Identitätspolitik: Irrwege und Auswege: Von der zerrütteten Zivilgesellschaft zurück zur Zukunft
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Über dieses E-Book
In der Westlichen Hemisphäre wird der dafür nötige zivilgesellschaftliche Zusammenhalt jedoch bedroht durch eine extrem polarisierende und gesellschaftszersetzende Art von kollektivistischer Klientelpolitik, die landläufig als "Identitätspolitik" bezeichnet wird.
Identitätspolitik bedroht unsere Zukunftsperspektive auf diesem Planeten, indem sie die zivilgesellschaftlichen Errungenschaften der Aufklärung und den Fortbestand der westlichen Demokratien in Frage stellt. Das vorliegende Buch liefert daher eine profunde Analyse und Kritik an der Praxis gegenwärtiger Identitätspolitik.
Mit diesem Buch erfahren Sie, welche Strategien und Taktiken für Identitätspolitik typisch sind und wie Sie darauf argumentativ reagieren können.
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Buchvorschau
Identitätspolitik - Rüdiger H. Rimpler
DIE FRÜCHTE DER REVOLUTION DROHEN ZU VERFAULEN
Als an einem schwülen Sommertag in Paris vor rund 230 Jahren der „Sturm auf die Bastille" losbrach, da nahm die Französische Revolution der Geschichtsschreibung nach ihren Anfang. Seitdem begehen die Menschen in Frankreich jedes Jahr am 14. Juli den französischen Nationalfeiertag, der an dieses kulturgeschichtlich und politisch äußerst wichtige Ereignis erinnern soll.³ So wie viele andere Revolutionen vor ihr und nach ihr war auch die Französische Revolution vor allem ein grausames Gemetzel. Politisch bedeutsam bleibt sie jedoch, weil sie eine wichtige Etappe auf dem Weg zur geschichtlichen Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten darstellt. Leider rangieren diese drei Grundpfeiler unserer Gesellschaft heute im Status eines schützenswerten Kulturgutes.⁴ Die Demokratie in Europa, so wie wir sie heute als selbstverständlich hinnehmen, ist zwar nicht allein, aber doch wesentlich auf den Erfolg dieser Revolution und der sie bedingenden Epoche der Aufklärung zurückzuführen. Wie fühlten sich die Menschen damals bei dieser revolutionären Mobilisierung der Massen im Dienst von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit? Was bewegte sie dazu? Verfolgten sie nur ihre Eigeninteressen, wie z.B. Glück und Zufriedenheit? Oder dachten sie dabei auch an andere, wie z.B. an ihre Mitmenschen oder gar an die Interessen der Mehrheit? War es überhaupt eine bewusste Entscheidung, die diese Menschen zu solch einem riskanten Wagnis der offenen Auflehnung gegen ihre Unterdrücker bewegte? Oder folgten sie, wenngleich instinktiv, einem zwar dunklen, aber dennoch auf das Gemeinwohl ausgerichteten und darum aufklärerischen Willen? Wie kam es dazu, dass dieser Wille sie und das restliche Volk der Franzosen plötzlich ergriff? - So könnten wir in der Tradition von Jean-Jacques Rousseau fragen und uns von dessen spekulativer Demokratietheorie mit dem damit verbundenen Theorem eines volonté générale leiten lassen.
Ja, wir könnten sogar über diesen geschichtlichen Kontext hinausgehen und fragen, ob denn eine solche Mobilisierung der Massen mit uns Wohlstandsmenschen heute überhaupt noch möglich wäre. -Oder ist die gegenwärtige Gesellschaft im Grunde bereits völlig entpolitisiert, wie manche meinen? Liegen wir also lieber bequem auf dem Sofa und glotzen TV oder Netflix, zocken Fortnite, anstatt auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren? Vermutlich darf diese These mit Blick auf Teile der jüngeren Generation und eine Bewegung wie „Fridays for Future" verneint werden.⁵ Und dennoch halten manche an dieser These hartnäckig fest. - Auf all diese Fragen will ich jedoch vorerst verzichten. Sie seien hier zunächst nur so dahingestellt. Vielleicht wird die eine oder andere dieser Fragen aber an späterer Stelle wiederauftauchen.
Worauf ich hier und jetzt vielmehr aufmerksam machen will, das ist ein gegenwärtig sehr ernst zu nehmendes Phänomen, welches gegenwärtig die Früchte von Aufklärung und Französischer Revolution sowie den gesellschaftlichen Frieden und Zusammenhalt unserer Demokratie im Ganzen bedroht: Die Rede ist von Identitätspolitik - und zwar in all ihren vielfältigen Formen und Schattierungen. Identitätspolitik ist der falsche Weg, denn sie spaltet unsere Gesellschaft. Das ist keine bloße These, sondern eine Einsicht, die richtig und wichtig ist. Denn sie ist das Ergebnis einer seit fast 30 Jahren anhaltenden Kritik, die inzwischen allgegenwärtig ist.⁶ Langsam, aber sicher setzt sich diese Einsicht auch in der Öffentlichkeit durch, so z.B. bei Megan Rapinoe, einer US-amerikanischen Spitzensportlerin und bekennenden LGBT-Aktivistin. Ihre jüngste Rede in New York City kann als eine Kehrtwende verstanden werden, mit welcher sie sich von der durch ihr bisheriges Engagement propagierten Identitätspolitik öffentlich abwendet und distanziert.⁷ Selbstkritisch gibt sie zu, dass auch sie Fehler gemacht hat und es so nicht mehr weitergehen kann. Jeder sei in der Pflicht, wieder mehr Mitverantwortung für ein friedvolles Zusammenleben im Kleinen wie im Großen zu übernehmen. Rapinoes enthusiastischer Aufruf an jedes einzelne Mitglied der US-amerikanischen Gesellschaft, sich wieder als Teil einer großen Gemeinschaft zu definieren, leistet eine Art von Empowerment, das paradoxer Weise nicht nur an Jordan B. Petersons 12 Rules for Life
erinnert, sondern diesem implizit sogar Recht gibt.⁸ Peterson wurde von der amerikanischen LGBT-Community unter identitätspolitischen Gesichtspunkten bislang als einer ihrer ärgsten Feinde ausgemacht. - Wie aber konnte es soweit kommen? Zeit also für einen womöglich letzten kritischen Rückblick auf das Phänomen Identitätspolitik
, ehe wir uns von dieser fatalen Strategie der politischen Mobilisierung und Meinungsmache hoffentlich für immer verabschieden werden.
Identitätspolitik - Was ist das eigentlich?
Treten wir also zunächst einen Schritt zurück und fragen, was das denn überhaupt für ein merkwürdiges Phänomen ist, das als Identitätspolitik
bezeichnet wird. Wikipedia gibt dazu folgende Definition: „Der Begriff Identitätspolitik (englisch: identity politics) ist eine Zuschreibung für politisches Handeln, bei dem Bedürfnisse einer jeweils spezifischen Gruppe von Menschen im Mittelpunkt stehen. Angestrebt werden höhere Anerkennung der jeweiligen Gruppe, die Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Position und die Stärkung ihres Einflusses. Um die Mitglieder einer solchen Gruppe zu identifizieren, werden kulturelle, ethnische, soziale oder sexuelle Merkmale verwendet. Menschen, die diese Eigenschaften haben, werden zu der Gruppe gezählt und häufig als homogen betrachtet. Menschen, denen diese Eigenschaften fehlen, werden ausgeschlossen".⁹
Es ist dieser Mechanismus des Ausschlusses von heterogenen Menschen, die nicht zu einer solchen Gruppe passen, aus dem Kreis der Diskursgemeinschaft, welcher Identitätspolitik aktuell zur krassesten Form von sozialpolitischer Engstirnigkeit und rigorosem Egoismus macht. Einst hervorgegangen aus den berechtigten Forderungen und Inhalten der Bürgerrechtsbewegung, hat sich daraus ein Politikstil entwickelt und verselbstständigt, dessen Strategie ein striktes Freund-Feind-Denken ist: Die eigene Wahrheit wird absolut gesetzt, andere Meinungen daneben werden nicht gelten gelassen.
Andere Menschen, die nicht unmittelbar zur selben identitätspolitisch überformten Gruppe gehören, werden also ausgeschlossen: Es wird ihnen aufgrund mangelnder Betroffenheit das Recht abgesprochen, mitreden zu dürfen, wenn es um die als Wahrheit titulierten Meinungen und gruppenspezifischen Forderungen geht. Frei nach dem Motto: Du musst es selbst am eigenen Leib erfahren haben, um mitreden zu können. Externe Kritik wird so von Anfang an abgewürgt und systematisch unterbunden. Wer darüber hinaus nicht auf Linie mit den gruppenspezifischen Meinungen und Forderungen der identitätspolitisch überformten Gruppe ist, der fällt schnell in Ungnade und wird rigoros ausgeschlossen. So berichtet z.B. die Chefredakteurin des 'Philosophie Magazins', Svenja Flaßpöhler, in einem Interview mit Harald Welzer unlängst vom kruden Umgang 'linksliberaler' Feministinnen mit ihrer Person, nachdem sie es gewagt hatte, sich kritisch zur #Me-Too-Debatte zu äußern.¹⁰
Die von manchen Akteurinnen und Akteuren in der Debatte zur Schau gestellte Progressivität verkehrt sich so in regressive Repressivität, d.h. sie mündet ein in Formen von diskursiver Gewalt, die jenseits von „hate speech, also jenseits von strafbewährter Hetze und Beleidigung, auf eine Unterdrückung der Meinungsfreiheit hinauslaufen. Die Motivation für eine solche Unterdrückung von freien Meinungsäußerungen als auch für das bewusste Vorenthalten von sachrelevanten Informationen vor der Öffentlichkeit entspringt dabei im großen wie im kleinen Maßstab einer fanatischen Grundhaltung, die in der eigenen Meinung keine bloße Meinung, sondern die felsenfeste Wahrheit am Werke sieht, welche es mit pseudopädagogischen Mitteln im Stile einer Volkserziehung auch gegen den Willen der Mehrheitsgesellschaft durchzusetzen gilt.¹¹ Dabei ist oft die Überzeugung handlungsleitend, dass die subjektiv für richtig befundene Meinung tatsächlich dem Gemeinwohl aller entspräche. Aus dem politischen Prozess einer pluralen Meinungsbildung und Konsensfindung, wie er für Demokratinnen und Demokraten typisch ist, wird so ein demagogisch geprägtes Handeln, das die einzelnen Bürger und ihre Meinung nicht mehr als mündig anerkennt, sondern aus der hierarchischen Perspektive einer sich auf „Wahrheit und wissenschaftliche Erkenntnis
berufenden Moral jene Bürgerinnen und Bürger zu dirigieren versucht und mit pseudopädagogischen Mitteln umerziehen will. In diesem Versuch kommt ein fast schon religiöser Eifer zum Ausdruck, mit dem die Öffentlichkeit missioniert werden soll: Öffentliche Meinungsäußerungen werden dabei als eine Gefahr für die ad-hoc Realisierung der selbst gesteckten Zielen angesehen. Nicht selten liegen diese Ziele, wie z.B. eine völlig grenzenlose Welt ohne Religion und ohne Kriege, jedoch in utopischer Ferne.¹² Angesichts der Fragilität dieser hochgesteckten Ziele, die eher an Ideale als an realistische Herausforderungen erinnern, wird daher unter anderem sogar im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und in vielen anderen einflussreichen Medien versucht, durch subtile Mittel der Meinungsmanipulation wie z.B. dem sogenannten „Framing", sowohl Sprache als auch Sprecher gezielt auf eine nicht nur subversive, sondern besonders perfide Weise zu manipulieren. Der Skandal um das geleakte ARD-Framing-Manual kann dafür als Lehrstück herangezogen werden.¹³
Dieser erste Exkurs zu den erwiesenen Versuchen der gezielten Meinungsunterdrückung, Meinungslenkung und des Vorenthaltens von Informationen unter anderem durch einen gebührenfinanzierten Rundfunk brachte uns leider ein wenig vom Weg ab. Bezüglich der mangelnden Fähigkeit zur Selbstkritik vieler identitätspolitisch überformter Gruppierungen, Medienmacher und Politiker ist jedenfalls festzuhalten:
• Was wahr ist, hat meist zwei Seiten, anstatt nur eine einzige.
• Alles auf der Welt ist vielfältig vermittelt und hängt voneinander ab.¹⁴
Dort, wo diese Einsicht verleugnet wird, herrschen Engstirnigkeit und rigoroser Egoismus derer, die sich in Alleinbesitz der für sie einzigen und alleingültigen Wahrheit wähnen, hypersensibel auf eigene Befindlichkeiten fokussiert sind und auf die Zwiefältigkeit dieser Welt nicht mehr anders als mit stumpfer Ablehnung zu reagieren bereit sind.
Svenja Flaßpöhler und viele andere machen in diesem Zusammenhang deutlich, dass solche identitätspolitisch geprägten Exklusionsmechanismen auf ein extremes Reinheitsdenken hinweisen, welches solche Gruppierungen beseelt und sowohl zu einseitigen Moralisierungen als auch Doppelmoral führt.¹⁵ Dieses Reinheitsdenken wird auch von Sandra Kostner mit dem Begriff einer „Identitätslinke[n] Läuterungsagenda thematisiert und kritisiert, wie wir später sehen werden.¹⁶ Ich will es vorläufig schlicht als
moralischen Puritanismus" bezeichnen. Doch egal, wie man dieses Phänomen auch nennen mag, es ist Antrieb und Motor für ein extremes Freund-Feind-Denken, das für alle Ausformungen von Identitätspolitik typisch ist: Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns. Und wer nicht in etwa das Gleiche erlebt hat oder zu erleben fähig ist, der kann maximal unsere Forderungen nach außen hin unterstützen, hat aber kein Recht, darüber mitzudiskutieren. An diesem Punkt droht Identitätspolitik tendenziell abzudriften in krudeste Formen von Fundamentalismus und Fanatismus, wenn nicht gar Faschismus. Darum gilt es erneut festzuhalten: Identitätspolitik ist der falsche Weg, denn sie spaltet unsere Gesellschaft. Die einen macht sie zu vermeintlich unterprivilegierten Opfern, die anderen zu privilegierten Tätern. Aus den Opfern werden Täter und aus den Tätern Opfer. Wie im Krieg aber ist das allererste Opfer die Wahrheit.
Wahrheit ist vielfältig, aber nicht beliebig
Wahrheit ist vielfältig und sie ist vermittelt, denn wo Licht ist, da ist meist auch Schatten und umgekehrt. Und dennoch ist sie nicht beliebig, wie viele heute meinen.¹⁷
Zusehends weniger Menschen sind jedoch dazu bereit, diese ebenso kognitive wie emotionale Zumutung anzunehmen und die damit verbundene Zwiespältigkeit noch länger zu ertragen bzw. zu tolerieren. Sie wollen ein moralisch einwandfreies und sauberes Leben. Und zwar jetzt! Dieses Ideal einer moralisch einwandfreien Welt wollen viele Menschen nicht länger mehr nur im Sinne eines anzustrebenden Ideals verfolgen, sondern sie sehen darin ein realistisch zu erreichendes Ziel, das für sie einen möglichst noch zu ihren Lebzeiten zu realisierenden IST-Zustand darstellt. Diese euphorische Einstellung setzt auf Seiten der Akteure und Aktivisten, den „Weltverbesserern und Spielentscheidern¹⁸ nicht nur produktive Kräfte frei, sondern sie kann auch für eine gehörige Portion Frust sorgen, die leicht in Aggression und Destruktion umschlägt, sobald für alle Beteiligten erkennbar wird, dass das Ziel trotz aller Euphorie doch nicht erreichbar ist. Frei nach dem Motto „Mach kaputt, was dich kaputt macht!
wird so bereits im Vorfeld von mehr oder minder „friedlichen Reformen auch auf einen echten Schnitt mit den überkommenen Verhältnissen gedrängt - auf eine so viel beschworene „Disruption
. Es wird sozusagen eine Doppelstrategie verfolgt. Aber ist der Faden darum schon gerissen?¹⁹
Dass der Traum von einer moralisch geläuterten Totalität eben nur ein Traum ist und daher zwar als ein erstrebenswertes Idealbild gelten mag, nicht aber als Leitbild für eine sozialverträglich ausgelegte Gesellschaftspolitik dienen kann, galt lange Zeit als selbstverständliche Erkenntnis. Doch was einst wahr war, wird jetzt einem moralischen Puritanismus geopfert. Es herrscht der rigorose Wille, die Welt zu verändern, zu verbessern, auf Biegen und Brechen. Im Zeitalter einer herbei fabulierten Singularität von Künstlicher Intelligenz und disruptiven Sprüngen scheint für so manche Politiker und identitätspolitische Lobbyisten plötzlich fast alles möglich, planmäßig und technisch umsetzbar zu sein. Hitler, Stalin und Mao hatten das auch schon einmal versucht, die Welt nach ihren Vorstellungen und Visionen rigoros zu verändern. Heraus kam dabei ein technokratisch angeleiteter und zutiefst menschenverachtender Totalitarismus.²⁰
Wer aber will schon als eine beliebig austauschbare oder zumindest jederzeit ersetzbare Komponente eines kollektiven Ganzen betrachtet und behandelt werden? Weder wollen wir uns als Teil einer auszubeutenden Human-ressource noch als Teil eines anonymen Volkskörpers fühlen müssen.²¹ Die meisten Menschen möchten ihre individuelle Würde und Freiheit beibehalten dürfen und wünschen sich, dass diese von der Gesellschaft auch dann anerkannt und geachtet wird, wenn sie sich mal eben nicht als Teil eines funktionalistisch definierten Kollektivs wie z.B. als Arbeitnehmer oder Staatsbürger betrachten und die damit verbundenen Verhaltensmuster rollenkonform erfüllen.²² Gerade darum aber ist es falsch, auf den hehren Zielen einer hochgesteckten Privatmoral beharren zu wollen, nach deren visionären Wünschen die Totalität von Staat und Gesellschaft zentralistisch zu gestalten sei. Denn jenseits aller Probleme, die eine fanatisch geprägte Grundhaltung, sei es aus religiöser, sei es aus politischer Überzeugung, mit sich bringt, führt eine derart moralisierende Weltanschauung zwangsläufig zu einer verzerrten Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die Gesellschaft und ihre moralischen Konventionen werden sodann als eine prinzipielle Bedrohung der eigenen Identität, der freien Selbstentfaltung, Expressivität und Authentizität wahrgenommen. Identitätspolitik tut genau das, indem sie diesen ideologischen Irrglauben an eine angeblich von der Mehrheitsgesellschaft und ihren Normen sowie Werten ausgehende Bedrohung für die eigene Identität propagiert und auf identitätspolitisch überformte Kollektive projiziert. Das gilt den Verfechtern von Identitätspolitik dann oftmals sogar als „progressiv".
Ideengeschichtlich betrachtet hatte der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau diese Ansicht einst