.

    Die Attacke kam wie ein Faustschlag. Panisch riss Eva sich hoch und rannte zur Toilette. Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig, bevor sie sich übergeben musste. Zitternd kniete sie auf dem Boden der Toilettenkabine, eine Hand an der Seitenwand, Halt suchend. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Sie hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen.

    »Eva?«

    Von draußen hörte sie Rubens Stimme. Langsam zog sie sich hoch, klappte den Toilettendeckel herunter und setzte sich. Das Zittern wich nach und nach einem diffusen Schwindelgefühl. Es war, als müssten die verschiedenen Körperteile erst wieder an ihren gewohnten Platz zurückfinden. Sie legte die Hände auf die Knie, holte Atem.

    «Ist alles in Ordnung?«

    Eva schwieg. Was sollte sie ihm sagen? Dass sie nicht wusste, was mit ihr los war? Sie hatte sich geweigert, darüber nachzudenken. Hatte das Problem beiseite geschoben, es ignoriert, als würde es dadurch von allein verschwinden. Jetzt saß sie hier. In ihr nur Schwindel und Leere. Stille. Vorsichtig stand sie auf, ging zum Waschbecken. Ihr Gesicht im Spiegel sah bleich aus. Sie wusste nicht, wie lange sie auf der Toilette gesessen hatte. Eva drehte den Wasserhahn auf, wusch sich Hände und Gesicht und spülte den galligen Geschmack aus dem Mund. Dann öffnete sie die Tür. Ruben stand im Flur. Er sah Eva an, nahm ihre Hand. Zusammen gingen sie zurück ins Café. Das Essen auf ihren Tellern war kalt geworden. Sie saßen nebeneinander auf der Bank, Eva fühlte sich ausgelaugt und immer noch leicht schwindelig. Sie schaute auf ihre Hände, die sie zwischen die Oberschenkel gepresst hatte, als könnte sie sich damit ein wenig Stabilität verschaffen. Nach einer Weile strich Ruben ihr sanft übers Haar.

    »Bist du schwanger?«

    Eva presste ihre Hände noch fester aneinander. Das konnte nicht sein. Es durfte nicht sein. Nein, sicher war es etwas Anderes. Wie kam Ruben überhaupt auf die Idee, sie so etwas zu fragen?

    »Cristina. Bei ihr war es auch so, jedes Mal.«

    Er sagte es, als hätte Eva ihre Frage laut gestellt. Rubens große Schwester hatte drei Kinder, das wusste sie aus seinen Erzählungen.

    »Das muss gar nichts heißen.«

    Panik stieg in ihr auf. Der Schwindel wurde wieder stärker. Eva spürte, wie sie die Schultern anspannte. Sie schaute zu Ruben, der sich mit beiden Händen durch die dunklen Locken fuhr. Er sah sie nicht an.

    »Von mir?«

    »Ich habe doch noch gar keinen Test gemacht!«

    Die Vehemenz war aus ihrer Stimme gewichen. Sie war auf einmal unsäglich müde. Ihre Schultern schmerzten.

    »Ja.«

    Sie sagte es leise, fast flüsterte sie. Ruben saß einen Moment lang einfach nur da. Dann drehte er sich zu ihr, löste vorsichtig eine Hand aus ihrer Umklammerung und nahm sie in seine.

    »Bist du sicher? Ich meine – was ist denn mit deinem Freund?«

    Eva starrte auf die Tischkante. Langsam verschwamm die Kontur vor ihren Augen. Tränen liefen ihr die Wange hinunter. Sie biss sich auf die Lippen. Wäre sie nur nicht gekommen! Verzweifelt versuchte sie, die Tischkante wieder zu fixieren. Sie konnte Ruben nicht anschauen. Schließlich schüttelte sie den Kopf.

    »Er war nicht da. Immer, wenn wir uns treffen wollten, war er nicht da. Ich hatte so gehofft. Und dann …«

    Ruben ließ ihre Hand los. Er saß neben ihr, reglos. Eva sah, dass er die Augen geschlossen hatte. Schließlich drehte er sich wieder zu ihr.

    »Bueno, nos espera un reto. Wir haben eine Aufgabe. Die müssen wir jetzt gemeinsam meistern.«

    Seine Stimme klang entschlossen. Eva fühlte die Panik wieder aufwallen wie eine Flutwelle, die sie mit sich fortriss, in der sie zu ertrinken drohte. Sie sprang auf, schnappte nach Luft. Dann rannte sie los.

    »Gegrüßet seist Du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit Dir …«

    Auf dem kalten Boden im Seitenraum der Sankt-Josefs-Kirche kniend, betete Eva das Ave-Maria. Wieder und wieder sprach sie die Worte. Ihre Hände umklammerten die kleinen Perlmutt-Perlen des Rosenkranzes. Zu Füßen der Mutter Gottes hatte sie weiße Christrosen in einer schlichten Glasvase drapiert. Es war dunkel. Vorn im Altarraum waren zwei der Deckenstrahler ausgefallen. Nur die Altarkerzen, die der Messner schon für die Abendandacht angezündet hatte, gaben flackernd ein wenig Licht. Das Päckchen mit dem Pfeifentabak für ihren Vater hatte sie auf den Boden gestellt, ihre Handtasche lag auf einem Stuhl. Eva hatte sie bei ihrem überstürzten Aufbruch am Mittag im Café vergessen. Kurz nachdem sie wieder im Laden war, war Ruben hereingekommen. Wortlos stellte er die kleine grüne Tasche auf den Tisch neben der Kasse, drehte sich um und ging. Herr Brückner, ihr Kollege, zog die Brauen hoch und schaute Ruben fragend hinterher. Eva kam sich klein und dumm vor. Wie ein Kind war sie davongelaufen. Was mochte Ruben von ihr denken? Gut, dass er so schnell wieder weg gewesen war. Sie hätte ohnehin nicht gewusst, was sie sagen sollte.

    Auch jetzt fehlten ihr die Worte. Sie kniete vor der Mutter Gottes, suchte Halt in der immer gleichen Formel des Gebets. Eva kam oft abends nach der Arbeit hierher. Auf dem Weg besorgte sie frische Blumen. Dann fuhr sie im Feierabendverkehr die Karl-Kloß-Straße hinauf, bis sie nach rechts ins Wohngebiet abbog. Sie mochte die Josefskirche eigentlich nicht. Ein Betonklotz in typischer Siebziger-Jahre-Manier, der ihr massiv und abweisend vorkam, mit schweren kalt-blauen Stahltüren. Aus Beton war auch der Fußboden, drinnen wie draußen. Das sollte ein Symbol für die Verbindung von Kirche und Welt sein, hatte der Pfarrer ihr einmal erklärt. Eva hatte bei sich gedacht, dass hässliche Dinge nicht schöner wurden, nur weil eine Idee dahinter steckte. Nein, einladend

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